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Inzwischen war auch im Norden [* 2] eine tiefe Mißstimmung gegen die Regierung laut geworden. Der anfänglich große Ertrag des vom Generalgouverneur van den Bosch (s. d.) auf Java eingeführten Kultursystems konnte der Zerrüttung der Finanzen keinen Einhalt thun. Bei der durch die Trennung von Belgien [* 3] nötig gewordenen Veränderung des Grundgesetzes (1840) wurde die Verfassung einigermaßen in liberalem Geiste revidiert, z. B. durch Einführung der ministeriellen Verantwortlichkeit.
Große Aufregung erregte auch die Heirat des Königs mit der belg. und kath. Gräfin Henriette d’Oultremont. Zuletzt sah sich der König veranlaßt, die Regierung in die Hände seines Sohnes, Wilhelm Ⅱ., niederzulegen. Bereits 1841 waren Verhandlungen mit den Zollvereinsstaaten angeknüpft worden, die den Handelsvertrag von 1842 herbeiführten. Differenzen mit Belgien wurden durch einen Vertrag vom beseitigt, dem 1843 ein fünfjähriger Handels-, Schiffahrts- und Territorialvertrag folgte.
Die traurige Finanzlage nötigte endlich die Regierung, den Kammern einen Gesetzentwurf zu einer außerordentlichen Vermögenssteuer oder zu einer Zwangsanleihe von 127 Mill. Fl. vorzulegen, der im März 1844 angenommen wurde. Seitdem aber wuchs der Einfluß der Partei im Lande, die eine eingreifende Veränderung des Grundgesetzes nach liberalen Grundsätzen forderte. Ihr hervorragender Führer war der Leidener [* 4] Professor Johann Rudolf Thorbecke. Mit acht andern (die sog. Neunmänner) arbeitete er eine Verfassungsrevision aus, die aber verworfen wurde.
Später (1847) brachte die Regierung selbst Reformvorschläge vor die Kammern, die aber höchst ungenügend erschienen. Auf die Nachricht von den nach der Februarrevolution 1848 in Deutschland [* 5] um sich greifenden Volksbewegungen entschloß sich der König zu weiterer Nachgiebigkeit. Es wurde eine Kommission von fünf Männern, worunter Thorbecke, eingesetzt zur Ausarbeitung eines neuen Grundgesetzes, das 3. Nov. verkündigt wurde. Der Adel hörte dabei auf, ein selbständiges Mitglied der Provinzialstaaten zu sein. Diese und die Zweite Kammer der Generalstaaten sollte aus direkten Wahlen hervorgehen, die Erste Kammer durch die Provinzialstaaten aus den Höchstbesteuerten gewählt werden.
Wilhelm Ⅱ. starb Sein Nachfolger, Wilhelm Ⅲ., sah sich infolge der von seiten der konstitutionellen Liberalen ausgehenden Opposition bald genötigt, das Ministerium seines Vaters zu entlassen. Nach einer langen Krisis trat endlich ein von Thorbecke gebildetes Kabinett zusammen. Dasselbe ließ während seines fast vierjährigen Wirkens nicht nur die wichtigsten organischen Gesetze (z.B. über Provinzial- und Gemeindeordnung) von den Kammern genehmigen, sondern verbesserte auch durch zweckmäßige Finanzgesetze (Rentenumwandlung, Postreform, Reduktion der regelmäßigen Staatsausgaben, vor allem aber durch Aufhebung der für nachteilig erkannten Vorrechte der niederländ. Schiffahrt) die materielle Lage des Landes. Dabei wurden im Innern Kanalisationen, besonders in Oberyssel und Drenthe, angelegt, Eisenbahn- und Telegraphenverbindungen in Angriff genommen und die Austrocknung des Haarlemer Meers zu Ende geführt.
