mehr
es bedenklich, der Zufertigung eines Ehescheidungsbriefes, wie sie nach dem
Rechte des
Talmud genügen würde, Wirkungen auf dem
Gebiete des bürgerlichen
Rechts beizulegen. Das geltende
Recht kennt ferner auf dem Gebiete des ehelichen Güterrechts und
des
Erbrechts noch
Abweichungen für
Bekenner des jüd.
Glaubens. Zwar wird von einigen behauptet, diese
hätten mit Geltung des Reich
sgesetzes vom ihre Bedeutung verloren, indessen wird diese
Auffassung keineswegs von
allen namhaften Rechtslehrern gebilligt.
Insbesondere findet die allgemeine Gütergemeinschaft nach der Bentheimschen Hof- und Landgerichtsordnung von 1690, nach der Münsterschen Polizeiordnung und in Teilen von Mecklenburg-Strelitz sowie nach einigen andern Rechten für J. nicht Anwendung. In Bayern [* 2] ist jedoch nach dem Gesetz vom Art. 1 in Ansehung des ehelichen Güterrechts das für Christen geltende bürgerliche Recht anzuwenden. Nicht unbestritten ist die Beseitigung der Abweichungen für J. in Hohenzollern-Hechingen, in der Stadt Hildesheim [* 3] und in einigen andern Rechtsgebieten.
Einzelne Gesetze haben ausdrücklich ausgesprochen, daß in Ansehung der zur Zeit der Erlassung des betreffenden Gesetzes bestehenden Ehen von J. das jüdische eheliche Güterrecht anzuwenden sei, z. B. schleswigsche Verordnung vom und holstein. Gesetz vom Das Sächs. Bürgerl. Gesetzb. §. 1617 schloß noch Ehen zwischen Christen und Personen, welche sich nicht zur christl. Religion bekennen, aus, ebenso das Preuß. Allg. Landr. II, 1, §§. 36, 939 Ehen mit solchen, welche nach den Grundsätzen ihrer Religion gehindert werden, sich den christl. Ehegesetzen zu unterwerfen. Für Preußen [* 4] wurde das Ehehindernis durch das Gesetz vom §. 56 beseitigt. (Vgl. Stobbe, Handbuch des deutschen Privatrechts, 2. Aufl., Berl. 1882, Bd. 1, §. 46; Roth, System des deutschen Privatrechts, Tüb. 1880, Bd. 1, §. 69.)
Österreich-Ungarn [* 5] hat in seinem Staatsgrundgesetz vom die Unabhängigkeit der Ausübung bürgerlicher und polit. Rechte vom Glaubensbekenntnis festgestellt; doch enthält das Österr. Bürgerl. Gesetzbuch in den §§. 123-136 ein besonderes Eherecht für J. im Anschlusse an den Talmud. Auch die neueste Verfassung des Osmanischen Reichs hat die Emancipation der J. ausgesprochen, kann aber in diesem Punkte kaum zur Durchführung gelangen. In sämtlichen Kulturländern Europas und Amerikas hat sich die Gleichstellung der J. vollzogen. Unter Ausnahmegesetzen stehen sie noch in Rußland und Rumänien, [* 6] wo die Bestimmungen des Berliner [* 7] Vertrags von 1878 über Gleichstellung aller Unterthanen noch nicht zur Ausführung gekommen sind.
In der neuesten Zeit waren die J. mehrfachen Verfolgungen durch den Pöbel ausgesetzt, namentlich (1881)
in den östl. und südöstl. Gouvernements von
Rußland (vgl. Les Juifs de la Russie, Par. 1891), sodaß
sie zahlreich
nach
Amerika,
[* 8] besonders nach
Argentinien, auswanderten, wo durch
Baron M. von Hirsch
[* 9] ihnen ein
Asyl bereitet wurde.
In
Ungarn
[* 10] fand eine Judenhetze durch Erneuerung der Blutbeschuldigung statt (Prozeß von
Tisza Eszlar 1882; vgl. P. Nathan,
Der Prozeß von
Tisza Eszlar, Berl. 1892; H.
Strack, Der Blutaberglaube, 4. Aufl.,
Münch. 1892). Zur antisemit.
Bewegung in
Frankreich vgl. E. Drumont, La
France juive (Par. 1887 u. ö.), und
dagegen
Leroy-Beaulieu, Israël chez les nations
(2. Aufl., ebd. 1893). Auch
Deutschland
[* 11] war seit 1880 der Schauplatz einer lebhaften antisemitischen
Bewegung, als deren
Wortführer namentlich Hofprediger
Stöcker in
Berlin
[* 12] auftrat (vgl. H.
Strack, Herr
Adolf
Stöcker, 2. Aufl., Karlsr. 1886) und
die zur
Bildung von antisemit.
