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Halle [* 2] an der Saale, früher H. in Sachsen [* 3] (Halae Saxonum) oder H. im Magdeburgischen genannt, Stadt und Stadtkreis (24,90 qkm) im preuß. Reg.-Bez. Merseburg, [* 4] liegt 51° 30' nördl. Br. und 11° 58' östl. Länge von Greenwich, in 91 m Höhe (Saalespiegel 80 m), am rechten Ufer der Saale, die westlich der Stadt zahlreiche mit Teilen der Stadt oder Wald, besonders aber mit Wiesen besetzte Inseln bildet und deren Ufer unterhalb der Stadt zwischen den Dörfern Cröllwitz und Giebichenstein schöne Felspartien (Porphyr) zeigen und mit Anlagen geschmückt sind. Der mittlere Luftdruck beträgt (1889) 753 mm, die mittlere Jahrestemperatur 8,8° C. (+31,5 Maximum, -15,8 Minimum), die Niederschlagsmenge 502 mm. (Hierzu ein Stadtplan mit Verzeichnis der Straßen und öffentlichen Gebäude.)
Bevölkerung. [* 5] In der ersten Hälfte des 19. Jahrh. bewegte sich die Einwohnerzahl zwischen 20 und 30000; erst im 5. Jahrzehnt beginnt ein allmähliches, ein- oder zweimal durch Epidemien unterbrochenes Anwachsen der Bevölkerung, welches seit 1871 infolge der Entwicklung der Eisenbahnen sich fortschreitend gesteigert hat. H. hatte 1871: 52 620, 1880: 71 484, 1885: 81 949, 1890: 101 401 (50 628 männl., 50 773 weibl.) E., d. i. eine Zunahme 1885-90 von 19 452 Personen (23,74 Proz.) oder durchschnittlich jährlich 3884 Personen. In Garnison (1254 Mann) liegen das 1. und 3. Bataillon des 36. Füsilierregiments.
Dem Religionsbekenntnis nach waren 95 494 Evangelische, 4576 Katholiken, 198 andere Christen, 78 Dissidenten, 919 Israeliten und 136 andern Bekenntnisses; der Staatsangehörigkeit nach 100 866 Deutsche, [* 6] 270 Österreicher, 22 Ungarn, [* 7] 16 Holländer, 10 Dänen, 54 Russen und 163 andere und ohne Angabe. 1890 gab es 4687 Wohnhäuser [* 8] (101 unbewohnte) mit 20 383 Familienhaushaltungen, 1750 (498 männl., 1252 weibl.) einzeln lebenden Personen und 91 Anstalten (1254 Insassen).
Geboren waren in H. 42 072, im übrigen Preußen [* 9] 49 237, im übrigen Deutschen Reiche 9239, im Auslande 846. Die Zahl der Geburten betrug 1892: 4111, (117 Totgeburten), der Sterbefälle 2391, der Eheschließungen 869, der Zugezogenen 21 815, der Abgezogenen 18 987. Rechnet man zu der Einwohnerzahl von (1890) 101 401 noch diejenige der mit der Stadt in engster Interessengemeinschaft stehenden Ortschaften Giebichenstein (14 487 E.), Trotha (3505), Cröllwitz (2161), Irrenanstalt Nietleben (980), Cementfabrik (8), Gutsgehöft Gimritz mit Peißnitz (120), Böllberg (364), Wörmlitz (913), Hallesche Firmen in Büschdorf (47) und Diemitz (977), so ergiebt sich für das wirtschaftliche Weichbild von Groß-Halle insgesamt eine Einwohnerzahl (1890) von 124 963.
Anlage. Die Stadt, welche aus der eigentlichen Stadt mit fünf Vorstädten und den beiden, erst 1817 mit ihr vereinigten Amtsstädten Glaucha und Neumarkt erwuchs, hat in den alten Stadtteilen meist winklige und enge Straßen; doch hat sich ihr Äußeres in neuester Zeit durch Regulierung der Straßen, namentlich infolge der Abtragung der mittelalterlichen Befestigungen und durch die Anlage neuer Stadtteile im Norden [* 10] und Süden bedeutend verschönert. Im Norden stößt das Weichbild der Stadt mit dem von Giebichenstein (s. d.), dessen Einverleibung geplant ist, dicht zusammen.
