Niederlahnstein - Niederlande (Oberflächengestaltung u. s. w.)
mehr
denen neben der Wiederausfuhr in das Ausland auch der Absatz im Zollgebiet gestattet ist. In ein gemischtes Transitlager darf
auch zollfreies Getreide gebracht werden, ohne daß es seine Eigenschaft als zollfreie Ware verliert, und es behält seinen
Charakter auch, wenn es in dem Lager mit dem ausländischen gemischt wird. – Über Niederlagen in Frankreich s.
Entrepôt.
Stadt im Kreis St. Goarshausen des preuß. Reg.-Bez. Wiesbaden, an der Mündung der Lahn in den Rhein,
gegenüber von Oberlahnstein, an den Linien Frankfurt a. M.-Köln und Koblenz-Gießen der Preuß. Staatsbahnen, Sitz eines
Amtsgerichts (Landgericht Wiesbaden), hatte 1890: 3114 E., darunter 362 Evangelische, 1895: 3418 E., Postamt
zweiter Klasse, Telegraph, Fernsprecheinrichtung, 2 kath. Kirchen, darunter die Johanniskirche (9. Jahrh.) am Rhein, Wasserleitung,
Gasbeleuchtung, Krankenhaus; Kornglas-, Papier-, Drahtgewebe- und Chamottefabrikation, Handelsmühle, Schiffahrt und Obsthandel.
Nahebei die Wallfahrtskapelle zum Allerheiligenberg und das Eisenhüttenwerk Hohenrheiner Eisenhütte.
[* ] Nederland, Königreich der Niederlande, liegt zwischen 50° 45’ und 53°
30’ nördl. Br. und 3° 20’ bis 7° 10’ östl. L. von Greenwich und hat ohne die Meeresteile 32538 qkm.
(Hierzu eine Karte: Niederlande.)
Oberflächengestaltung. Fast das ganze Land ist Tiefland und Fortsetzung der großen deutschen Ebene. Der größte Meerbusen
an der Nordsee ist der Zuidersee (s. d.), nächst diesem
der Dollart (s. d.) und der Lauwerzee an der Nordküste. Die Hauptflüsse des
Landes sind der Rhein, die Maas und die Schelde. Außerdem ist das Land von zahlreichen Nebenflüssen durchschnitten,
in welche die anliegenden, eingedämmten, durch Entwässerung urbar gemachten Ländereien, die sog.
Polder (s. d.), das zuströmende Wasser durch Abzugsgräben und Schöpfräder
ableiten.
Von den Landseen war das Haarlemer Meer (s. d.) der größte, ist aber 1848‒53 trocken gelegt worden.
Wegen seiner niedrigen Lage ist der größte Teil des Landes unaufhörlich der Gefahr der Überschwemmung ausgesetzt, welche
durch jede gewaltige Meeresflut, am meisten aber durch Eisversperrungen in den Flüssen am Ende der Winterzeit
hervorgerufen wird. Daher die zahlreichen schrecklichen Verheerungen durch das Wasser, welche in der niederländ.
Geschichte verzeichnet sind.
Daher aber auch die zahlreichen trefflichen Deiche und Wasserbauwerke, durch welche die niederländ.
Ingenieure weltberühmt sind und zufolge deren bedeutende Überschwemmungen denn auch selten geworden sind. (S. die Deichkarte,
Bd. 4, S. 881.) Gegen das Meer ist das Land durch die Dünen, eine Reihe natürlicher Sandhügel (welche
von Nordfrankreich bis Kap Skagen in Dänemark sich erstreckt), und, wo diese unterbrochen ist, durch kostspielige Deiche geschützt.
Das südl. Niederland ist eine Fortsetzung der großen sandigen Heide, die sich von der Ostsee durch Brandenburg, Lüneburg
und Westfalen bis an die Schelde erstreckt, nur durch die fruchtbare Betuwe, das zwischen der Waal und dem eigentlichen Rhein
gelegene Land der alten Bataver, unterbrochen wird und sich dann über Nordbrabant ausdehnt. Südwärts erstreckt sich das
aus Heide, Sand und Morast bestehende Peel- oder Kempenland bis tief in das ehemalige Bistum Lüttich.
Das Klima ist in den höher liegenden südöstl. Gegenden sowie auch
in Geldern, Utrecht, Oberyssel und Drenthe gesund, während
in Seeland, Holland und Friesland die Unbeständigkeit der Witterung und die stehenden Gewässer Fieberkrankheiten verursachen.
Den meisten Landbau haben Seeland und Groningen; schöne Wiesen und Viehweiden giebt es besonders in Holland
und Friesland. Die wilde Flora ist fast ganz die des nordwestl. Deutschlands, aber durch intensive Kultur sehr zurückgedrängt.
Bevölkerung. Die Niederlande haben (1892) 4609576 (2309547 männl., 2360029 weibl.)
E., d. i. 141 E. auf 1 qkm, darunter 2728125 Protestanten, 1596482 Katholiken und 97324 Israeliten. Die ländliche Bevölkerung
beträgt 32,2, die städtische (in den 21 Orten mit mehr als 20000 E., namentlich in Holland) 67,8 Proz. Am dichtesten besiedelt
sind die beiden Holland, dann Utrecht, Groningen, Limburg; am schwächsten Drenthe. Die Bewohner sind german. Stammes: Franken,
Sachsen und Friesen.
Eine Berufszählung fehlt. Im Ausland geboren waren (1890) 47888 Personen, darunter 28767 in Deutschland
und 13697 in Belgien. Der Überschuß der Geburten betrug (1894) 66752; Inländer wanderten aus 1146 (nur nach Nordamerika),
im ganzen aber aus holländ. Häfen 15138. Die prot. Bevölkerung gehört zum allergrößten Teile der reform. Kirche an; Lutheraner,
Arminianer, Mennoniten, Herrnhuter und andere kleine Religionsparteien zählen zusammen an 533000 Seelen.
Die Angelegenheiten der Reformierten erhalten durch die Allgemeine Synode, unter welcher 10 Provinzial-Kirchenregierungen und 1347 Kirchspiele
stehen, ihre oberste Leitung. Die Katholiken, die in Brabant und Limburg vorwiegen und selbst noch in Nordholland, Geldern,
Südholland und Oberyssel ansehnliche Teile der Bevölkerung bilden, machen eine einzige «kirchliche Provinz»
aus, die seit 1853 in fünf Diöcesen zerfällt: das Erzbistum Utrecht und die Bistümer Haarlem, Herzogenbusch, Breda und Roermond.
Außerdem haben noch die Altkatholiken (Jansenisten, s. d.) ein eigenes Kirchenwesen,
dem ein Erzbischof zu Utrecht und zwei Bischöfe zu Haarlem und Deventer vorstehen, obgleich die Zahl derselben in 26 Gemeinden
nur 7687 beträgt. Die Israeliten haben im ganzen 178 Gotteshäuser.
Kolonien. Die Niederlande sind als Besitzerin der ostind. Inselwelt eine der wichtigsten Kolonialmächte der Erde,
doch ist das Mutterland nicht im stande, seinen Besitz auch wirtschaftlich zu beherrschen. Die ostind. Besitzungen (Näheres
s. Niederländisch-Ostindien) bedecken 1,873 Mill. qkm mit rund 36 Mill. E. Westindien besteht aus dem
Gouvernement Curaçao mit Aruba, Bonaire, St. Martin, Saba und St. Eustatius und aus Niederländisch-Guayana (s. Guayana), d.
i. das Gouvernement Surinam mit insgesamt 130230 qkm und 120000 E.
Landwirtschaft und Fischerei. In einem nach Flächeninhalt so beschränkten und doch stark bevölkerten Küstenlande,
das seine Hauptrichtung auf den Seehandel genommen hat, kann die Landeskultur nicht bedeutend sein, dennoch
hat sie große Anerkennung erworben. Die Landschaft von Haarlem nach Amsterdam und von Amsterdam nach Utrecht gleicht einem unermeßlichen
Garten. Die schönsten Teile von Nordholland waren bis zum Anfang des 17. Jahrh. Seen, sind aber in
fruchtbares Land verwandelt worden. Noch sind weite Flächen, die als Ried, Moor u. s. w. daliegen (etwa 21 Proz. der Bodenoberfläche),
der Landwirtschaft
mehr
bisher nicht nutzbar geworden, namentlich in Drenthe und der Veluwe. Es giebt 582485 Grundbesitzer mit einem Gesamtbesitz
von 3299992 ha, darunter aber 412267 mit Grundstücken, wofür die Grundsteuer weniger als 25 Fl. beträgt. Von den übrigen
bezahlen 6882: 1000‒5000 Fl., nur 407 über 5000 Fl. 1891 hatten 96288 Besitzer ihren Boden in eigenem
Betrieb, darunter 83405 mit Grundstücken kleiner, 12883 mit Grundstücken größer als 20 ha, dagegen gab es 70145 Pächter, 57594 mit
Grundstücken kleiner, 12551 mit Grundstücken größer als 25 ha. Besitzer, welche über 100 ha in Betrieb hatten, gab es
126, Pächter 80. Es werden zwar alle Getreidearten, doch nicht in hinreichender Menge gewonnen.
Diese nahmen 1893 eine Fläche von 441051 ha ein, während für die Kultur von Kartoffeln 151970, von Buchweizen 38099, Bohnen
38914, Erbsen 24161, Ölfrüchten 7354, Flachs 13529, Runkelrüben 28379, Tabak 617 und Krapp 792 ha in Anspruch genommen wurden.
Auch die sehr wichtige Blumenzwiebelkultur erstreckt sich besonders südlich von Haarlem über eine bedeutende
Fläche. Die fruchtbarsten Gegenden des Landes aber, die Marschen, eignen sich mehr zur Viehzucht als zum Feldbau; 34,5 Proz.
des Landes werden durch Wiesen eingenommen, 26,2 Proz. sind Ackerland.
Die Viehzucht und vorzugsweise die Rindviehzucht (1½ Mill. Rinder) befriedigt nicht nur sehr reichlich
den Bedarf des Landes, sondern gestattet auch eine sehr bedeutende Ausfuhr an Schlachtvieh (jährlich über 200000 Stück)
und besonders an Butter (jährlich etwa 10 Mill. kg) und Käse (jährlich 29 Mill. kg). Pferde gab es (1891) 271900; besonders
die in Friesland zeichnen sich durch Größe, Stärke und Ausdauer aus. Die Schafzucht (810600 Stück) ist
nur in den sandigen Gegenden von Gelderland und Drenthe, vorzüglich auf der Insel Texel, beträchtlich.
Schweinezucht wird stark betrieben (987900 Stück). In den Seedünen halten sich zahllose verwilderte Kaninchen auf. Hasen,
wildes und zahmes Geflügel sind im Überfluß vorhanden, besonders verschiedene Wad- und Schwimmvögel.
An der Mündung der Maas brütet der Löffelreiher, die in Deutschland fast ausgerottete Bartmeise ist nicht selten. Die Bienenzucht
ist auf den Heiden in Geldern und besonders Drenthe nicht unbeträchtlich. Austern, Muscheln, Garneelen, alle Sorten See- und
Flußfische, namentlich Kabeljau, Schellfisch, Stint, Butten, Schollen, Lachs, Aal, Anchovis und Heringe, sind
in Menge an den Küsten, in den Flüssen und Binnengewässern vorhanden.
