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(1791-1817) die Leitung des Hoftheaters, das er zu litterar. Experimenten sowie dazu benutzte, um einen für die Entwicklung der deutschen Schauspielkunst wichtigen idealen Vortragsstil auszubilden. (Vgl. Pasqué, G.s Theaterleitung, 2 Bde., Lpz. 1863; Burkhardt, Das Repertoire des weimarischen Theaters unter G.s Leitung, Hamb. 1891; Wahle, Das Weimarer Hoftheater unter G.s Leitung, Weim. 1892.) Aber die Freundschaft des Herzogs blieb ihm treu. Dagegen löste sich der Seelenbund mit Frau von Stein, als er die jugendliche, schöne Christiana Vulpius (geb. zu Weimar [* 2] als Tochter des Weimar. Amtsarchivars Joh. Friedr. Vulpius, gest. vgl. E. Brauns, Christiane von Goethe, 2. Aufl., Lpz. 1888) 1788 in sein Haus nahm, eine einfache Natur, gesund und gescheit, vielleicht etwas derb, aber voll Verständnis und hingebender Sorge für ihren großen Freund.
Sie ist nicht nur die Heldin seiner von heidn. Lebenslust strotzenden «Römischen Elegien», nicht nur sein stilles «Veilchen», sondern ihr brachte er später auch die tiefsinnige, auf ein innerliches Verstehen berechnete Elegie «Die Metamorphose der Pflanzen» dar. In dem gleichnamigen Prosaaufsatz führte er 1790 den wissenschaftlichen Grundgedanken von dem Zusammenhang und der Entwicklung aller organischen Wesen aus einer Urform aus: schon früher (1784) hatte er durch Entdeckung des Intermaxillarknochens beim Menschen den letzten scharfen anatom. Unterschied zwischen Menschen und Tier beseitigt. Goethe steht durch diese Gedankenreihen mit an der Spitze der modernen naturwissenschaftlichen Evolutionstheorie, seine Naturansicht entspricht, und zwar in genialer Ausdehnung [* 3] über die gesamte Natur, dem Standpunkt, den wir jetzt durch Darwins Namen bezeichnen, während seine optischen, namentlich gegen Newton gerichteten Studien zu sehr auf täuschender Anschauung und zu wenig auf sicherer Berechnung beruhten, um siegreich sein zu können («Beiträge zur Optik», 1791; «Zur Farbenlehre», 1810). Jene Einsicht in die organische Entwicklung der Wesen verband ihn eng mit Herder, dessen «Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit» sich in ähnlicher Richtung bewegten.
Dem Freunde der ruhigen natürlichen Entwicklung mußten die revolutionären Zuckungen der Zeit in Wirklichkeit und Dichtung tief widerstreben. Wie wenig Goethe zu der Französischen Revolution ein rechtes Verhältnis zu finden wußte, lehren die unzulänglichen poet. Versuche, sich mit ihr abzufinden («Der Großkophta», 1792; «Der Bürgergeneral», «Die Aufgeregten», «Unterhaltungen der Ausgewanderten», 1793; die kühle, bei großer formeller Vollendung wirkungslose, weil allzu typisch gehaltene Jambentragödie «Die natürliche Tochter», 1802, nach einem franz. Memoirenwerk; endlich das dramat. Fragment «Das Mädchen von Oberkirch», um 1808). So darf es nicht wundern, daß ihm Schillers Jugenddramen mit ihrem polit.
Pathos widerstrebten. Die beiden Männer rückten sich auch nicht gleich näher, als Schiller Jenaer Professor wurde. Erst ein zufälliges naturwissenschaftliches Gespräch und dann die Einladung zu den «Horen», [* 4] die Schiller an Goethe richtete, knüpften engere Beziehungen; aus denen erwuchs eine mehr als zehnjährige Freundschaft der ebenbürtigen Geister, die der Tod erst löste. Den reichern innern Gewinn trug ohne Frage Schiller davon; Goethe wurde durch den betriebsamen Freund zwar zur Produktion gedrängt und in das litterar.