Gebäude und Denkmäler. Besonders zeichnet sich aus die got. Marienkirche durch ihre vier Türme und die eigentümlich schöne Bauart im Innern, 1529-54 vom Erzbischof Kardinal Albrecht von Magdeburg [* 11] und Mainz [* 12] aufgeführt;
die Ulrichskirche, die 1339 als Kirche des Servitenklosters erbaut wurde und 1531 ihren jetzigen Namen erhielt;
die Moritzkirche (12. Jahrh.);
der 1520-23 vom Kardinal Albrecht erbaute (reform.) Dom;
sonst sind hervorzuheben: der sog. Rote Turm [* 13] (15. Jahrh.) mit einem sehr alten steinernen Rolandsbilde, das altertümliche, 1883 renovierte Rathaus, das Wagegebäude und das schöne 1892 - 93 erbaute Ratskellergebäude, sämtlich am Markte, ferner die 1484-1513 erbaute Moritzburg am Paradeplatze, früher Citadelle und Residenz der Erzbischöfe und Administratoren von Magdeburg, seit dem Dreißigjährigen Kriege Ruine, das Militärlazarett, die Freimaurerloge zu den drei Degen, das neue Physikalische Institut der Universität mit großartigen Sammlungen, die Franckeschen Stiftungen (s. d.) mit dem 1829 errichteten ehernen Standbild des Gründers, die Universität (1834) mit Fresken von Spangenberg im Treppenhaus, die vier Fakultäten und berühmte Professoren darstellend, daneben das neue archäol.
Museum (nach Plänen von Hagemann, 1891 eingeweiht), das 1884-86 von H. Seeling-Berlin erbaute Stadttheater, das Gebäude der preuß. Lebensversicherung in Barockstil, die Oberpostdirektion, das Landgericht, im NW. das Diakonissenhaus, das Martinsstift, im NO. das Stadtgymnasium, die neue Universitätsbibliothek (1880), der stattliche Neubau des Oberbergamtes, die neuerrichtete Loge zu den fünf Türmen am Salzquell und im O. die ausgedehnten Backstein-Neubauten der Universitätskliniken (chirurgische, medizinische, gynäkologische, Nerven- und Irren-, Augen- und Ohrenkliniken, Anatomie, das pathol. und das physiol. Institut) inmitten schöner Gartenanlagen. Auf dem Markte erhebt sich das Standbild (1859) des in H. geborenen Händel, gegenüber ein got. Brunnendenkmal (Kriegerdenkmal von H. Stier, mit Landsknecht auf der Spitze, von F. Schaper).
Verwaltung. Die Stadt wird verwaltet (1893) von einem Oberbürgermeister (Staude, seit 1882, 12000 M.), Bürgermeister (Dr. Schmidt, 8000 M.), 15 Magistratsmitgliedern (7 besoldet) und 54 Stadtverordneten. Die Berufsfeuerwehr besteht aus einem Branddirektor, 2 Feldwebeln und 30 Feuerwehrleuten und hat 1 Dampf- und 5 andere Spritzen mit 6 Pferden und 112 Feuermelder [* 14] (42 km Leitung); die Freiwillige Feuerwehr zählt 70 Mann. Das städtische Wasserwerk (seit 1868 im Betrieb) hat ein Rohrnetz von 91,12 km und lieferte (1891) 3 653 344 cbm Wasser.
Die beiden städtischen Gasanstalten gaben (1892) 4 820 418,54 cbm Gas ab für 1850 Konsumenten (1907 Gasmesser, [* 15] 2192 öffentliche und 29 658 Privatflammen, 68 Gasmotoren mit 277 Pferdestärken). Zahlreiche Privatgebäude sowie die Bahnhofsanlagen haben elektrische Beleuchtung. [* 16] Auf dem städtischen Schlacht- und Viehhofe wurden vom 9. Jan. bis aufgetrieben 445 Stück Rindvieh, 2116 Schweine, [* 17] 447 Kälber und 1551 Hammel; geschlachtet wurden 1681 Stück Rindvieh, 5313 Schweine, 3828 Kälber, 3376 Hammel und 163 Pferde. [* 18] ¶
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679 Finanzen. Der Haushaltplan (1893/94) schließt ab in Einnahme mit 3 851000 M., Ausgabe mit 3 851000 M. Die Schulden betragen 11 875 455,46 M., das Vermögen 17 573 157,27 M. Für Unterrichtszwecke werden aufgewendet rund 381 500 M., für Wohlthätigkeitsanstalten 28 635 M., für Armen und Krankenwesen 305 957 M., für Straßenreinigung [* 20] und -Sprengung (400000 qm Straßenfläche, mittels 10 Sprengwagen = 30000 cbm Wasser pro Jahr) 45 870 M., für öffentliche Beleuchtung 183 460 M., für Sicherheitszwecke 193 100 M.