Sehr wichtig ist daher die Fischerei, in der im J. 1894: 5151 Boote mit 17286 Mann beschäftigt waren. Allein der Heringsfang
hatte 5,6 Mill. Fl. Wert. Austern wurden 18,6 Mill. Stück gewonnen. Auf Flüssen ist besonders bedeutend der Lachsfang;
auf dem Markt zu Kralingen bei Rotterdam wurden (1892) 65481 Lachse verkauft. Ausgeführt wurden 1892 an frischem Fisch 3571000
kg (2410000 nach Belgien, 540000 kg nach Deutschland), 333107 Tonnen gesalzene Heringe (276353 nach Deutschland), gesalzene Kabeljaus
83000, gedörrte Stockfische 18 Mill., Garneelen 2,3 Mill. (nach England 2,1 Mill.), Austern 1 Mill. (1890
sogar 4,2 Mill.), Anchovis etwa 70 Mill. Stück. – Den Mangel an Holz ersetzt der Torf, welcher namentlich in Holland, Friesland
und Drenthe in Menge gegraben wird. Die wichtigsten Mineralien sind Seesalz, Thon und Pfeifenerde. Der Pietersberg bei Maastricht
versorgt das Land mit Bausteinen. ^[]
Industrie.
Außer in einigen Gruben zu Limburg finden sich keine Steinkohlen. Besonders wegen dieses Mangels
ist die Industrie nicht sehr bedeutend und sogar nicht im stande, die eigenen Kolonien zu versorgen. Berühmt sind die Segeltuchfabriken
und die Werkstätten für Tauwerk in Rotterdam, Amsterdam, Gouda. Vorzügliche Leinenwaren werden in Leiden und Brabant fabriziert.
In der Tuchfabrikation, mit deren Erzeugnissen die Niederlande einst das stärkste Geschäft in Europa machten,
sind dieselben von Belgien längst überflügelt; doch liefern Leiden, Delft, Utrecht, Tilburg, Maastricht und Roermond immer
noch ausgezeichnete Waren.
Auch die Baumwollmanufaktur hat sich seit 1830 mehr entwickelt, namentlich in Nord- und Südholland, Brabant und besonders
in Oberyssel. Altberühmt ist die Lederfabrikation, und vorzüglich liefern Amsterdam und Maastricht das beste Sohlenleder.
Ansehnlich ist die Seifenfabrikation (91 Betriebe). Porzellan liefert nur Amsterdam, Delft dagegen hat gute Fayencefabriken,
und Gouda ist noch immer bekannt durch seine, freilich in der jüngern Zeit von der Cigarre stark aus dem Gebrauche
zurückgedrängten holländ. Thonpfeifen.
Papiermühlen bestehen besonders bei Zaandam und in der Veluwe. Auf dem Betriebe des Seehandels beruht hauptsächlich
der starke Absatz der 514 Branntwein-, namentlich der Wacholder- oder Geneverbrennereien; Schiedam allein hat deren über 300,
doch ist hier diese Industrie in der letzten Zeit stark zurückgegangen. Außerdem sind mit dem Seehandel
verknüpft die großen Tabakfabriken, besonders zu Amsterdam und Rotterdam, die Stearinkerzenfabriken zu Gouda, Amsterdam und
Schiedam und die 30 Zuckerfabriken. Großen Aufschwung nimmt die Kakaofabrikation. Brauereien bestehen 514.
Handel. Seit fünf Jahrhunderten findet die Industrie der Niederlande ihren Mittelpunkt im Seehandel. Zur Beförderung dieses Zwecks
wurde für den ind. Handel 1824 die königl. Niederländische Handelsgesellschaft (Matschappij) gestiftet,
welche als ausschließlicher Agent der Regierung alle Produkte der Regierungskulturen (s. Java) in Indien auf den europ. Märkten
zu verkaufen hat. Andere große Aktiengesellschaften sind die Deli-Gesellschaft, welche in Deli (Ostsumatra) höchst bedeutende
Tabakpflanzungen hat, die Billiton-Gesellschaft, welche die Zinnbergwerke Billitons in Betrieb hat, die
Afrikanische Gesellschaft u. s. w. Außer zahlreichen Versicherungsgesellschaften befördert die Niederländische Bank (s. d.),
eine der wichtigsten Kreditanstalten Europas, den Verkehr.
Die Niederlande haben Freihandel; es bestehen nur einige niedrige Zölle fiskalischen Charakters. Man berechnet den Wert der Einfuhr
zum Verbrauch auf (1894) 1461, den der Ausfuhr eigener Erzeugnisse auf 1115 Mill. Fl.; sehr bedeutend ist
auch die Durchfuhr von und nach Belgien und Westdeutschland. Die wichtigsten Einfuhrwaren sind Getreide und Mehl (für 260 Mill.
Fl.), Spezereien (203), Eisen und Stahl (135), Textilwaren (85), Kupfer (48), Kohlen (44), Zucker (41), Reis (36), Kaffee (34),
Holz (33), Sämereien (27) und Margarine (für 21 Mill. Fl.). In der Ausfuhr stehen obenan Spezereien (für 133 Mill.
Fl.), Getreide u. s. w. (133), Eisen und Stahl (92), Textilwaren (86), Margarine (50), Kupfer (46), Zucker (44), Gemüse (22),
Papier (21) und Felle (für 18 Mill. Fl.). Die wichtigsten Verkehrsländer (Werte in Millionen Gulden) zeigt folgende Tabelle
(1894):
mehr
Verkehrsländer
Einfuhr
Ausfuhr
Deutschland
287
557
Großbritannien
246
260
Belgien
161
155
Niederländisch-Ostindien
225
54
Verein. Staaten
132
22
Brit.-Ostindien
44
1
Rußland
175
5
Rumänien
34
–
Spanien
29
1
Frankreich
22
12
Andere Länder
91
48
Auf Genuß- und Nahrungsmittel entfallen 440 Mill. Fl. in der Einfuhr, 384 in der Ausfuhr, auf Rohstoffe 526 und
366, auf Fabrikate 239 und 237, auf Edelmetalle 14 und 3, auf verschiedene Waren 241 und 125 Mill. Fl. Die bedeutendsten Handelsplätze
sind Amsterdam und Rotterdam, dann folgen Vlissingen, Terneuzen, Harlingen, Dordrecht, Schiedam, Delfzijl. Im ganzen liefen
(1894) 9048 Schiffe mit Ladung, 705 mit Ballast ein mit zusammen 19,56 Mill. cbm Tonnengehalt. Holländ.
Flagge führten 2817 Schiffe. Die Handelsflotte zählte Ende 1894: 424 Segler und 157 Dampfer. Der Küstenverkehr ist unbedeutend.
Für den innern Verkehr sind neben den Landstraßen (12024 km) und den Eisenbahnen (s. Niederländische Eisenbahnen) die schiffbaren
Flüsse (etwa 4800 km) und das dichte Kanalnetz von 3067 km. Postbureaus
bestehen 1277, die Telegraphen sind nur zum Teil staatlich (Drahtlänge 19467 km).
Verfassung und Verwaltung. Das Königreich ist nach dem 1840, 1848, 1887 und zuletzt 1896 revidierten Grundgesetz vom eine
eingeschränkte konstitutionelle Monarchie. Die Krone ist erblich in dem Hause des ersten Königs Wilhelm
Ⅰ. dergestalt, daß immer die ältere Linie vor der jüngern, die männliche vor der weiblichen geht. Beim Erlöschen des
Mannsstammes folgen zuerst die Töchter des zuletzt gestorbenen Königs; darauf nach dem Verwandtschaftsgrade seine übrigen
weiblichen Verwandten oder ihre Nachkommen, die männlichen vor den weiblichen.
Die Zahl der Mitglieder der Zweiten Kammer ist nach dem Grundgesetz auf 100, die der Ersten auf 50 fixiert.
Erstere werden direkt durch die Wähler, letztere aus den Höchstbesteuerten und den durch amtliche Stellung Ausgezeichneten
gewählt durch die Provinzialstaaten. Das Grundgesetz macht das Wahlrecht von gewissen, durch das neue Wahlgesetz, das von
der Zweiten Kammer angenommen wurde, näher bestimmten Bedingungen, die Fähigkeit und den Wohlstand der Wähler betreffend,
abhängig (s. unten, Geschichte). Dem König steht ein verantwortliches Ministerium zur Seite. Außerdem
giebt es einen Staatsrat, eine Allgemeine Rechnungskammer, einen Obersten Gerichtshof (Hooge Raad) und einen Obermilitärgerichtshof
zu Utrecht.
Die 11 Provinzen sind folgende:
Provinzen
qkm
Einw. 1894
Nordbrabant
5128
528718
Drenthe
2663
139148
Friesland
3320
337765
Geldern
5081
534737
Groningen
2298
285780
Nordholland
2770
906136
Südholland
3022
1041865
Limburg
2204
268592
Oberyssel
3345
310299
Seeland
1785
207228
Utrecht
1384
235378
An der Spitze der Provinzialverwaltung steht der von der Staatsregierung ernannte königl.
Kommissar, der neben sich die Provinzialstaaten und einen ständigen Ausschuß
aus denselben hat. Auch in den Gemeinden wird
der Bürgermeister von der Staatsregierung ernannt, der mit dem Gemeinderat die Verwaltung leitet. Die Wahlberechtigung für
die Gemeinderäte und Provinzialstaaten ist von denselben Bedingungen abhängig als die für die Zweite
Kammer der Generalstaaten. ^[]
Die Gerichtspflege wird ausgeübt von 106 Kantonalgerichten, 23 Distriktstribunalen, 5 Obergerichten und dem Kassationshof
(Hooge Raad) im Haag. Die 31 Gefängnisse beherbergten (1892) 2209, die Detentionshäuser 716 Personen. Die Polizei zerfällt
in die staatliche Gendarmerie, die Reichs- und die Gemeindepolizei. Das Wappen zeigt den gekrönten goldenen
Löwen der Dynastie Nassau im blauen, mit goldenen Schindeln bestreuten Felde; in den Branken hält der Löwe ein Schwert
und ein Pfeilbündel. Schildhalter sind zwei gekrönte Löwen,stehend auf einem blauen Bande mit der Devise «Je maintiendrai».
Das Ganze deckt die Königskrone. Die Landesfarben sind Rot, Weiß, Blau. (S. Tafel: Flaggen der Seestaaten,
Bd. 6, S. 862.) Niederländ. Ritterorden sind der Militär-Wilhelmsorden
(s. Wilhelmsorden), der Orden vom Niederländischen Löwen (s. Löwenorden) und der Orden von Oranien-Nassau (s. d.).