Getriebe [* 5] hineingerissen, aber für seine Entwicklung bedeutete Schiller wenig. Doch unersetzlich wertvoll war das Vertrauen, das Goethe dem verständnisvollen Urteile des Genossen schenken durfte; vor ihrem Bunde traten selbst die Beziehungen zu Herder zurück, von andern zu schweigen, die, wie G.s Berater in Kunstsachen, H. Meyer, nur Männer zweiten Ranges waren. Goethe, der Mann der Anschauung, fand sich mit Schiller, dem Manne der Idee, in der Bewunderung für die Alten: nie war Goethe antiker in seiner Dichtung als eben in dieser Periode. In ihr entstand der Helena-Akt des «Faust», der schöne Torso der «Achilleis», das Maskenspiel «Paläophron und Neoterpe»;
das Trauerspiel «Die Befreiung des Prometheus» wurde in Angriff genommen;
selbst die Übersetzungen des Voltaireschen «Mahomet» und «Tancred» bangen zusammen mit der Wertschätzung antiker Form;
Goethe gründet mit Meyer die Zeitschrift «Die Propyläen», die, wie das spätere Organ der Weimarer Kunstfreunde «Kunst und Altertum», immer wieder auf die antike Kunst hinwies.
Distichon und Hexameter sind Goethe jetzt die Lieblingsmaße: jenes ertönt nicht nur in den herrlichen «Elegien» (z. B. «Alexis und Dora», «Der neue Pausias»),
in den «Venetianischen Epigrammen» (1790 entstanden, 1795 erschienen),
in den geheimnisvollen Sprüchen der «Weissagungen des Bakis», sondern besonders auch in den durch die flaue Aufnahme der «Horen» hervorgerufenen «Xenien» (1796), einer Reihe von Epigrammen, in denen er gemeinsam mit Schiller eine fürchterliche Musterung über die gleichzeitige Litteratur und Kritik abhielt. (Vgl. Die Schiller-Goetheschen Xenien, erläutert von Saupe, Lpz. 1852.) Der Hexameter wurde nicht nur in der «Achilleis» und in dem zu Homerischer Behaglichkeit aus Gottscheds Prosa umgedichteten Tierepos vom «Reineke Fuchs» [* 6] (1794) verwendet, sondern vor allem auch in dem Meisterwerk der Epoche, in dem Epos «Hermann und Dorothea» (1797; vgl. W. von Humboldt, Ästhet. Versuche über G.s Hermann und Dorothea, 4. Aufl., Braunschw. 1882). In die Schicksale einfacher tüchtiger Menschen ragen hier die Nachwirkungen der Revolution bedeutend herein; die Salzburger Emigranten seiner Quelle [* 7] werden bei Goethe zu franz. Auswanderern; moderne Zeitmotive und antik epischer Ton vereinigen sich in einem echt deutschen Kleinstadtsidyll zu unvergleichlicher Wirkung, der man Vossens «Luise» nie hätte an die Seite stellen dürfen.
Andere epische Pläne («Tell», «Die Jagd») blieben unausgeführt. Dagegen zeitigte das ertragreiche Jahr 1797 und sein Nachfolger unter Schillers deutlicherm Einfluß die Mehrzahl der G.schen Balladen; manche von ihnen führte den Dichter in die Zauber- und Nebelwelt des «Faust», zu dessen Vollendung Schiller unermüdlich drängte. Er erlebte diese nicht, wohl aber das Erscheinen von «Wilhelm Meisters Lehrjahren» (1795-96; vgl. Minor, im Goethe-Jahrbuch, hg. von Geiger, Bd. 9, Frankf. a. M. 1888), in denen allerdings das bunte, greifbare Leben der ersten Bücher nicht recht paßt zu dem gesuchten Schlußmotiv, dem pädagogischen Wirken des Geheimbundes, bei welchem dem Freimaurer wohl ein Motiv der Loge hereinspielte. Aber Frauengestalten wie Mignon und Philine sind nirgends von Reflexion [* 8] angekränkelt; die Hamlet-Analyse ist glänzend, wenn auch anfechtbar; die Scenen aus dem Schauspielerleben verwerten reiche Erfahrung, und es ist ¶
Goethe-Denkmal ¶
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wohl verständlich, wenn die ältern Romantiker, vor allem die Schlegel und Tieck, den «Wilhelm Meister» als das Kunstwerk an sich feierten und um seinetwegen den Roman für die einzige moderne Kunstform erklärten.