Behörden. H. ist Sitz des Landratsamtes des Saalkreises, eines Landgerichts (Oberlandesgericht Naumburg) [* 21] mit 18 Amtsgerichten (Alsleben a. S., Bitterfeld, [* 22] Cönnern, Delitzsch, [* 23] Eisleben, [* 24] Ermsleben, Gerbstedt, Gräfenhainichen, H., Hettstedt, Lauchstädt, Löbejün, Mansfeld, Merseburg, Schkeuditz, Wettin, Wippra, Zörbig) und Kammer für Handelssachen, eines Amtsgerichts, Hauptsteueramtes, Oberbergamtes für die Provinzen Brandenburg, [* 25] Pommern [* 26] und Sachsen (7 Bergreviere, 3 Berginspektionen, 3 Salzämter, 1 Bergschule, 3 Bergvorschulen), einer Oberpostdirektion für den Reg.-Bez. Merseburg mit 2695,62 km oberirdischen Telegraphenlinien (12 892,91 cm Leitungen, einschließlich 1424,49 km Stadtfernsprechanlagen) und 298 Verkehrsanstalten, eines Eisenbahnbetriebsamtes (311,28 km Bahnlinien) der königlich preuß. Eisenbahndirektion Erfurt; [* 27] Reichsbankstelle, Handelskammer und Schiedsgericht für 8 Berufsgenossenschaften zur Entscheidung von Unfallversicherungsangelegenheiten.
Unterrichts- und Bildungswesen. Die Gründung der Universität ist eine Folge der Rivalität zwischen Kursachsen und Brandenburg und des Wunsches der Hohenzollern, [* 28] neben Königsberg [* 29] noch eine luth. Hochschule zu besitzen. Die nächste Veranlassung zu der Gründung gab die Flucht des Rechtsgelehrten Christian Thomasius (s. d.) aus Leipzig, [* 30] dem eine Menge von Studierenden folgte. Er hielt im Winter 1690/91 in H. Vorlesungen und zwar in deutscher Sprache. [* 31] 1693 wurde die Universität eröffnet (kaiserl. Privilegium vom 19. Okt.) und mit der seit 1688 bestehenden Ritterakademie vereinigt. Spener (s. d.) und Veit Ludwig von Seckendorf (s. d.), des Thomasius Freunde, hatten großen Einfluß auf die Berufung der Professoren, und so wurde die neue Universität nebst den gleichzeitig entstandenen Franckeschen Stiftungen (s. d.) der Hauptsitz des Pietismus (s. Pietisten).
Diese Richtung blieb die herrschende, bis Christian von Wolf (s. d.) die Gemüter der Studierenden für mathem.-philos. Wissenschaften zu gewinnen wußte, zuletzt mit seiner ganzen Schule das Feld behauptete und mittelbar einem Semler (s. d.) den Weg bahnte, der eine gelehrte histor.-philos.-kritische Behandlung der gesamten Theologie begründete. Ende des 17. Jahrh, zählte die Universität bereits 765, in der ersten Hälfte des 18. Jahrh. 1500 Studenten und nahm seitdem im prot. Deutschland [* 32] eine leitende Stellung ein. Im Anfange des 19. Jahrh, zu bedeutender Blüte [* 33] gelangt, wurde die Universität zweimal bis und 19. Juli bis durch Napoleon aufgelöst.
Nach dem Frieden wurde sie wiederhergestellt und durch königl. Kabinettsorder vom mit der Universität zu Wittenberg [* 34] vereinigt unter dem Namen Vereinigte Friedrichsuniversität Halle-Wittenberg. Seitdem hob sich die Universität wieder rasch (1827: 1330 Studierende) und ist nach einem kurzen Rückgänge seit 1880 wieder im Aufblühen. Die Zahl der Docenten betrug (Sommer 1893) 125, der Hörer 1602. Zur Universität gehören 13 Seminare für alle Zweige der 4 Fakultäten, zahlreiche Institute und Kliniken, ein archäol.