Finanzen. Die jetzige Staatsschuld der Niederlande stammt erst aus der Zeit der Batavischen Republik, indem infolge der Bestimmungen
des Grundgesetzes von 1798 alle Schulden sowohl der Generalstaaten als der unterschiedenen Provinzen der ehemaligen Republik
der Vereinigten Niederlande zu einer einzigen nationalen Staatsschuld vereinigt wurden. Zur Zeit der franz. Nebenherrschaft wurde 1810 die
Rente auf ein Drittel herabgesetzt. Bei der Wiederherstellung des niederländ. Staates ward nun, wie bis jetzt
nur ein Drittel der Rente gezahlt war, so fürs erste nur ein Drittel der Schuld als wirkliche zinstragende, die übrigen
zwei Drittel als aufgeschobene (uitgestelde) Schuld anerkannt; jährlich sollten nun 2 Millionen der wirklichen Schuld abgetragen
und ebenso viele von der aufgeschobenen an ihre Stelle treten. Höchst bedenklich ward die Finanzlage
um 1840 infolge schlechter Verwaltung, insbesondere aber des langjährigen Kriegszustandes gegenüber Belgien. Die energische
Maßregel van Halls (1843) und die darauf folgende treffliche Verwaltung brachten durchgreifende Besserung. Von 1850 bis 1889 minderte
sich die Schuld um 155,8 Mill. Fl. Das Budget für 1896 zeigt folgende Zahlen (in Millionen Gulden):
Einnahmen
Grundsteuer
11,91
Personalsteuer
11,71
Kapitalsteuer
6,87
Einkommensteuer
4,52
Accise auf Spirituosen und anderes
42,40
Stempel, Erbsteuer u. s. w.
19,82
Zölle
5,81
Domänen
2,36
Post und Telegraph
9,23
Lotsengelder
1,40
Eisenbahnen
3,95
Verschiedenes
8,39
Ausgaben
Königl. Haus
0,80
Kabinett
0,67
Ministerium des Auswärtigen
0,83
Justiz
5,35
Inneres
13,87
Marine
15,76
Krieg
23,79
Staatsschuld
35,02
Finanzen
19,41
Kolonien
1,40
Öffentliche Arbeiten
21,40
Unvorhergesehenes
0,05
mehr
Für die ostind. Kolonien besteht ein besonderes Budget. Im ganzen stehen nach dem Voranschlag für 1896 den Einnahmen von 132 Mill.
die Ausgaben mit 140 Mill. Fl. gegenüber. Die Staatsschuld von 1110,7 Mill. erfordert jährlich 35 Mill. Zinsen und Amortisation.
Die wichtigsten Anleihen sind die 2½prozentige von 629 Mill., die 3prozentige von 93 und die 1891 konvertierte
3½prozentige von 378 Mill. Fl. Papiergeld kursiert im Werte von 15 Mill. Fl.
In betreff des Armenwesens hat der Staat, d. i. hier hauptsächlich die Gemeinde, unmittelbar nur dann einzugreifen, wenn die
Wohlthätigkeitsinstitute versagen; besonders, wenn auch nicht ausschließlich, kommen ärztliche Hilfe, Kranken- und
Irrenpflege hier in Betracht. Für die regelmäßige Armenpflege kennt das Gesetz die bürgerlichen Wohlthätigkeitsinstitute,
welche die Gemeinde unter ihrer Obhut hat und wofür sie beisteuert, die der Kirchengemeinden, die privaten und die gemischten. 1890 wurden
unmittelbar von den Gemeinden 12304, von den bürgerlichen und gemischten Instituten 76200, von den kirchlichen
115378, von den privaten 9558, weiter von Instituten für verschämte Arme 30303, zusammen 243743 Personen, d. i. nicht weniger
als 5,34 Proz. (1894: 4,38 Proz.) der Gesamtbevölkerung, zeitweise
oder dauernd unterstützt. Bettler und Vagabunden können Reichsarbeitsanstalten überwiesen werden.
Unterrichtswesen. Das Volksschulgesetz von 1857 weist nach seiner letzten Abänderung vom Dez. 1889 dem
Privatunterricht einen bedeutenden Spielraum an. Für den öffentlichen konfessionslosen Unterricht tragen Staat und Gemeinde
gemeinschaftlich, jeder zur Hälfte, die Kosten. Private Elementarschulen jeder Konfession bekommen Zuschüsse aus der Staatskasse.
Es bestehen (1893/94) 3022 öffentliche, 1351 private Elementarschulen mit 13833 und 5927 Lehrern, 473951 und 209578 Kindern;
dazu kommen 135 öffentliche, 870 private Kindergärten mit 800 und 2550 Lehrkräften und 24273 und 82516 Kindern.
Es giebt 6 staatliche Lehrerseminare, 3 von Gemeinden errichtet, 3 private Lehrerinnenseminare, weiter 97 kleinere staatliche
und 4 private Normalschulen.
Der Mittelunterricht umfaßt 38 sekundäre Tages- und Abendschulen für den Handwerkerstand, 42 professionelle Zeichen-
und Industrieschulen, 14 Handwerksschulen, 4 weibliche Industrieschulen mit zusammen 10779 Schülern und 787 Lehrern; der
Mittelunterricht zur Vorbereitung für höhere Berufsarten umfaßt 73 sog. höhere Bürgerschulen mit 8199 Schülern und 940 Lehrern;
die meisten derselben werden von den Gemeinden mit Subsidien aus der Staatskasse unterhalten, doch giebt es einige staatliche
(Reichs-) höhere Bürgerschulen.
Höhere Töchterschulen, von Gemeinden errichtet, giebt es 12 mit 1404 Schülerinnen. Höhere Fachschulen, vom Staate unterhalten,
sind das Polytechnikum zu Delft mit 325 Studenten und die landwirtschaftliche Akademie in Wageningen mit 52 Schülern. Weiter
giebt es 11 Schiffahrtsschulen mit 453, 3 für Taubstumme mit 462 und eine für Blinde mit 60 Schülern,
eine für Civildienst in Ostindien zu Delft, zwei Normalschulen für Zeichenlehrer in Amsterdam (Staatsinstitut) und im Haag,
und eine königl. Musikakademie im Haag.
Zum höhern Unterricht werden gerechnet die 29 Gymnasien mit 2499 Schülern und 431 Lehrern, die drei Reichsuniversitäten
zu Leiden, Utrecht, Groningen, die Universität der Gemeinde Amsterdam,
die sog. Freie (Calvinistische) Universität
zu Amsterdam. Weiter giebt es Seminare für die Kirchenlehrer der kleinern religiösen Gemeinden. In Amsterdam ist die Reichskunstakademie.
Für den Militärunterricht sind besonders von Bedeutung die Kadettenschule in Alkmaar und die Militärakademie in Breda. –
Die Volksbildung steht auf keiner hohen Stufe; 1894 konnten 5 Proz. der Rekruten nicht schreiben und lesen
(in der Provinz Nordbrabant sogar 9,7 Proz.). Von den Kindern zwischen 6 und 12 Jahren blieben 10 Proz. (gegen 12,7 Proz.
im J. 1884) ohne Elementarunterricht.
Das Zeitungswesen ist sehr entwickelt; manchmal haben sogar Dörfer ihre Zeitung mit polit. Nachrichten.
Die Zahl im ganzen Lande beträgt etwa 368, darunter 55 täglich, 132 mehrmals wöchentlich, 181 einmal wöchentlich erscheinende.
Das meist verbreitete Tageblatt ist «Nieuws van den Dag» (seit 1870) mit etwa 37000 Abonnenten; es ist gemäßigt liberal und
hat, wie früher die «Oprechte Haarlemmer», die meisten Familienannoncen.
Das einflußreichste Organ ist die «Nieuwe Rotterdamsche Courant» (gegründet 1843),
darauf folgen «Algemeen Handelsblad»
(s. d.),
«Telegraaf» (1893),
beide in Amsterdam, und das «Utrechtsche Dagblad» (1797),
welche zweimal täglich erscheinen,
das im Haag erscheinende «Vaderland» und die («Arnhemsche
Courant»; diese alle sind liberaler Richtung. Die «Arnhemsche Courant» (errichtet 1814) war vor 1848 das liberale
Hauptorgan. Das «Vaderland» wurde 1869 gegen das altkonservative «Dagblad»
(1708) gegründet. Erwähnung verdienen noch als liberale Organe die «Provinciale
Groninger Courant» und «Middelburger Courant». Das Hauptorgan der antirevolutionären Partei ist der «Standaard»
(1872),
redigiert von dem Führer der Partei, Dr. A. Kuyper. Nachdem aber infolge der Wahlvorlage die liberale
und besonders die antirevolutionäre Partei sich entzweit hat, ist 1894 die zu Rotterdam erscheinende «Nederlander»
unter Redaktion Favornin Lohmans gestellt und dadurch in die Reihe der bedeutendsten polit. Zeitungen getreten. Die trefflichst
redigierte kath. Zeitung ist die in Amsterdam erscheinende «Tijd» (1846); weiter giebt es «Het
Centrum», welche als das Organ Schaepmanns betrachtet wird, «De Maasbode» u. a. Unter den radikalen Blättern
steht in erster Reihe «De Amsterdammer» (1879),
unter den socialdemokratischen, deren es 11 giebt, das von Domela Nieuwenhuis
redigierte «Recht voor allen». Frauenzeitungen giebt es etwa 6, illustrierte Blätter etwa 12, humoristische 4. Mit polit.
Fragen beschäftigen sich auch die monatlichen Revuen «De Gids», die bedeutendste, und «De Tijdspiegel».
Die «Vragen des tijds» behandeln fast ausschließlich polit. und volkswirtschaftliche
Fragen; letztere auch «De Economist» und das «Sociaal Weekblaad». Mehr litterarisch
ist das Wochenblatt «De Amsterdammer», mit trefflichen Zeichnungen und Karikaturen.
Fast ausschließlich litterarisch ist «De Spectator» im Haag, lange Zeit das erste, wenn nicht das einzige
derartige Organ; ferner «De Kunstwereld» für schöne Künste, «Caecilia» für Musik, «Het Museum» in Groningen für histor.
und litterar. Arbeiten. Außer den strengen Fachzeitschriften sind wissenschaftlichen Inhalts: «De Natuur», «Het Album der Natuur»,
«Maandblad voor Natuurwetenschappen», «Tijdschrift
voor Geneeskunde», «Rechtsgeleerd Magazijn» u. a.
mehr
Das Zeitungswesen ist mit der Unabhängigkeit des Landes aufgekommen. Die ersten Blätter, welche polit. Nachrichten brachten,
erschienen in Amsterdam und Leiden im Anfang des 17. Jahrh. Die ersten derartigen Blätter aber, welche periodisch erschienen,
wurden in Amsterdam seit von Broer Jansz herausgegeben. Am wurde die «Oprechte
Haarlemsche Courant» errichtet, welche bis jetzt noch besteht und sich sogar nach starkem Zurückgang wieder erholt hat; sie
nimmt den Tagesfragen gegenüber eine neutrale Stellung ein.
Des größten Ansehens erfreute sich im vorigen Jahrhundert die französisch geschriebene, 1677 errichtete sog.