Eine päpstl. Allokution vom die durch das neue Grundgesetz ermöglichte Wiederherstellung von Bischofssitzen in Holland betreffend, rief eine heftige antikath. Agitation im Lande hervor. Die Erklärung der Regierung, daß sie an und für sich der Errichtung von Bischofssitzen verfassungsmäßig nicht entgegentreten könne, erregte die öffentliche Meinung ungemein. Der König entließ daher das Ministerium und berief an dessen Stelle ein konservatives.
Die Zweite Kammer wurde aufgelöst und die neue Wahl ergab eine Majorität im Sinne der Regierung. Um die Protestanten zu beruhigen, brachte man ein Gesetz über die Kirchengemeinden ein, das von den Kammern genehmigt wurde. Der Staat erhielt hiernach im Princip die Aufsicht über den Kultus aller Kirchengemeinden. Bis 1862 wechselten die Minister unaufhörlich. 1855 wurde die Abschaffung der Mahlsteuer von den Kammern mit großer Majorität angenommen. 1857 genehmigten die Generalstaaten einen Gesetzentwurf bezüglich des Primärunterrichts; es sollten überall von den Gemeinden öffentliche, in Glaubenssachen neutrale, für alle Bekenntnisse zugängliche Primärschulen unterhalten werden.
Noch wurde 1861 ein Gesetz zur Ausführung eines Staatseisenbahnsystems angenommen. Im Jan. 1862 ward Thorbecke wieder mit der Bildung eines Ministeriums beauftragt. Unter ihm wurde die Accise gänzlich abgeschafft und kam ein Gesetz über den mittlern Unterricht zu stande das eine bedeutende Neuschöpfung bezweckte, da vorher in den Niederlande [* 6] fast keine mittlern Schulen vorhanden waren. Zuletzt aber verursachte die Kolonialpolitik eine Spaltung im Ministerium selber.
Allmählich hatte bei den Liberalen die Überzeugung Eingang gefunden, daß das sog. Kultursystem von van den Bosch (s. Java) sowohl drückend für die Javaner wie hemmend für eine richtige Entfaltung der unermeßlichen Reichtümer des Landes wirkte. Der Kolonialminister Fransen van de Putte brachte nun ein sog. Kulturgesetz ein, welches Thorbecke zu eingreifend schien, weshalb er zurücktrat. Darauf bildete van de Putte mit Geertsema ein neues Ministerium (April 1866), das aber, als die Kammer das Kulturgesetz verworfen hatte, ebenfalls zurücktreten mußte. Auf dieses folgte ein konservatives Kabinett unter van Zuylen und Heemskerk, das bald nach der Eröffnung der Kammern mit der liberalen Majorität in Konflikt kam, so daß die Auflösung der Kammern folgte
Zu Anfang 1867 ließ sich das Kabinett verleiten, sich in die das Königreich keineswegs berührende Luxemburgische Frage zu mischen. Schon hatte Frankreich seinen Gesandten im Haag [* 7] beauftragt, nicht nur gemeinsam mit dem König-Großherzog die Räumung der Festung [* 8] Luxemburg seitens Preußens [* 9] zu betreiben, sondern direkt die Abtretung des Landes an Frankreich anzuregen, und im März einigten sich in der That der König-Großherzog und Napoleon Ⅲ. über den Verkauf Luxemburgs an Frankreich. Darauf folgte 1. April eine Interpellation Bennigsens im Norddeutschen Reichstage und Bismarcks Antwort, daß Preußen [* 10] diese Abtretung nicht dulden könne. Auf einer im Mai nach London [* 11] berufenen Konferenz wurde die Sache dahin beigelegt, daß Luxemburg bei den Niederlande verblieb, Preußen sein Besatzungsrecht aufgab und die Festung geschleift wurde.
