Nibelungenlied
oder, wie der Name ursprünglich lautete, der Nibelunge Nôt, die bedeutendste Schöpfung der deutschen Volksepik; es gehört in seinen besten Teilen zu den bedeutendsten Dichtungen der Weltlitteratur. Das Gedicht erzählt, wie Siegfried, der Sohn König Siegmunds, der lichte, milde Held, aus Xanten nach Worms [* 2] zieht, wo der Burgunderkönig Gunther mit seinen Brüdern Gernot und Giselher und seiner schönen Schwester Kriemhild wohnt. Diese erhält er zum Weibe, nachdem er für Gunther die starke Jungfrau Brünhild (Prünhilt), die Herrin von Island, [* 3] mit Hilfe der Kraft [* 4] und Unsichtbarkeit verleihenden Tarnkappe (des Hehlmantels) erworben hat. In einem Streite der beiden Frauen über Rang und Wert ihrer Gatten verrät aber Kriemhild unvorsichtig, wie Brünhild durch Siegfried für Gunther bezwungen worden sei.
Diese sinnt auf Rache und läßt den ahnungslosen Siegfried durch den grimmen Hagen [* 5] von Tronege auf einer Jagd ermorden. Bei der Bestattung verraten nach altem Bahrrecht die fließenden Wunden den Mörder; aber Kriemhild verschließt ihre Rache und lebt lange Jahre zu Worms in tiefer Trauer, oft gekränkt durch Hagen, der auch den Nibelungenhort, den unermeßlichen Schatz, den Siegfried einst den fernen dämonischen Nibelungen abgenommen hatte, heimlich in den Rhein versenkt, wo er noch bis auf diesen Tag begraben liegt. Da kommt Markgraf Rüdiger von Bechelaren, für König Etzel (Attila) von Hunnenland (Ungarn) [* 6] um Kriemhilds Hand [* 7] zu werben, und Kriemhild, jetzt der Rache gedenkend, nimmt die Werbung an. Als Etzels Weib ladet sie die seit der Gewinnung des Nibelungenhorts selbst Nibelungen benannten Burgunder, ihre Brüder und Hagen, zu einem Feste nach Hunnenland; obgleich Hagen den Verrat fürchtet, folgen sie dem Rufe. In langem, furchtbarem Kampfe fallen Gunther, Gernot und Giselher und alle die Ihren, darunter der edle Fiedler Volker von Alzei, aber auch von Etzels Seite der treue Rüdiger von Bechelaren und die Helden Dietrichs von Bern, [* 8] der gerade an Etzels Hofe weilt. Zuletzt schlägt Kriemhild selbst dem von Dietrich gefangenen, einzig übrigen Hagen mit Siegfrieds Schwerte das Haupt ab; ergrimmt tötet Dietrichs treuer Dienstmann, der alte Hildebrand, auch sie. Das Heldenzeitalter ist zu Ende.
Das Nibelungenlied ist in Inhalt und Form das Ergebnis einer langen Entwicklung. Den Kern der Nibelungensage bildete wohl ein alter Mythus, der noch in heutigen Märchen (z. B. Dornröschen) durchschimmert: der Lichtheld und Drachentöter Siegfried befreit die Walküre Brünhild aus leuchtender Lohe, gerät in die Bande einer Nachtdämonin Grimhild und ihrer Brüder, der Nibelungen, denen er einst ihren Schatz entwandt hat, und geht durch sie zu Grunde. Mit diesem Mythus verband sich auf fränk. Boden im 5. Jahrh. eine histor.
Sage, die den geschichtlichen Untergang des Burgunderkönigs Gundahari (Günther) und seiner Brüder durch die Hunnen (437) zur Grundlage hat und auch Attilas Tod sagenhaft gemodelt in sich schloß. Nach wechselnden Gestaltungen dieser Verbindung, an denen auch Norddeutschland und in eigentümlicher Sonderentwicklung der skandinav. Norden [* 9] teilnahm, festigte sich auf süddeutschem Gebiete, wo aus Grimhild «Kriemhilt» wurde, eine Auffassung, nach der jenes Geschick der Burgunder die Rache der Witwe Siegfrieds an den eigenen Brüdern war, und die immer mächtiger wachsende Gestalt dieser Witwe, der Kriemhild, für die vielleicht Frauengestalten der merowing.