«Gazette de Leide», welche seit 1723 von der eingewanderten franz. Hugenottenfamilie
Lusac redigiert wurde; 1809 ist sie eingegangen. Den größten Aufschwung verdankt das Zeitungswesen der Aufhebung des Zeitungsstempels
(1869). – In Niederländisch-Ostindien giebt es etwa 20 Zeitungen. Die bedeutendsten sind «Het Bataviasche Nieuwsblad», «Het
Bataviasche Handelsblad», welche in Batavia, und «De Javabode», welche in Samarang erscheint.
Litteratur zur Geographie und Statistik. D’Amicis, Nederland en zijne bewoners (2. Aufl., Leid. 1877);
J. Heemskerk, De Praktijk onzer Grondwet (2 Tle., Utrecht 1881);
Rijkens, Aardrijkskunde van Nederland (8. Aufl., Groning. 1888);
Penck, Die Niederlande, Belgien und Luxemburg (in Kirchhoffs «Länderkunde von Europa», Bd. 2, Wien 1889);
Blink, Nederland en zijne bewoners
(Amsterd. 1889 fg.);
J. Oppenheim, Handboek voor de beoefening van het nederl.
Gemeenterecht (5. Aufl., Groning. 1890);
Niederlande G.
Pierson, Leerboek der Staathuishoudkunde (Haarl. 1890);
J. P. Sprenger van Eyk, De Rijks- en gemeentebelastingen in Nederland
(Haag 1891);
Schuiling, Aardrijkskunde van Nederland (3. Aufl., Zwolle 1891);
Jaarcijfers over 1892 en vorige
jaarn (Amsterdam);
Baedeker, Belgien und Holland (20. Aufl., Lpz. 1894).
Geschichte. Die Niederlande waren zu Cäsars Zeiten größtenteils von german. Völkerschaften bewohnt. So hatten die Bataver (s. d.)
und Caninefaten das Land zwischen dem Rhein, der Waal und der Maas inne, während die ebenfalls german.
Friesen mehr nördlich an der Seeküste wohnten. Im 5. Jahrh. geschieht
nur noch dreier Nationen Erwähnung, der Franken im Süden, der Friesen im Norden, der Sachsen im Osten. Die beiden letztern
wurden von den erstern unterjocht, und alle drei gehörten zum Reiche Karls d. Gr. Nach mehrern Teilungen dieses Reichs kam zuletzt
im Vertrag zu Mersen 870 das Reich Lothars Ⅱ. (Lothringen und Friesland), das auch alle niederländ. Gebiete
außer dem spätern Westflandern und Artois umfaßte, großenteils an das östl. Reich (Deutschland).
Nur auf kurze Zeit 911‒924 hielt Lothringen zu Frankreich. Unter Einfluß des Lehnswesens bildeten sich hier wie überall
viele fast unabhängige Fürstentümer, so in Südniederland das Herzogtum Brabant und die Grafschaft Flandern;
in Nordniederland die Grafschaft Geldern (später Herzogtum), die Grafschaft Holland und Seeland und das Stift Utrecht. Die Vereinigung
aller dieser Länder gelang im 14. und 15. Jahrh. den burgund. Herzögen aus dem Hause Valois und deren Erben aus dem Hause Habsburg,
in dessen Besitz sie durch die Vermählung der burgund. Prinzessin Maria (s. d.) mit
dem spätern Kaiser Maximilian Ⅰ. 1477 kamen. (S. Burgund, Geschichte.)
Unter
der Verwaltung der Habsburger nahmen die Niederlande einen mächtigen Aufschwung. Insbesondere wirkte Kaiser Karl V. im Interesse
des Landes. Nachdem er 1543 Geldern und Zütphen erobert und Frankreich gezwungen hatte, auf das Lehnsrecht
über Westflandern und Artois zu verzichten, vereinigte er alle 17 Provinzen, die größtenteils bereits 1512 von Maximilian
zu dem Burgundischen Kreis (s. d.) zusammengefaßt waren, 1548 noch enger miteinander, eximierte
sie von den Reichsgerichten und regelte im Verein mit den Ständen des Landes 1549 das Erbrecht in allen
Provinzen auf gleicher Grundlage.
Das Bestreben des Kaisers, die einzelnen Provinzen der Niederlande zu einem mächtigen Staate zu verschmelzen, wurde durch den aus der
Reformation hervorgegangenen Zwiespalt vereitelt. Ein ansehnlicher Teil des niederländ. Volks hatte die neue Lehre angenommen,
die Karl Ⅴ. und besonders dessen Sohn, Philipp Ⅱ. von Spanien, schonungslos wieder auszurotten suchten.
Aber die Großen des Landes, besonders Oranien, Egmond und Hoorn, zwangen 1564 den König, seinen verhaßten Günstling, den Kardinal
Granvella, aus den Niederlande zu entfernen.
Später verband sich auch der niedere Adel in dem sog. Kompromiß von Breda und überreichte der Oberstatthalterin Margareta
von Parma eine Bittschrift um Abstellung der Edikte gegen die Ketzer (1566). Endlich im Aug. 1566 begann das Volk den Angriff gegen
die kath. Kirchen und die Vernichtung der Bilder. 1567 schickte König Philipp den Herzog Alba (s. d.) ab, um die kirchliche
Bewegung zu dämpfen. Die Hinrichtung vieler Tausende, darunter die Angesehensten des Landes, Egmond und
Hoorn, schüchterte zwar das Volk ein; aber um den geflüchteten Prinzen Wilhelm Ⅰ. von Oranien sammelten sich eine große
Anzahl von Verbannten, die sich seit dem Herbste 1567 vornehmlich zur See als sog. Geusen (s. d.)
gefürchtet machten.
Nach vergeblichen Versuchen von seiten Oraniens und seines Bruders Ludwig von Nassau, mit einem Landheere
im Mai und Juni sowie im Okt. 1568 die Spanier aus den Niederlande zu vertreiben, gelang es 1572 den Geusen unter dem Grafen von der
Mark, sich des Hafens Briel und darauf der meisten Städte Hollands und Seelands zu bemächtigen. Die Aufständischen
erkannten Oranien, den frühern königl. Statthalter dieser Provinzen, als ihr gesetzmäßiges Oberhaupt an; im Süden wurde
von Frankreich aus die starke Festung Mons von Ludwig von Nassau überrumpelt, doch unterwarf Alba die meisten dieser Plätze
bis zum Frühjahr 1573 wieder; Haarlem mußte nach siebenmonatiger tapferer Verteidigung kapitulieren. Alkmaar aber leistete
erfolgreichen Widerstand, und Leiden überstand heldenmütig eine zweimalige vielmonatige Belagerung.
Obgleich inzwischen Ludwig von Nassau mit fast seiner ganzen (deutschen) Armee in der Schlacht auf der Mooker-Heide umgekommen
war, dauerte doch nach dem Entsatz von Leiden der Aufstand in Holland und Seeland weiter auch gegen Albas Nachfolger, Ludwig de
Requesens y Zuniga, der eine mildere Politik beobachtete. Als nach dem plötzlichen Tode des letztern 1576 die
Meuterei der span. Soldaten auch die südl. Provinzen zur Verzweiflung trieb, wußte Oranien durch den Vertrag von Gent (s. Genter
Pacifikation) die übrigen Provinzen mit Holland und Seeland zu verbinden und dem neuen Statthalter Johann
von Österreich die
mehr
Regierung unmöglich zu machen. Die Eifersucht des Adels in den südlichen Niederlande und die immer noch zahlreichen Anhänger der kath.
Kirche störten jedoch die Eintracht, und der Nachfolger Johanns, Alexander Farnese, Prinz von Parma, wußte daraus Nutzen zu
ziehen. Bereits 1579 sagten, sich einige der südl. Gebiete von der Verbindung mit den nördlichen los,
und diesem Beispiele folgten andere. Dagegen schlossen sich die nördl. Provinzen durch die Union zu Utrecht fester aneinander,
waren aber nicht im stande, dem Feinde erfolgreich zu widerstehen.
Als Prinz Wilhelm von Oranien 1581 durch Mörderhand fiel, standen der span. Macht fast nur noch die vier
Provinzen Holland, Seeland, Utrecht und Friesland entgegen. Um diese Zeit wurde die Aufmerksamkeit Philipps Ⅱ. von den niederländ.
Angelegenheiten abgelenkt durch den franz. Thronfolgestreit zwischen Heinrich Ⅳ. und der Liga. Um der Liga beizustehen,
mußte der Herzog von Parma wiederholt mit dem größten Teile seines Heers nach Frankreich ziehen, worauf
sich die Niederländer unter dem Prinzen Moritz, dem Sohne Wilhelms von Oranien, einer Reihe wichtiger Plätze in Geldern, Oberyssel,
Groningen und Brabant bemächtigten.
Beim Tode Philipps Ⅱ. (1598) war das ganze Land nördlich von der Maas von den Spaniern befreit, 1600 fiel Moritz in Flandern
ein und erfocht bei Nienport 2. Juli einen glänzenden Sieg, dagegen wurde Ostende nach dreijähriger Belagerung von
den Spaniern zur Ergebung gezwungen. 1609 schloß König Philipp Ⅲ. einen 12jährigen Waffenstillstand, in welchem die
Unabhängigkeit der sieben Provinzen (Holland, Seeland, Utrecht, Geldern, Oberyssel, Friesland, Groningen) im Princip anerkannt
wurde.
Diese sieben Provinzen bildeten nunmehr die Republik der Vereinigten Niederlande, während die südl. Provinzen,
etwa das jetzige Belgien (s. d.), dem Hause Habsburg und der kath.
Konfession verblieben. Bereits 1581 hatten sich jene sieben nördl. Provinzen von dem König von Spanien losgesagt und, nachdem
Frankreich und England die Herrschaft abgelehnt und der von den Generalstaaten als Generalstatthalter
(1585‒87) mit großer Machtbefugnis bekleidete Befehlshaber der von der engl. Königin geschickten
Hilfstruppe, der Graf Leicester, infolge vieler Konflikte mit den Staaten Hollands, hatte abdanken müssen,sich 1588 als Republik
konstituiert.
Doch genoß der Prinz von Oranien als Statthalter der fünf wichtigsten Provinzen und Befehlshaber des Heers fürstl. Ansehen.
Während des Waffenstillstandes erhob sich jedoch ein Konflikt zwischen ihm und den Ständen oder Staaten von Holland (der größten
und mächtigsten der sieben Provinzen, nach welcher auch die gesamten Lande als «Holland» bezeichnet wurden), deren Generalanwalt
und Führer Jan van Oldenbarneveldt (s. d.) war. Der Zwiespalt entsprang aus den kirchlichen
Zwisten zwischen den streng orthodoxen Gomaristen und Arminianern (s. d.) und endete 1619 mit der Hinrichtung
Oldenbarneveldts. Im übrigen erfreuten sich die Niederlande des besten Gedeihens; Industrie, Handel, Schiffahrt und Fischfang blühten
wie nie zuvor.
Dazu kam noch die Entwicklung des Verkehrs mit Ost- und Westindien. 1602 wurde die Ostindische Compagnie (s. d.)
gestiftet, die den Grund zu der holländ.-ostind. Herrschaft legte, 1621 eine Westindische Compagnie, die auch eine Zeit lang
Herr der Küste von Brasilien war, aber an Bedeutung zurückblieb. Nach
Ablauf des Waffenstillstandes nahm Moritz und nach dessen
Tode (1625) sein Bruder Friedrich Heinrich den Kampf gegen Spanien wieder auf. Wichtige Festungen (Herzogenbusch
und Maastricht) wurden erobert. Erst 1648 machte der Westfälische Friede dem Krieg ein Ende.