Das Budget der auswärtigen Angelegenheiten wurde in der nächsten Session verworfen, worauf die Kammer zum zweitenmal aufgelöst wurde. Die Neuwahlen ergaben abermals eine kleine ¶
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liberale Majorität. Nachdem 28. April das Budget van Zuylens abermals verworfen war, reichten die Minister ihre Entlassung ein, die der König annahm; nun wurde Thorbecke 23. Mai mit der Bildung eines Kabinetts beauftragt. Dieses kam 2. Juni zu stande. Einen wichtigen parlamentarischen Sieg erfocht das Ministerium mit der von ihm durchgesetzten Abschaffung der Todesstrafe. 1870 wurde ein Gesetz des Kolonialministers de Wael angenommen, wonach Niederländer und alle in Indien Ansässigen anderer Nationalität die unbebauten sog. wüsten Gründe, die als Staatsdomänen gelten, auf 75 Jahre in Erbpacht erwerben können.
Ein anderes, ebenfalls angenommenes Gesetz betraf die Regierungszuckerkultur; diese sollte allmählich eingeschränkt werden und nach 20 Jahren vollständig aufhören. Von dem Kultursystem blieb demnach nur die Kaffeekultur übrig. Im Jan. 1871 bildete Thorbecke zum drittenmal ein Kabinett. Dies mußte aber bereits im Mai 1872 zurücktreten, nachdem es bei der Verhandlung eines Gesetzentwurfs zur Einführung einer Einkommensteuer eine Niederlage erlitten hatte. Noch während der darauf folgenden Ministerkrisis starb Thorbecke 4. Juni.
Bei dem plötzlichen Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges von 1870 und 1871 erklärte sich die niederländ. Regierung bereits 15. Juli für neutral. Im Dez. 1871 kam die Abtretung der holländ. Besitzungen an der Westküste von Afrika [* 13] (Guinea) an England zu stande. 1873 begann ein Krieg mit dem Reiche Atschin auf Nordsumatra, der bedeutende Opfer an Mannschaft und Geld erforderte (s. Atschin). Im April 1876 gelang es dem gemäßigt konservativen Ministerium Heemskerk, ein Gesetz über den höhern Unterricht durchzubringen.
Das liberale Kabinett Kappeyne van de Coppello, das nach Heemskerk auftrat, brachte 1878 eine Revision des Schulgesetzes von 1857 zu stande, das den Unterricht und die Lage der Lehrer zu verbessern bezweckte. Der Justizminister Modderman erwarb sich 1881 (im Ministerium van Lynden, das keinen scharf ausgeprägten polit. Charakter hatte) großes Verdienst durch die Vorlage eines neuen Strafgesetzbuchs, das von den Generalstaaten auch genehmigt wurde.
Unterdessen hatte sich die Stellung der Parteien bedeutend geändert. Die Antirevolutionären (d. h. streng reformierten) wuchsen besonders durch ihre Opposition gegen die konfessionslose Schule; sie errichteten aus privaten Mitteln sog. «Schulen mit der Bibel» [* 14] und beklagten sich, daß sie die «gottesdienstlosen Schulen» ihrer Gegner, die aus öffentlichen Kassen unterhalten wurden, mit zu bezahlen hatten. Die Katholiken, Thorbeckes ehemalige Bundesgenossen, hatten sich, besonders seitdem die päpstl.
Encyklika von 1864 den Liberalismus verurteilt hatte, von den Liberalen losgesagt. Sie konstituierten sich, unter Schaepmans Führung, mehr und mehr als polit. Partei und traten mit den Antirevolutionären in die engste Verbindung. Am starb der Kronprinz Alexander, der letzte männliche Sprosse des Hauses Oranien. Infolgedessen genehmigte die Kammer 28. Nov. die Aufhebung des Art. 198 des Grundgesetzes, welcher die Möglichkeit irgend einer Abänderung dieses Gesetzes während der Zeit einer Regentschaft ausschließt.