Museum, eine Sternwarte, [* 35] eine Entbindungsanstalt und eine Bibliothek, 1696 gegründet (178000 Bände, 800 Handschriften), vereinigt mit der von Ponickauschen Bibliothek (12 700 Bände, 35000 Broschüren, 1040 Handschriften, meist Litteratur über Sachsen und Thüringen) und verbunden mit einem Münzkabinett und einer Kupferstichsammlung. Das zur Universität gehörige landwirtschaftliche Institut ist 1863, die agrikulturtechnische Versuchsstation 1865 gegründet. -
Vgl. Hertzberg und Böhmer, Zur Geschichte der Vereinigung von Wittenberg und H. (Halle 1867);
Minerva, Jahrbuch der gelehrten Welt (Straßb. 1893).
Ferner bestehen eine lat. Hauptschule (Gymnasium), 1697 gegründet und 1808 mit dem luth. und reform. Gymnasium vereinigt und mit einem Alumnat für 250 Zöglinge verbunden (Rektor Dr. Becher, [* 36] 32 Lehrer, 19 Klassen, 662 Schüler), ein städtisches Gymnasium, 1861 gegründet (Direktor Dr. Friedersdorff, 29 Lehrer, 17 Klassen mit 556 Schülern, 6 Vorklassen mit 214 Schülern), ein Realgymnasium, 1835 eröffnet (Inspektor Dr. Strien, 17 Lehrer, 9 Klassen, 334 Schüler), eine Oberrealschule (Direktor Dr. Thaer, 19 Lehrer, 17 Klassen, 480 Schüler), 2 höhere Mädchenschulen und ein Lehrerinnenseminar.
Ein Teil dieser Anstalten ist in den Franckeschen Stiftungen (s. d.) vereinigt. Ferner bestehen eine gewerbliche Zeichenschule, Fortbildungsschule, Bergvorschule, Frauenindustrieschule, Taubstummenanstalt, Schülerwerkstätten, Knabenhorte und Kinderbewahranstalten sowie eine agrikultur-chem. Versuchsstation des landwirtschaftlichen Centralvereins für die Provinz Sachsen, die Herzogtümer Anhalt [* 37] und Gotha, [* 38] die Fürstentümer Schwarzburg-Sondershausen und -Rudolstadt.
Das gegründete Provinzialmuseum in der Moritzburg für heimatliche Geschichte und Altertumskunde enthält vorhistor. Altertümer (Steingeräte, Bronzen, Thongefäße, hölzerne Geräte, Schädel, Waffen, [* 39] Skulpturen aus Holz, [* 40] Thon und Stein, Münzen [* 41] u.a.), das städtische Museum für Kunst und Kunstgewerbe Gemälde, graphische Blätter und die Riebecksammlung kunstgewerblicher Gegenstände aus Griechenland, [* 42] Rumänien, [* 43] Kleinasien, Ägypten, [* 44] Persien, [* 45] Indien, China [* 46] und Japan.
Das Stadttheater (Aktiengesellschaft, 1231 Zuschauerplätze, ausschließlich elektrische Beleuchtung) ist für 26000 M. jährlich verpachtet; außerdem besteht ein Specialitätentheater (Walhalla) und ein Sommer-(Victoria-)Theater.
In H. erscheinen 4 polit. Zeitungen, darunter die liberale «Saale-Zeitung», die konservative «Hallesche Zeitung» und das socialdemokratische «Volksblatt», und Zeitschriften wissenschaftlichen Inhalts, darunter die «Natur».
Vereinswesen und Kassen. Von den Vereinen sind zu nennen: die Leopoldinisch-Karolinische Deutsche Akademie der Naturforscher (s. Akademien B, I) mit Bibliothek, die Naturforschende Gesellschaft (1779), der Naturwissenschaftliche Verein für Sachsen und Thüringen (1852), der Verein für Erdkunde [* 47] (1873), die Polytechnische Gesellschaft (1839), der Verband der [* 48] landwirtschaftlichen Genossenschaften der Provinz Sachsen und der ¶