Die Republik erlangte dabei Anerkennung ihrer Unabhängigkeit und den Besitz alles dessen, was sie in Brabant und Flandern,
Ost- und Westindien erobert hatte. Sie hatte somit den Gipfel ihrer Größe erreicht. Das Land war der
Sitz und Zufluchtsort religiöser und polit. Freiheit in Europa. Eine ungewöhnliche Wohlfahrt herrschte überall. Zugleich
blühten Künste und Wissenschaften, besonders die Malerei. (S. Niederländische Kunst.) Nachdem Prinz Wilhelm Ⅱ. (der Sohn
Friedrich Heinrichs) ohne Hinterlassung eines volljährigen Erben gestorben und deshalb die Statthalterwürde von Holland erledigt
geblieben, trat Jan de Witt (s. d.) 1652 als Ratspensionär
an die Spitze Hollands und dadurch an die der Union.
Unter ihm war die Republik der Niederlande eine Macht ersten Ranges. Ihre Flotten, unter Tromp und de Ruyter, erwarben sich in den Kriegen
gegen Cromwell (1652‒54) sowie gegen Karl Ⅱ. von England (1665‒67) Ruhm. Nicht weniger Kraft und
Mut bewies die Republik, als sie 1668 die Tripelallianz mit England und Schweden schloß und so Ludwig ⅩⅣ. zum Aachener Frieden
(s. d.) zwang. Aber nachdem Ludwig ⅩⅣ. durch seine gewandte Staatskunst die Republik völlig isoliert und sogar den König
von England für sich gewonnen hatte, erklärte er ihr 1672 den Krieg und eroberte Geldern und Utrecht;
Holland setzte seine Grenzgebiete unter Wasser und that so dem weitern Vordringen der Franzosen Einhalt.
Unterdessen zwang eine Volksbewegung in Seeland und Holland die Staaten, den jungen Prinzen von Oranien, Wilhelm Ⅲ., zum Statthalter
und Generalkapitän (Oberbefehlshaber des Heers der Union) zu ernennen. Unter dessen geschickter und glücklicher
Führung nahm der Krieg bald eine andere Wendung, besonders als Spanien und Deutschland den Niederlande zu Hilfe kamen. Bereits 1674 stand
auf dem Gebiete der Republik kein Feind mehr, und im Frieden zu Nimwegen 1678 verlor sie keinen Zoll breit Landes. Die
Republik setzte ihren Statthalter 1688 in den Stand, die Revolution in England durchzusetzen und den Thron Jakobs Ⅱ. einzunehmen.
Auch nach dem Tode Wilhelms Ⅲ. blieb sie die Bundesgenossin Englands im Spanischen Erbfolgekriege (s. d.).
Dies war jedoch die letzte Machtäußerung der Republik. Wider Willen wurde die statthalterlose Regierung, die seit
dem Tode Wilhelms Ⅲ. (1702) das Staatsruder führte, in den Österreichischen Erbfolgekrieg hineingerissen (1741), der ihr
nur Niederlagen bereitete. Das Volk zwang die Staaten, 1747 den nächsten Verwandten Wilhelms Ⅲ. Wilhelm Ⅳ., zum Erbstatthalter
auszurufen und an die Spitze des Heers zu stellen. Dieser starb jedoch schon 1751. Hierauf übernahm die
Regentschaft die Witwe Wilhelms Ⅳ. (eine Tochter Georgs Ⅱ. von England) und nach deren Tode (1759) der Vormund des minderjährigen
Prinzen Wilhelm Ⅴ., der Herzog von Braunschweig. Einbuße erlitten die Niederlande hauptsächlich infolge ihrer Beteiligung an dem
großen Seekriege gegen England zur Zeit des Befreiungskrieges in Nordamerika (1781‒83), und im Frieden
zu Paris mußten sie einige Gebietsteile in Ostindien abtreten. Das Volk schrieb alles der schlechten
mehr
Leitung des Statthalters zu, und die antioranische Partei gewann neue Stärke. Im Sept. 1786 entzogen die Generalstaaten dem
Erbstatthalter seine Würde als Generalkapitän und nahmen ihm den Oberbefehl über die Truppen. Eine der Statthalterin, der
Schwester des Königs Friedrich Wilhelm Ⅱ. von Preußen, zugefügte Beleidigung veranlaßte im Sept. 1787 das Einrücken
eines preuß. Heers unter dem Herzog von Braunschweig in Holland, das keinen ernstlichen Widerstand fand.
Auch Amsterdam kapitulierte schon 8. Okt. Zugleich hatte die Ankunft der Preußen eine Volksbewegung zu Gunsten des Statthalters
hervorgerufen, die ihm die Macht wiedergab. Die «Patrioten», wie sich die
Feinde Oraniens nannten, flohen in Masse nach Frankreich, wo ihr Bestreben seit 1789 dahin ging, mit Hilfe
der Franzosen die neuen polit. Theorien der großen Revolution in Anwendung zu bringen. Infolgedessen schloß sich Wilhelm
Ⅴ. der Koalition gegen Frankreich an, und die Niederlande wurden bald der Schauplatz der Französischen Revolutionskriege (s. d.).
Die Franzosen eroberten die österreichischen Niederlande, und der harte Winter 1794‒95, der
die Grenzflüsse der Republik passierbar machte, öffnete Pichegru den Weg ins Land.
Der Erbstatthalter Wilhelm Ⅴ. floh im Jan. 1795 mit seiner Familie nach England, die alte Regierung wurde gestürzt. Eine
neue, revolutionäre, schloß 1795 den Frieden mit Frankreich ab, wobei die Niederlande unter dem Namen Batavische Republik
als selbständiger Staat anerkannt wurden. Dafür aber mußten sie einige südl. Landstriche, namentlich Maastricht,
Venlo, Staats-Limburg und Staats-Flandern (einen Teil der sog. Generalitätslande) an Frankreich abtreten, sich mit diesem Reiche
zu einer beständigen Allianz verbinden, eine Summe von 100 Mill. Fl. an dasselbe entrichten und den franz.
Truppen die Besetzung ihres Gebietes gestatten.
Erst 1798 erhielt die neue Republik ihre Verfassung als vollständiger Einheitsstaat; die alten Provinzen wurden aufgehoben
und das Land in acht Verwaltungsbezirke (Departements) geteilt; neben einer aus zwei Kammern bestehenden stellvertretenden
Versammlung bestand als vollziehende Gewalt ein Direktorium von fünf Männern. Unfähig, mit dem geringen
Überreste eigener Kraft selbständig zu handeln, sah die Republik ihre Flotten durch die engl.
Seemacht verdrängt, ihre Kolonien verheert, ihren Handel auf Küstenfahrt und auf den innern Verbrauch beschränkt und die
Bank von Amsterdam bis zur Vernichtung erschüttert.
Kaum zeigte sich bei dem Frieden zu Amiens 1802 die Hoffnung einer bessern Zukunft, als sich die Republik
wieder in den neu beginnenden Krieg Frankreichs gegen England verflochten sah. Surinam und das Kap fielen in die Hände der Engländer.
Nachdem schon 1801 eine Änderung der Verfassung eingetreten war, mußte sie zum drittenmal nach Napoleons Ⅰ. Wunsch umgeändert
werden. Demnach erhielt ein Gesetzgebendes Korps (die Hochmögenden), bestehend aus 19 Deputierten der Departements, mit
einem von diesen auf fünf Jahre erwählten, mit fast unbeschränkter Macht bekleideten Ratspensionär an der Spitze, die
höchste Gewalt. Doch selbst des tüchtigen Ratspensionärs Schimmelpenninck Bemühungen konnten das Land nicht retten.
Durch Napoleon Ⅰ. gezwungen, trug man 1806 dessen drittem Bruder, Ludwig Bonaparte, den Besitz des zerrütteten
Landes als souveränes Königreich Holland
an, und wurde derselbe als König von Holland ausgerufen, und Holland mußte
nun an allen Kriegen Napoleons teilnehmen. Die Staatsschuld wuchs; der Handel bestand nach der Einführung des
Kontinentalsystems nur noch in Schleichhandel, der zu England hinzog. Es erhielt nach dem Frieden zu Tilsit zwar Ostfriesland,
Jever, Varel und Kniphausen, mußte aber dafür das zwischen der franz. Grenze und der Maas
gelegene Gebiet nebst einem Teil von Seeland mit den Festungen Bergen-op-Zoom, Breda, Herzogenbusch, Gertruidenberg und Vlissingen
abtreten.
Der neue Krieg gegen Österreich 1809 veranlaßte die Landung der Engländer auf Walcheren. Die Spannung zwischen König Ludwig
und dem Kaiser wuchs, und legte der König die Krone zu Gunsten seines ältesten unmündigen Sohnes nieder. Napoleon
Ⅰ. erkannte indessen die Verfügung seines Bruders nicht an, und durch Dekret vom 9. Juli wurde Holland mit
dem franz. Reiche vereinigt. Die Zinsen der öffentlichen Schuld wurden auf ein Drittel herabgesetzt, und Lebrun, der Herzog
von Piacenza, erschien als des Kaisers Stellvertreter in Amsterdam.
Die Schlacht bei Leipzig änderte auch das Schicksal der Niederlande. Während die Verbündeten gegen Frankreich vorrückten,
wandte sich ein russ.-preuß. Armeekorps unter Bülow von der Nordarmee gegen die Niederlande. Bei der Annäherung desselben stellten
im Haag der Graf Gysbert Karel van Hogendorp und der Baron, später Graf, van der Duyn van Maasdam (gest. 1848) sich
mit dem Grafen Leopold von Limburg-Stirum, dem das Militärkommando übertragen wurde, an die Spitze einer
Volksbewegung, und die franz. Besatzung im Haag entschloß sich zum freiwilligen Abmarsch.
Hogendorp und van der Duyn traten als Provisorische Regierung auf. Der Prinz von Oranien war 30. Nov. im Haag eingetroffen, löste
die Provisorische Regierung auf und übernahm die Leitung der Geschäfte. Eine Kommission von 15 Mitgliedern,
darunter Hogendorp und van der Duyn, wurde mit dem Entwurfe der neuen Staatsverfassung beauftragt, die in der Versammlung der
aus allen Provinzen der ehemaligen Vereinigten Niederlande zur Abstimmung zusammenberufenen Notabeln angenommen wurde.
Infolge des Pariser Friedens vom 30. Mai des Londoner Protokolls vom trat Wilhelm auch in seine Rechte
als Generalgouverneur der von den Alliierten besetzten ehemals österr. (belg.) Provinzen, bis die definitive Vereinigung der
beiden Staaten (Belgien und Holland) reguliert würde. Durch den Staatsvertrag mit England vom wurden dem souveränen
Fürsten gegen Abtretung der Rechte Hollands auf das Vorgebirge der Guten Hoffnung und auf die Kolonien Demerara,
Essequibo, Berbice und Ceylon die sämtlichen übrigen Kolonien, welche Holland besessen hatte, zurückgegeben, mit
der ausdrücklichen Bestimmung, daß es für obengenannte Abtretung durch eine Landesvergrößerung in Europa (Belgien) werde
entschädigt werden.