Seit April 1883 war ein Ministerium von gemäßigt liberaler Richtung unter Heemskerk (zum drittenmal Minister) am Ruder, das besonders die auch von den Liberalen gewünschte Verfassungsrevision vorzunehmen hatte. Die darauf bezüglichen Gesetzentwürfe wurden der Kammer überreicht. Die Beratung begann mit dem auf den Unterricht bezüglichen Abschnitte des Grundgesetzes. Als darüber keine Einigkeit erreicht werden konnte, wurde die Zweite Kammer aufgelöst und Neuwahlen auf 22. Juni ausgeschrieben.
Diese hatten das Ergebnis, daß 47 Liberale und 39 Ultramontane und Antirevolutionäre gewählt wurden. Im Juli 1886 entstand in Amsterdam [* 15] große Unzufriedenheit unter dem niedern Volk, weil die Polizei das barbarische Volksvergnügen des Aalziehens verboten hatte. Diese Stimmung benutzten die Socialisten, um die Menge gegen die Behörden aufzureizen. Am 25. und 26. Juli kam es zu blutigen Konflikten; die Bewegung wurde militärisch unterdrückt. Aber auch in den Niederlande wurde die Notwendigkeit einer Arbeitergesetzgebung anerkannt, und wurde von der Zweiten Kammer eine aus Mitgliedern aller Parteien bestehende parlamentarische Untersuchungskommission eingesetzt. Die großen Übelstände, die durch sie zu Tage kamen, riefen eine allgemeine Entrüstung hervor. Zu gleicher Zeit wurden endlich auch die Beratungen über die Verfassungsrevision zu Ende geführt, und wurde das neue Grundgesetz öffentlich verkündigt. ^[]]
Die ersten darauf folgenden Wahlen (März 1888) brachten den verbündeten Ultramontanen und Antirevolutionären die Mehrheit in der Zweiten Kammer (54 gegen 45 Liberale); auch wurde zum erstenmal ein Socialdemokrat gewählt, Domela Nieuwenhuis. Die von den Provinzialstaaten gewählte Erste Kammer blieb nach wie vor, auch nach den Ersatzwahlen vom Mai 1889, überwiegend liberal. Das Kabinett Heemskerk trat der neuen Zweiten Kammer gegenüber zurück, und Mackay bildete April 1888 ein neues Ministerium hauptsächlich aus gemäßigtern Männern der kath. und antirevolutionären Partei.
Bald wurde von dem neuen Kabinett eine Kommission aus Männern aller Parteien ernannt, welche über eine neue Heeresverfassung beraten sollte. Diese entschied sich im Sinne der allgemeinen Wehrpflicht. Auch wurde infolge der vorjährigen parlamentarischen Untersuchung ein Gesetzentwurf gegen übermäßige und gefährliche Arbeit von Frauen und jugendlichen Personen angenommen. 1889 mußte wegen einer gefährlichen Erkrankung des Königs der Staatsrat die Ausführung der königl. Gewalt übernehmen (4. April bis 2. Mai). Die Hauptaufgabe des Kabinetts war die Abstellung der Beschwerden, die von der eigenen Partei so lange in betreff des öffentlichen Unterrichts erhoben worden waren. Ein Gesetzentwurf wurde eingebracht, wonach auch konfessionelle Privatschulen Staatssubsidien erhalten könnten. Mit Hilfe von 17 Liberalen wurde dieser Entwurf von der Zweiten und mit einer bedeutenden Majorität von der Ersten Kammer genehmigt
Am starb König Wilhelm Ⅲ.; in den Niederlande folgte ihm seine Tochter Wilhelmina unter Vormundschaft ihrer Mutter, der Königin Emma (s. d.), in Luxemburg, wo die weibliche Erbfolge nicht gestattet ist, Herzog Adolf von Nassau. Inzwischen wurde vom Kriegsminister Bergansius ein Gesetzentwurf zu einer ganz neuen Heeresverfassung mit völliger Abschaffung des Stellvertretungssystems und Vermehrung der Armee bis auf 116000 Mann eingebracht. In der Kammer war die große ¶