Geschichte (Chrodihildis) als Muster dienten, verdunkelte völlig die einst weit heldenhaftere der Brunhild; andererseits bildet sich der eigentliche Mörder Siegfrieds, Hagen, der Vasall (nach andern Versionen Stiefbruder oder Bruder) der Burgundenkönige, für die er Siegfried mordet, zu einem wundervollen Typus unheimlicher, hab- und machtgieriger, aber bewundernswerter Vasallentreue aus. Diese große Sageneinheit rundet sich dann mehr und mehr durch Aufnahme von Nebenfiguren cyklisch ab; so zieht sie den berühmten Gotenhelden Dietrich von Bern, einen wahrscheinlich histor. Grafen der Ostmark, Rüdiger, den aus einer Wappensage erwachsenen kühnen Spielmann Volker von Alzei, den mythischen Iring, den letzten Thüringerkönig Irnfried (Ermanfrid) und viele andere in ihre Kreise. [* 10] -
Vgl. Lachmann, Kritik der Sage von den Nibelungen (im «Rheinischen Museum», Bd. 3);
Müllenhoff in der «Zeitschrift für deutsches Altertum», Bd. 10 u. 23; Heinzel, Über die Nibelungensage (Wien [* 11] 1885).
Verbreitet wurde diese Sage in kurzen Einzelliedern (ursprünglich in allitterierenden, später in reimenden Strophen), die ein einzelnes Moment der Sage für sich besangen und das andere voraussetzten, einen einzelnen Helden sympathisch in den Vordergrund rückten, andere fallen ließen, und die natürlich nicht immer auf derselben Auffassung der Gesamtsagen beruhten. Solche Balladen, zum Teil wirklich zum Tanze gesungen, sind, wie sie aus dem skandinav. Norden, namentlich von der Insel Hven und den Färöer wirklich erhalten sind, so auch für Nord- und Süddeutschland im 12. Jahrh. bezeugt und behandelten z. B. Siegfrieds Drachenkampf, seinen Tod, Kriemhilds Verrat an den Brüdern u. s. w. Als das ritterliche Kunstepos aufkam, hat Ende des 12. Jahrh. ein unbekannter Dichter (nicht der Kürenberger oder Heinrich von Ofterdingen) eine Reihe solcher Lieder überarbeitet und zu einem Epos vereinigt, indem er in ihnen allen die Nibelungenstrophe (s. d.) in gleicher Technik durchführte, die auffälligsten Widersprüche ausglich, nach Bedarf fortließ und Lücken füllte und der Zeitmode gemäß Schilderungen aus dem höfischen Leben einfügte; eine wirkliche Einheit herzustellen, ist seinem reichen Talent nicht gelungen; der Wechsel zwischen Heidnischem und Christlichem, die starken Gegensätze der bald hart thatsächlichen, bald pathetisch-dramatischen, bald weich verschwommenen, bald redselig platten Darstellung, die jähen Unterschiede in der Auffassung der Charaktere, das Zurücktreten und Wiederauftauchen der einzelnen Helden, die Schwankungen zwischen höchstem poet. Können und elendester Reimerei lassen noch heute die Nähte der verschiedenen Quellen annähernd erkennen.
Das Nibelungenlied ist in mehr als 30 Handschriften überliefert; die wichtigsten sind: A aus Hohenems jetzt in München; [* 12]
hg. von Laistner u. d. T. «Berühmte Handschriften des Mittelalters in phototypischer Nachbildung», I, Münch. 1886);
C aus Hohenems (früher in Laßbergs Besitz, jetzt in Donaueschingen);
alle drei, stark durch Interpolationen entstellt, haben ihre Gestalt erst nach dem Erscheinen von Wolframs Parzival (1204) erhalten. A steht dem Original am nächsten, ist kürzer und freier von höfischen Zusätzen, aber im einzelnen fehlerhaft.