Durch den Beschluß des Wiener Kongresses vom 31. Mai durch die Schlußakte vom wurden die ehemaligen
österr. Provinzen nebst dem Bistum Lüttich mit den Provinzen der ehemaligen Republik verbunden. Beide zusammen sollten fortan
das Königreich der Niederlande bilden, und Wilhelm Ⅰ. wurde als König der Niederlande von allen Mächten
anerkannt. Auch wurde ihm zur Entschädigung für
mehr
die in Deutschland abgetretenen nassauischen Besitzungen das Herzogtum Luxemburg (s. d.)
unter dem Titel eines Großherzogtums überlassen, doch so, daß dieses Land zu den Staaten des Deutschen Bundes gehören sollte,
dem Wilhelm Ⅰ. schon beitrat. Die Einverleibung so vieler neuen Provinzen machte eine Abänderung der Verfassung
notwendig. Einer Kommission, in gleicher Anzahl ans Holländern und Belgiern zusammengesetzt, wurde diese
Veränderung aufgetragen.
Nachdem der König den neuen Verfassungsentwurf genehmigt hatte, wurden die 55 Mitglieder der Generalstaaten durch die Provinzialstaaten,
die zugleich die Wahlkörper für die Generalstaaten waren, verdoppelt, um über die zu treffenden Abänderungen Beschluß
zu fassen. Dieser Beschluß lautete einstimmig auf Annahme des Entwurfs. Aus den südl. Provinzen ward zu
diesem Zweck ebenfalls eine Versammlung der Notabeln berufen, von welchen jedoch ein Sechstel ausblieb, so daß die Gesamtheit
der Erschienenen sich auf 1323 belief, wovon 527 für und 796 gegen die Verfassung stimmten. Da es sich aber ergab,
daß 126 Stimmen bloß aus Religionsgründen für die Verwerfung gestimmt hatten, so fand man für gut, letztere nebst den 280 Ausgebliebenen
zu den Zustimmenden zu zählen und so eine Mehrheit für die neue Verfassung herauszukünsteln, die nun 24. Aug. für angenommen
erklärt und 21. Sept. vom König Wilhelm beschworen wurde. Durch diese Verfassung wurden zwei Kammern eingesetzt,
die erste vom König ernannt, die zweite gewählt von den Provinzialstaaten.
In dem zweiten Pariser Frieden von 1815 mußte Frankreich noch kleine Landstriche an der Grenze von Hennegau, Namur und Luxemburg
an das Königreich der Niederlande abtreten. Im Innern des Landes aber zeigte sich schon anfangs tiefer Zwiespalt.
Die mächtige belg. Geistlichkeit war einer Verbindung mit den nördl. Protestanten von vornherein abgeneigt. Andererseits
wirkten die Freiheitsideen der Revolutionszeit in Belgien noch mächtig fort, während sich in den nördlichen Niederlande nach der
Unglückszeit der franz. Herrschaft die Bevölkerung enger als je an das Haus Oranien anschloß. Zu alledem
kam noch gegenseitige nationale Abneigung und der Gegensatz von niederländ. und franz.
Sprache und Sitte.
Die belg. Liberalen, auch einige der niederländ. Abgeordneten in den Generalstaaten, nahmen großen Anstoß daran, daß die
Finanzwirtschaft des Staates der parlamentarischen Aufsicht so gut wie entzogen war. Verhaßt waren den
Belgiern auch die Verordnungen, die in den ganz oder teilweise flamländ. Provinzen, besonders in den Gerichten und der administrativen
Verwaltung, das Niederländische zur alleinherrschenden Sprache zu erheben beabsichtigten. Auch die Verschiedenheit der wirtschaftlichen
Interessen erregte gewaltsame Reibungen. Um der Finanznot des Staates abzuhelfen, wurden 1819 Steuern auf gewisse Handelsartikel,
wie Kaffee und Zucker, gelegt, von denen die Handelsleute der Nordprovinzen große Nachteile fürchteten.
Als diese aber nur wenig ergaben, wurden 1821 mit Hilfe der nördl. Provinzen, des Widerstandes der hauptsächlich Landbau betreibenden
Belgier ungeachtet, Steuern auf die ersten Lebensbedürfnisse, besonders eine Mahlsteuer, erhoben.
Doch hatte diese viel angefeindete Regierung große Verdienste. Zahlreiche Kanäle wurden gegraben, die
Niederländische Handelscompagnie (Handelmaatschappij) wurde gegründet
(1824), die belg.
Industrie verdankte ihren ersten Aufschwung wesentlich den Bemühungen des Königs, Landbaukolonien für Bettler wurden
errichtet. Außer den bestehenden Universitäten zu Leiden, Utrecht, Groningen und Löwen wurden neue errichtet zu Lüttich und
Gent. Hierbei aber geriet die Regierung in neue Konflikte mit der Geistlichkeit.
Für die vorbereitende Erziehung künftiger Geistlichen gründete sie ein sog. Collegium philosophicum
zu Löwen (1825); die unter ausschließlich geistlichem Einfluß stehenden Kleinen Seminare wurden aufgehoben. Dies erregte
großen Widerstand. Ein Konkordat wurde mit Leo ⅩⅡ. zwar abgeschlossen und ratifiziert,
die Ausführung aber wegen der dabei hervortretenden Mißhelligkeiten mit der Kurie hintertrieben. Zuletzt kam es 1828 zu
einer förmlichen Union der unzufriedenen ultramontanen und liberalen Parteien.
Die gewaltige Opposition in den Generalstaaten und die Agitation in dem Lande brachte die Regierung zur Nachgiebigkeit. Der
Besuch des Collegium philosophicum wurde fakultativ gestellt, die Mahlsteuer und die Verordnungen, die
Sprache betreffend, aufgehoben. Gegen den aufrührerischen Geist im Lande schritt die Regierung ein durch eine in gebieterischen
Worten gefaßte königl. Botschaft vom welche einen strengen Preßgesetzentwurf begleitete. Dieser Entwurf wurde
im Mai 1830 genehmigt. In Indien hatte die Regierung einen schweren Kampf zu führen gegen Palembang auf
Sumatra (1819‒21) und besonders gegen den javan. Häuptling Diepo Negoro (1825‒30). Mit Großbritannien wurde 1818 ein
Vertrag gegen den Sklavenhandel abgeschlossen. Alte Mißhelligkeiten mit England wegen Ostindien wurden durch den Vertrag 1824 ausgeglichen,
Streitigkeiten mit Preußen über die Rheinschiffahrt 1829 vermittelt.
Infolge der franz. Julirevolution brach in Brüssel ein Aufstand aus, der die gänzliche Trennung
Belgiens von den Niederlande zur Folge hatte (s. Belgien, Geschichte). Doch weigerte sich König Wilhelm lange, den von den fünf Großmächten
auf einer Londoner Konferenz in 24 Artikeln entworfenen Friedenstraktat anzunehmen. Eine Schwierigkeit
gab die in den 24 Artikeln verabredete Abtretung eines Teils von Luxemburg an Belgien, da hierzu die Genehmigung des Deutschen
Bundes und der Agnaten in Nassau erforderlich war.
Der Bundestag gab seine Zustimmung; als Entschädigung sollte aber ein Teil des Limburgischen in den Bund treten.
Erst entschloß sich König Wilhelm, dem Vertrage der 24 Artikel beizustimmen. Jetzt aber legte
Belgien, sich auf die veränderte Sachlage berufend, Einsprache ein, und König Wilhelm nahm, durch die sich immer bedrohlicher
gestaltenden Finanzverhältnisse des Staates in seiner Hartnäckigkeit erschüttert, die nunmehr zu seinem Nachteil
modifizierten 24 Artikel an, worauf 19. April die definitiven Friedensverträge unterzeichnet wurden. Am traten
die Agnaten ihre Rechte auf den für den verlorenen luxemb. Anteil an Holland gekommenen Teil von Limburg (s. d.) gegen eine
Entschädigung von 750000 Fl. ab. Hierauf wurde dieser Teil, mit Ausnahme der Festungen Maastricht und Venlo,
die bei Holland verblieben, 16. Aug. als Entschädigung für den an Belgien überlassenen Teil von Luxemburg als Herzogtum den deutschen
Bundesstaaten einverleibt.
mehr
Inzwischen war auch im Norden eine tiefe Mißstimmung gegen die Regierung laut geworden. Der anfänglich große Ertrag des
vom Generalgouverneur van den Bosch (s. d.) auf Java eingeführten Kultursystems konnte der Zerrüttung
der Finanzen keinen Einhalt thun. Bei der durch die Trennung von Belgien nötig gewordenen Veränderung des Grundgesetzes (1840)
wurde die Verfassung einigermaßen in liberalem Geiste revidiert, z. B. durch Einführung der ministeriellen
Verantwortlichkeit.
Große Aufregung erregte auch die Heirat des Königs mit der belg. und kath.
Gräfin Henriette d’Oultremont. Zuletzt sah sich der König veranlaßt, die Regierung in die Hände seines Sohnes,
Wilhelm Ⅱ., niederzulegen. Bereits 1841 waren Verhandlungen mit den Zollvereinsstaaten angeknüpft
worden, die den Handelsvertrag von 1842 herbeiführten. Differenzen mit Belgien wurden durch einen Vertrag vom beseitigt,
dem 1843 ein fünfjähriger Handels-, Schiffahrts- und Territorialvertrag folgte.
Die traurige Finanzlage nötigte endlich die Regierung, den Kammern einen Gesetzentwurf zu einer außerordentlichen Vermögenssteuer
oder zu einer Zwangsanleihe von 127 Mill. Fl. vorzulegen, der im März 1844 angenommen wurde. Seitdem
aber wuchs der Einfluß der Partei im Lande, die eine eingreifende Veränderung des Grundgesetzes nach liberalen Grundsätzen
forderte. Ihr hervorragender Führer war der Leidener Professor Johann Rudolf Thorbecke. Mit acht andern (die sog. Neunmänner)
arbeitete er eine Verfassungsrevision aus, die aber verworfen wurde.
Später (1847) brachte die Regierung selbst Reformvorschläge vor die Kammern, die aber höchst ungenügend erschienen. Auf
die Nachricht von den nach der Februarrevolution 1848 in Deutschland um sich greifenden Volksbewegungen entschloß sich der
König zu weiterer Nachgiebigkeit. Es wurde eine Kommission von fünf Männern, worunter Thorbecke, eingesetzt
zur Ausarbeitung eines neuen Grundgesetzes, das 3. Nov. verkündigt wurde. Der Adel hörte dabei auf, ein selbständiges Mitglied
der Provinzialstaaten zu sein. Diese und die Zweite Kammer der Generalstaaten sollte aus direkten Wahlen hervorgehen, die Erste
Kammer durch die Provinzialstaaten aus den Höchstbesteuerten gewählt werden.