Vereinen in vielen Orten Deutschlands [* 13] führte. (S. Antisemitismus, Christlich-sociale Partei, Deutsch-sociale antisemitische Partei.) Im Deutschen Reichstage kam anläßlich einer Interpellation die Judenfrage zur Sprache, [* 14] bei welcher Gelegenheit die Regierung erklärte, daß sie nicht beabsichtige, eine Änderung des bestehenden Rechtszustandes, der die Gleichberechtigung der religiösen Bekenntnisse in staatsbürgerlicher Hinsicht ausspreche, eintreten zu lassen. Seitdem hat der Kampf gegen das Judentum in Deutschland unter dem Namen des Antisemitismus immer heftigere Formen angenommen. Innerlich hat sich die antisemit. Partei in eine konservative und eine radikale Richtung gespalten. - Zum Schutz der Rechte der J. und zur Unterstützung armer Gemeinden ist 1860 die Alliance Israélite Universelle (s. d.) zusammengetreten, die ihren Sitz in Paris [* 15] hat.
Die Gesamtzahl der J. auf der ganzen Erde wird auf 7 ½ Mill. veranschlagt. Nach den neuesten Zählungen und Schätzungen kommen auf Europa: [* 16] Russisches Reich 3236000 (davon auf Polen 815433), auf Österreich [* 17] (1890) 1141615, Ungarn (1890) 725222, Deutsches Reich (1890) 567884 (davon auf Preußen 372059), europ. Türkei [* 18] 94600, Niederlande [* 19] (1889) 97274, Großbritannien [* 20] und Irland (1881) 50000, Frankreich 50000, Italien [* 21] 38000, Schweiz [* 22] (1888) 8384, Belgien [* 23] 3000, Dänemark [* 24] (1890) 3946, Schweden [* 25] (1890) 2993, Norwegen (1891) 34, Spanien [* 26] 6900, Griechenland [* 27] 5800, Rumänien 400000, Serbien 3492, Bulgarien 24352, Bosnien [* 28] 6000, Portugal 300, Luxemburg (1890) 1009;
Asien: [* 29] Afghanistan [* 30] 1400, Britisch-Indien 1000, Palästina [* 31] 50000, überhaupt etwa 294000;
Afrika: [* 32] Abessinien und Marokko [* 33] je 200000, Ägypten [* 34] 8000, Algerien 48500, Tunis 45000, überhaupt etwa 507500;
Amerika: Vereinigte Staaten 230000, überhaupt etwa 300000;
Australien [* 35] 16000. Das «Annuaire des archives israélites» für 1892 giebt als Gesamtzahl 6337000 an, darunter für Europa 5415000, Asien 310000, Afrika 350000, Amerika 250000 und Australien 12000.
Neuerdings sind interessante Untersuchungen über die Rassenfrage, die im gegenwärtigen Antisemitismus (s. d.) bekanntlich eine weit bedeutendere Rolle spielt als die der Religion, geführt worden.
Vgl. darüber M. Alsberg, Die Rassenmischung im Judentum (Hamb. 1891), und J. ^[oder I. - nicht eruierbar] Babad (im «Ausland», 1891, Nr. 42, 43).
Vgl. über die Geschichte und Verfassung der J. außer den Schriften des Josephus (s. d.) und den oben angeführten Monographien die Werke von Zunz, Jost, Graetz und Cassel; ferner S. Cassels Artikel «Juden» in der «Allgemeinen Encyklopädie» von Ersch und Gruber (Sekt. II, Bd. 27);
A. Geiger, Das Judentum und seine Geschichte (3 Bde., Bresl. 1865-71);
Saulcy, Sept siècles de l'histoire judaïque (Par. 1874);
R. Andree, Zur Volkskunde der J. (Bielef. 1881);
Hecht, Handbuch der israel.
Geschichte (5. Aufl., bearb. von Kayserling, Lpz. 1884);
F. Bosse, Die Verbreitung der J. im Deutschen Reiche (Berl. 1885);
Zeitschrift für Geschichte ¶
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der J. (hg. von L. Geiger, Braunschw. 1886 fg.);
Nossig, Materialien zur Statistik des jüd. Stammes (Wien [* 37] 1887);
W. Pressel, Die Zerstreuung des Volks Israel (5 Hefte, Heilbr. 1887-89);
M. Stern, Die israel.
Bevölkerung [* 38] der deutschen Städte (Frankf. a. M. 1890);
Otto Henne am Rhyn, Kulturgeschichte des jüd. Volks (2. Aufl., Jena [* 39] 1892);
Leroy-Beaulieu, Israël chez les nations (2. Aufl., Par. 1893);
Otto Hübners Geogr.-statist.
Tabellen aller Länder der Erde (hg. von Juraschek, Jahrg. 1893).
Dazu kommen zahlreiche
Abhandlungen der Revue des études juives (Paris); der Jewish Quarterly Review (London);
[* 40] der Monatsschrift
für Geschichte und Wissenschaft des Judentums (Krotoschin, Berlin) und des Magazins für die Wissenschaft
des Judentums (ebd.). (S. auch Judentum und Jüdische Litteratur.)