Schon im 15. Jahrh. war das Interesse für das Nibelungenlied so gering geworden, daß es eines Druckes nicht für ¶
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wert galt. Im 16. und 17. Jahrh. ist es mit wenigen Ausnahmen ganz unbekannt. Erst Bodmer gab 1757 das letzte Drittel der Handschrift C u. d. T. «Chriemhilden Rache und die Klage» in Zürich [* 14] heraus, ohne Aufsehen zu erregen. Den ersten vollständigen Abdruck besorgte C. H. Myller (Berl. 1782), in dem er Bodmers Druck aus der Handschrift A ergänzte. Bekanntlich äußerte sich Friedrich d. Gr. sehr absprechend über das Gedicht, Goethe sah das ihm geschenkte Exemplar nicht einmal an; dagegen urteilte der Historiker Johannes Müller verständig darüber und Joh. Heinr. Voß las es mit seinen Schülern in Eutin.
Die Teilnahmlosigkeit hörte auf, als die Romantische Schule die Liebe für das deutsche Mittelalter, der Druck der Fremdherrschaft und die Befreiungskriege den deutschen Patriotismus neu belebten. Eine kritische Ausgabe versuchte F. H. von der Hagen (Berl. 1810; 2. Ausg. 1816) und Zeune gab den deutschen Jünglingen eine «Feld- und Zeltausgabe» (ebd. 1815) in den Krieg mit. Aber die wissenschaftliche Erforschung des Gedichts begann erst mit Karl Lachmanns epochemachender Schrift «Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelunge Not» (Berl. 1816). Durch F. A. Wolfs Homerische Forschungen angeregt, versuchte er mit feinem Stilgefühl und schärfster Methode zwanzig alte Volkslieder aus der Handschrift A auszulösen; die übrigen Strophen hielt er teils für Füllstrophen des Ordners, teils für spätere Einschiebsel. Auf diesen Ansichten beruht seine kritische Ausgabe (Berl. 1826 u. ö.), die er in seinen Anmerkungen «Zu den Nibelungen und zur Klage» (ebd. 1836) im einzelnen rechtfertigte. In seinen spätern Ausgaben unterschied er die alten und die unechten Strophen schon im Druck; die nach Lachmanns Kritik echten Lieder gab Hahn [* 15] (Prag [* 16] 1851) besonders heraus. Einen scharfen Angriff erfuhr Lachmanns Theorie durch Ad. Holtzmanns «Untersuchungen über das Nibelungenlied» (Stuttg. 1854),
die C für die beste Handschrift erklärten und damit über Lachmanns Einzellieder den Stab [* 17] brachen; Holtzmann wurde durch Zarncke in der Schrift «Zur Nibelungenfrage» (Lpz. 1854) unterstützt. Auf Lachmanns Seite trat Müllenhoff in seiner Schrift «Zur Geschichte der Nibelunge Not» (Braunschw. 1855). Auch die dritte Handschrift fand ihren Anhänger in Bartsch («Untersuchungen über das Nibelungenlied», Wien 1865); seine Ansicht hat heute auch die frühern Anhänger von C für sich gewonnen. Jedenfalls hat der Widerspruch gegen Lachmann erwiesen, daß dieser viel zu viel unternahm, als er die alten Lieder glaubte Strophe für Strophe herausschälen zu können.
Neben Lachmanns Ausgabe (nach A) sind zu nennen die von Zarncke (nach C, mit wertvoller Einleitung; 6. Aufl., Lpz. 1887; Schulausg. 1894) und von Bartsch (nach B, mit Wörterbuch, ebd. 1870-80), der auch eine Ausgabe mit erklärenden Anmerkungen lieferte (6. Aufl., ebd. 1886); Übersetzungen von Simrock (Berl. 1827 u. ö.), von Bartsch, Adalb. Schröter u. a. Die Litteratur stellte zusammen Zarncke in der Einleitung seiner Ausgabe und R. von Muth, Einleitung in das Nibelungenlied (Paderb. 1877); eine zusammenfassende Darstellung der wissenschaftlichen Ergebnisse versuchte Lichtenberger, Le [* 18] poème et la légende des Nibelungen (Par. 1891); ein Specialwörterbuch veröffentlichte Lübben [* 19] (3. Aufl., Oldenb. 1877).
Dramatisch ist der Nibelungenstoff behandelt worden von Raupach, Geibel, Hebbel, dramatisch-musikalisch von Rich. Wagner, episch von Wilh. Jordan.
Berühmt sind die Nibelungenfresken (19 Wandbilder in 5 Sälen) im Königsbau zu München, 1846-67 von Julius Schnorr von Carolsfeld gemalt.