Wilhelm Ⅱ. starb Sein Nachfolger, Wilhelm Ⅲ., sah sich infolge der von seiten der konstitutionellen
Liberalen ausgehenden Opposition bald genötigt, das Ministerium seines Vaters zu entlassen. Nach einer langen Krisis trat
endlich ein von Thorbecke gebildetes Kabinett zusammen. Dasselbe ließ während seines fast vierjährigen
Wirkens nicht nur die wichtigsten organischen Gesetze (z.B. über Provinzial- und Gemeindeordnung) von den Kammern genehmigen,
sondern verbesserte auch durch zweckmäßige Finanzgesetze (Rentenumwandlung, Postreform, Reduktion der regelmäßigen Staatsausgaben,
vor allem aber durch Aufhebung der für nachteilig erkannten Vorrechte der niederländ. Schiffahrt) die materielle Lage des
Landes. Dabei wurden im Innern Kanalisationen, besonders in Oberyssel und Drenthe, angelegt, Eisenbahn-
und Telegraphenverbindungen in Angriff genommen und die Austrocknung des Haarlemer Meers zu Ende geführt.
Eine päpstl. Allokution vom die durch das neue Grundgesetz ermöglichte Wiederherstellung von Bischofssitzen in
Holland betreffend, rief
eine heftige antikath. Agitation im Lande hervor. Die Erklärung der Regierung,
daß sie an und für sich der Errichtung von Bischofssitzen verfassungsmäßig nicht entgegentreten könne, erregte die öffentliche
Meinung ungemein. Der König entließ daher das Ministerium und berief an dessen Stelle ein konservatives.
Die Zweite Kammer wurde aufgelöst und die neue Wahl ergab eine Majorität im Sinne der Regierung. Um die
Protestanten zu beruhigen, brachte man ein Gesetz über die Kirchengemeinden ein, das von den Kammern genehmigt wurde. Der
Staat erhielt hiernach im Princip die Aufsicht über den Kultus aller Kirchengemeinden. Bis 1862 wechselten die Minister unaufhörlich. 1855 wurde
die Abschaffung der Mahlsteuer von den Kammern mit großer Majorität angenommen. 1857 genehmigten die
Generalstaaten einen Gesetzentwurf bezüglich des Primärunterrichts; es sollten überall von den Gemeinden öffentliche,
in Glaubenssachen neutrale, für alle Bekenntnisse zugängliche Primärschulen unterhalten werden.
Noch wurde 1861 ein Gesetz zur Ausführung eines Staatseisenbahnsystems angenommen. Im Jan. 1862 ward Thorbecke wieder mit
der Bildung eines Ministeriums beauftragt. Unter ihm wurde die Accise gänzlich abgeschafft und kam ein
Gesetz über den mittlern Unterricht zu stande das eine bedeutende Neuschöpfung bezweckte, da vorher in den
Niederlande fast keine mittlern Schulen vorhanden waren. Zuletzt aber verursachte die Kolonialpolitik eine Spaltung im Ministerium
selber.
Allmählich hatte bei den Liberalen die Überzeugung Eingang gefunden, daß das sog.
Kultursystem von van den Bosch (s. Java) sowohl drückend für die Javaner wie hemmend für eine richtige Entfaltung
der unermeßlichen Reichtümer des Landes wirkte. Der Kolonialminister Fransen van de Putte brachte nun ein sog. Kulturgesetz
ein, welches Thorbecke zu eingreifend schien, weshalb er zurücktrat. Darauf bildete van de Putte mit Geertsema
ein neues Ministerium (April 1866), das aber, als die Kammer das Kulturgesetz verworfen hatte, ebenfalls zurücktreten mußte.
Auf dieses folgte ein konservatives Kabinett unter van Zuylen und Heemskerk, das bald nach der Eröffnung der Kammern
mit der liberalen Majorität in Konflikt kam, so daß die Auflösung der Kammern folgte
Zu Anfang 1867 ließ sich das Kabinett verleiten, sich in die das Königreich keineswegs berührende Luxemburgische Frage
zu mischen. Schon hatte Frankreich seinen Gesandten im Haag beauftragt, nicht nur gemeinsam mit dem König-Großherzog
die Räumung der Festung Luxemburg seitens Preußens zu betreiben, sondern direkt die Abtretung des Landes an Frankreich anzuregen,
und im März einigten sich in der That der König-Großherzog und Napoleon Ⅲ. über den Verkauf Luxemburgs an Frankreich.
Darauf folgte 1. April eine Interpellation Bennigsens im Norddeutschen Reichstage und Bismarcks Antwort, daß
Preußen diese Abtretung nicht dulden könne. Auf einer im Mai nach London berufenen Konferenz wurde die Sache dahin beigelegt,
daß Luxemburg bei den Niederlande verblieb, Preußen sein Besatzungsrecht aufgab und die Festung geschleift wurde.
Das Budget der auswärtigen Angelegenheiten wurde in der nächsten Session verworfen, worauf die
Kammer zum zweitenmal aufgelöst wurde. Die Neuwahlen ergaben abermals eine kleine
mehr
liberale Majorität. Nachdem 28. April das Budget van Zuylens abermals verworfen war, reichten die Minister ihre Entlassung ein,
die der König annahm; nun wurde Thorbecke 23. Mai mit der Bildung eines Kabinetts beauftragt. Dieses kam 2. Juni zu stande. Einen
wichtigen parlamentarischen Sieg erfocht das Ministerium mit der von ihm durchgesetzten Abschaffung der
Todesstrafe. 1870 wurde ein Gesetz des Kolonialministers de Wael angenommen, wonach Niederländer und alle in Indien Ansässigen
anderer Nationalität die unbebauten sog. wüsten Gründe, die als Staatsdomänen gelten, auf 75 Jahre in Erbpacht erwerben
können.
Ein anderes, ebenfalls angenommenes Gesetz betraf die Regierungszuckerkultur; diese sollte allmählich eingeschränkt
werden und nach 20 Jahren vollständig aufhören. Von dem Kultursystem blieb demnach nur die Kaffeekultur übrig. Im Jan. 1871 bildete
Thorbecke zum drittenmal ein Kabinett. Dies mußte aber bereits im Mai 1872 zurücktreten, nachdem es bei der Verhandlung eines
Gesetzentwurfs zur Einführung einer Einkommensteuer eine Niederlage erlitten hatte. Noch während der
darauf folgenden Ministerkrisis starb Thorbecke 4. Juni.
Bei dem plötzlichen Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges von 1870 und 1871 erklärte sich die niederländ. Regierung
bereits 15. Juli für neutral. Im Dez. 1871 kam die Abtretung der holländ. Besitzungen an der Westküste von Afrika (Guinea) an
England zu stande. 1873 begann ein Krieg mit dem Reiche Atschin auf Nordsumatra, der bedeutende Opfer an
Mannschaft und Geld erforderte (s. Atschin). Im April 1876 gelang es dem gemäßigt konservativen Ministerium Heemskerk, ein
Gesetz über den höhern Unterricht durchzubringen.
Das liberale Kabinett Kappeyne van de Coppello, das nach Heemskerk auftrat, brachte 1878 eine Revision
des Schulgesetzes von 1857 zu stande, das den Unterricht und die Lage der Lehrer zu verbessern bezweckte. Der Justizminister
Modderman erwarb sich 1881 (im Ministerium van Lynden, das keinen scharf ausgeprägten polit. Charakter hatte) großes Verdienst
durch die Vorlage eines neuen Strafgesetzbuchs, das von den Generalstaaten auch genehmigt wurde.
Unterdessen hatte sich die Stellung der Parteien bedeutend geändert. Die Antirevolutionären (d. h. streng
reformierten) wuchsen besonders durch ihre Opposition gegen die konfessionslose Schule; sie errichteten aus privaten Mitteln
sog. «Schulen mit der Bibel» und beklagten sich, daß sie die «gottesdienstlosen Schulen»
ihrer Gegner, die aus öffentlichen Kassen unterhalten wurden, mit zu bezahlen hatten. Die Katholiken,
Thorbeckes ehemalige Bundesgenossen, hatten sich, besonders seitdem die päpstl.
Encyklika von 1864 den Liberalismus verurteilt hatte, von den Liberalen losgesagt. Sie konstituierten sich, unter Schaepmans
Führung, mehr und mehr als polit. Partei und traten mit den Antirevolutionären in die engste Verbindung. Am starb
der Kronprinz Alexander, der letzte männliche Sprosse des Hauses Oranien. Infolgedessen genehmigte die
Kammer 28. Nov. die Aufhebung des Art. 198 des Grundgesetzes, welcher die Möglichkeit irgend einer Abänderung dieses Gesetzes
während der Zeit einer Regentschaft ausschließt.
Seit April 1883 war ein Ministerium von gemäßigt liberaler Richtung unter Heemskerk (zum drittenmal
Minister) am Ruder, das besonders die auch von den Liberalen gewünschte
Verfassungsrevision vorzunehmen hatte. Die darauf
bezüglichen Gesetzentwürfe wurden der Kammer überreicht. Die Beratung begann mit dem auf den Unterricht
bezüglichen Abschnitte des Grundgesetzes. Als darüber keine Einigkeit erreicht werden konnte, wurde die
Zweite Kammer aufgelöst und Neuwahlen auf 22. Juni ausgeschrieben.
Diese hatten das Ergebnis, daß 47 Liberale und 39 Ultramontane und Antirevolutionäre gewählt wurden. Im Juli 1886 entstand
in Amsterdam große Unzufriedenheit unter dem niedern Volk, weil die Polizei das barbarische Volksvergnügen des Aalziehens
verboten hatte. Diese Stimmung benutzten die Socialisten, um die Menge gegen die Behörden aufzureizen.
Am 25. und 26. Juli kam es zu blutigen Konflikten; die Bewegung wurde militärisch unterdrückt. Aber auch in den Niederlande wurde die
Notwendigkeit einer Arbeitergesetzgebung anerkannt, und wurde von der Zweiten Kammer eine aus Mitgliedern aller
Parteien bestehende parlamentarische Untersuchungskommission eingesetzt. Die großen Übelstände, die
durch sie zu Tage kamen, riefen eine allgemeine Entrüstung hervor. Zu gleicher Zeit wurden endlich auch die Beratungen über
die Verfassungsrevision zu Ende geführt, und wurde das neue Grundgesetz öffentlich verkündigt. ^[]]
Die ersten darauf folgenden Wahlen (März 1888) brachten den verbündeten Ultramontanen und Antirevolutionären
die Mehrheit in der Zweiten Kammer (54 gegen 45 Liberale); auch wurde zum erstenmal ein Socialdemokrat gewählt, Domela Nieuwenhuis.
Die von den Provinzialstaaten gewählte Erste Kammer blieb nach wie vor, auch nach den Ersatzwahlen vom Mai 1889, überwiegend
liberal. Das Kabinett Heemskerk trat der neuen Zweiten Kammer gegenüber zurück, und Mackay bildete April 1888 ein
neues Ministerium hauptsächlich aus gemäßigtern Männern der kath. und antirevolutionären
Partei.
Bald wurde von dem neuen Kabinett eine Kommission aus Männern aller Parteien ernannt, welche über eine neue Heeresverfassung
beraten sollte. Diese entschied sich im Sinne der allgemeinen Wehrpflicht. Auch wurde infolge der vorjährigen
parlamentarischen Untersuchung ein Gesetzentwurf gegen übermäßige und gefährliche Arbeit von Frauen und jugendlichen Personen
angenommen. 1889 mußte wegen einer gefährlichen Erkrankung des Königs der Staatsrat die Ausführung der königl.
Gewalt übernehmen (4. April bis 2. Mai). Die Hauptaufgabe des Kabinetts war die Abstellung der Beschwerden, die
von der eigenen Partei so lange in betreff des öffentlichen Unterrichts erhoben worden waren. Ein Gesetzentwurf wurde eingebracht,
wonach auch konfessionelle Privatschulen Staatssubsidien erhalten könnten. Mit Hilfe von 17 Liberalen wurde dieser Entwurf
von der Zweiten und mit einer bedeutenden Majorität von der Ersten Kammer genehmigt
Am starb König Wilhelm Ⅲ.; in den Niederlande folgte ihm seine Tochter Wilhelmina unter Vormundschaft ihrer Mutter, der
Königin Emma (s. d.), in Luxemburg, wo die weibliche Erbfolge nicht gestattet
ist, Herzog Adolf von Nassau. Inzwischen wurde vom Kriegsminister Bergansius ein Gesetzentwurf zu einer ganz neuen Heeresverfassung
mit völliger Abschaffung des Stellvertretungssystems und Vermehrung der Armee bis auf 116000 Mann eingebracht.
In der Kammer war die große
mehr
Mehrheit für die Abschaffung der Stellvertretung, mehrere Liberale aber waren gegen die bedeutende Erhöhung der Militärausgaben,
während viele Antirevolutionäre wegen ihrer Bundesgenossenschaft mit den Ultramontanen nicht bestimmt für den Entwurf einzutreten
wagten. Die während der Beratung des Entwurfs stattfindenden Wahlen im Juni 1891 brachten den Liberalen eine Mehrheit von etwa 55 gegen 45 Stimmen.
Das Kabinett mußte zurücktreten, die Beratungen über die Heeresverfassung wurden aufgehoben. Der Bürgermeister von Amsterdam,
van Tienhoven, wurde mit der Bildung eines liberalen Kabinetts beauftragt. Das neue Ministerium trat (Sept. 1891) vor die Kammer
mit einem Programm, das Steuerreform und endgültige Regulierung des Wahlrechts ankündigte.
Die Einführung einer progressiven Vermögenssteuer wurde von den beiden Kammern genehmigt (Sept.
1892); ebenso 1893 Entwürfe zur Abschaffung der ungleichmäßig drückenden Gewerbesteuern und Einführung einer progressiven
Einkommensteuer für Einkünfte aus gewerblicher und amtlicher Thätigkeit, aus Pensionen u. a.
(Okt. 1893). Die inzwischen eingebrachte Wahlreform des Ministers des Innern, Tak van Poortvliet, fand
die vom Grundgesetz für die Wahlbefugnis erheischten Bedingungen des Wohlstandes und der Fähigkeit in einem während einer
bestimmten Zeit von jeder eigentlichen Alimentation unabhängigen Lebensführung.
Bei den Beratungen darüber wurde im März 1894 ein von dem Abgeordneten Meyier eingebrachtes Amendement, welches in guten Wohnungsverhältnissen
ein Wahrzeichen des Wohlstandes suchte, mit 57 gegen 41 Stimmen angenommen. Nun aber wurde der Gesetzentwurf
zurückgezogen und bald darauf wurden die Kammern aufgelöst. Infolgedessen trat der Minister des Auswärtigen van Tienhoven
zurück und es lösten sich fast alle bisherigen Parteiverhältnisse. Die Wahlen brachten den Gegnern Taks eine Mehrheit von 54 gegen 46 Stimmen.
Das Kabinett Tak nahm seine Entlassung. Ein neues von Roël gebildetes Ministerium trat ins Amt. 1895 brachte
die Regierung ein Gesetz ein zur gründlichen Änderung der Personalsteuer und ein neues Wahlgesetz. Ersteres wurde nach langer
Beratung im Jan. 1896 angenommen, jedoch mit der Klausel, daß über die Zeit der Einführung erst bei
einer spätern gesetzlichen Bestimmung entschieden werden soll. Das neue Wahlgesetz macht im Gegensatz zu dem Entwurf des Ministeriums
Tak van Poortvliet die Ausübung des Wahlrechts von sehr bestimmten Kennzeichen eines bürgerlichen Wohlstandes und der Bildung
abhängig.
Die Wähler müssen 25 Jahre alt sein und im abgelaufenen Amtsjahre zu den direkten Steuern beigetragen
haben. Außerdem giebt Wahlberechtigung der Nachweis:
1) daß man vom 1. Aug. bis 31. Jan. dieselbe Wohnung bewohnt und ein bestimmtes Minimum von Miete bezahlt hat, 2)
daß man vom 31. Jan. an 13 Monate lang rückwärts sich in derselben Stellung befunden und ein gewisses Minimum von Einkommen
bezogen hat, 3) daß man seit 1 Jahre für nominal 100 Fl. Staatsgläubiger ist oder 50 Fl. in der Postsparkasse hat, 4) daß
man die zur Bekleidung eines Amtes oder Ausübung eines Berufes vorgeschriebene Prüfung bestanden hat. Es wurde nach langen
Beratungen 19. Juni von der 2. Kammer mit 56 gegen 43 Stimmen angenommen, so daß nun doppelt so viele Wähler
als bisher das aktive Wahlrecht erhalten. Ein Gesetzentwurf wegen Erhöhung der ind. Ausfuhrzölle um
2 Proz. wurde von den
Kammern abgelehnt, dagegen ein solcher, der die Umwandlung der 3½prozentigen Nationalschuld im Betrage von 375 Mill. Fl.
in eine zu 3 Proz. fordert, angenommen. ^[]
In Ostindien entstanden gefährliche Wirren. Die Eingeborenen der Insel Lombok wurden seit langer Zeit von ihrem einst von
der benachbarten Insel Bali überkommenen Nebenherrscher gewaltsam unterdrückt. Als der Sultan die wiederholten Mahnungen der
niederländ. Regierung nicht beachtete, ließ diese im Juli 1894 eine Expedition unter
General Vetter auf der Insel landen, die jedoch in der Nacht vom 25. zum 26. Aug. überfallen und unter großen Verlusten geschlagen
wurde; doch besetzten die Holländer Arung und bombardierten die Hauptstadt Mataram.
Die Flotte wurde verstärkt, und 8. Sept. ging die erste Expedition freiwilliger Soldaten von Amsterdam nach Lombok
ab. Im weitern Verlaufe des J. 1894 wurde nach der Erstürmung von Mataram (29. Okt.), Tjakra-Negara (18. Nov.) und Topati (27. Nov.), wo
der Sohn des gefangenen Sultans mit seinen Getreuen nach verzweifelter Gegenwehr fiel, der Krieg mit der vollständigen Niederwerfung
der Balierdynastie beendet. Ende März 1896 entbrannte in Atschin der Krieg aufs neue, zumal da ein verbündeter
atschinesischer Häuptling, Tuku Omar, sich von den Niederlande lossagte. Die vorgeschobenen niederländ.
Stellungen, die in große Gefahr gerieten, wurden bald von General Vetter entsetzt, und der Krieg gegen die Abtrünnigen in der
Hauptsache rasch zu Ende geführt, so daß General Vetter mit einem Teil der Truppen 28. Juni nach Batavia zurückkehren
konnte. An seine Stelle trat General de Moulin, der aber bereits 7. Juli am Sonnenstich fiel und durch Oberst Stemfort ersetzt
wurde.
Litteratur zur Geschichte. Von den Werken holländ. und belg.
Verfasser sind, außer den ältern von Hooft, Hugo Grotius, Brandt, Aitzema u. a., hervorzuheben: Wagenaar,
Vaderlandsche historie (21 Bde., Amsterd. 1749 u. ö.);
Stijl, Opkomst en Bloei der vereenigde Nederlanden (ebd. 1794 u.ö.);
Kluit, Historie der Hollandsche staatsregeering (5 Bde.,
ebd. 1802‒5);
Bilderdijk, Geschiedenis des vaderlands (hg. von Tijdeman, 13 Bde.,
ebd. 1839‒53);
van Kampen, Verkorte geschiedenis der Nederlanden (3. Aufl., 2 Bde.,
Haarl. 1837‒39);
Groen van Prinsterer, Handboek der geschiedenis van het vaderland (4. Aufl., 4 Bde.,
Amsterd. 1875);
Juste, Histoire de la révolution des Pays-Bas sous Philippe Ⅱ (2 Bde., Brüss.
1855);
ders., Histoire du soulèvement des Pays-Bas contre la domination espagnole (2 Bde., ebd. 1862‒63);
Arend, Algemeene geschiedenis des vaderlands (fortgesetzt von van Rees, Brill und van Vloten, Tl. 1‒5, Amsterd.
und Leid. 1849‒83);
van Vloten, Nederlands Opstand tegen Spanje (3 Bde., Haarl.
1858‒60; neue Ausg., Rotterd. 1872);
Fruin, Tien jaren uit den tachtigjarigen oorlog (4. Ausg., Haag 1889);
Hofstede de Groot,
Honderd jaren uit de geschiedenis der hervorming in de Nederlanden 1518‒1619 (Leid. 1884; deutsch von
Greeven, Gütersl. 1893);
P. L. Muller, De Staat der vereenigde Nederlanden 1572‒94 (2. Aufl., Haarl. 1878);
Wicquefort, Histoire des Provinces.
Unies des Pays-Bas (4 Bde., Amsterd. 1865‒75):
de Bosch-Kemper, Staatkundige geschiedenis van Nederland tot 1830 (ebd. 1868);
ders., Geschiedenis van Nederland van 1830 (5
Bde., ebd. 1873
mehr
‒82); Wijnne, Geschiedenis van het vaderland (2 Bde., 7. Aufl.,
Gron. 1886);
Busken Huet, Het land van Rembrandt (3 Bde., 2. Aufl.,
Haarl. 1888);
Blok, Geschiedenis van het Nederlandsche volk (Bd. 1 und 2, Gron.
1892‒93);
Legrand, Geschiedenis der Bataafsche republiek (Arnheim 1895);
Waddington, La république des Provinces unies, la
France et les Pays-Bas esapgnoles de 1630 à 1650 (Bd. 1, Par.
1895).
Von Werken in deutscher und engl. Sprache sind zu nennen: Van Kampen, Geschichte der Niederlande (2 Bde., Hamb. 1831‒33);
Leo, Zwölf Bücher niederländ. Geschichten (2 Bde., Halle 1832‒35), welches Werk die mittelalterliche Geschichte umfaßt;
Motley, Rise of the Dutch Republic (3 Bde.,
Lond. 1856; deutsch, 3 Bde., Dresd. 1857‒60);
ders., History of the United Netherlands (4 Bde., Lond.
1860‒68);
Wenzelburger, Geschichte der Niederlande (2 Bde., Gotha
1879‒86).