Schillers Tod riß in G.s Leben eine Lücke, die seine Beziehungen zu Heinr. Meyer, Zelter, selbst zu den Brüdern Humboldt nicht zu füllen vermochten. Die Kriegsgefahren von 1806, die die Existenz des Herzogtums schwer gefährdeten, bedrückten ihn tief: jetzt besiegelt er seinen Bund mit Christiana durch die Ehe Aber seine Produktivität leidet nicht unter dem Druck der Zeit. 1808 erschien der erste Teil des «Faust»; so eindruckslos das Fragment geblieben war, so begeistert nahm das Publikum das fertige Werk auf, in polit.
Ohnmacht sich der geistigen Macht des größten Deutschen erfreuend. Durch das «Vorspiel im Himmel» [* 11] ist jetzt die Rettung Fausts nach Lessings Vorgang gesichert. Sonst sind es vorzugsweise Prosaarbeiten, die mehr und mehr in den umständlichen, zuweilen manierierten, aber stets bedeutenden und anschaulichen Altersstil G.s überlenken. Auf Biographien Winckelmanns (1805) und Hackerts (1807) folgen die «Wahlverwandtschaften» (1809), die ein wichtiges, sittliches und sociales Problem behandeln, den Bestand der liebelosen Ehe als unsittlicher hinstellen als ihre Lösung, ja als ehelose Liebe.
Der gewaltige Ernst der Darstellung schließt jeden frivolen Beigeschmack trotz des gewagten Stoffs aus. Eine Anzahl der Novellen, die den schönsten Inhalt der «Wanderjahre» bilden, entstanden 1807-10, und in dem Werke «Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit» (1811-14; beste Ausg. von Loeper) macht Goethe an sich selbst den meisterhaften, wissenschaftlich epochemachenden Versuch, das Genie geschichtlich aus seiner Entwicklung zu verstehen; andere biogr. Arbeiten, wie die «Italienische Reise», bleiben weit dahinter zurück.
Die deutschtümelnde Richtung der jüngern Romantik, die sich mit Vorliebe ins Mittelalter zurückträumte, interessierte den Dichter des «Faust» und «Götz», ohne ihm Herzenssache zu werden. Auch die Befreiungskriege, die begeisterte Volkserhebung gegen Napoleon, dessen Genie ihn blendete, sah er nur zweifelnd und verwundert an; das antikisierende Festspiel, mit dem er 1814 den Sieg feiert, «Des Epimenides Erwachen», in dem symbolischen Stil seiner formell glänzendsten Dichtung «Pandora» (1807) gehalten, zeigt mindestens, daß er nicht das volle Verständnis für den Charakter der Bewegung hatte. Er war nicht unpatriotisch, aber die rechte Freude verkümmerte ihm schon die tiefe Erkenntnis, daß der äußere Sieg einen innern Fortschritt nicht bedeute, und er sah die wahre Größe eines Volks nicht in seiner polit.
Macht. Dazu kam der kosmopolit. Gedanke einer Weltlitteratur, der ihn wachsend beherrschte und im «Westöstl. Diwan» (1819) produktiv zum Ausdruck gelangte. Die Weisheit und behagliche Lebensfreude des Greises fand in der Anlehnung an den pers. Dichter Hafis eine höchst angemessene Form; daß warmes Feuer unter der beschaulichen Ruhe lebt, zeigen die Lieder an Suleika (Marianne von Willemer) noch stärker als die erheblich ältern Sonette an Minna Herzlieb (1807). Orient. Kostüm [* 12] wählt auch die unvollendete Oper «Feradedda und Kolaila» (1816),
während der interessante Entwurf des «Löwenstuhls» (1814),
die das Thema der «Ballade» dramatisierte, dem Gebiet der romantischen Oper angehört.
G.s Haus, dem seit Christianens Tode seine Schwiegertochter Ottilie, geborene von Pogwisch (s. Goethe, August von) vorstand, wurde mehr und mehr ein Mekka für die besten Geister Deutschlands. [* 13] In Tagen trauriger polit. Zerrissenheit wird die Verehrung G.s für die in Staaten und Parteien getrennten Deutschen ein starkes Band, [* 14] in dem freilich die unhistor. Radikalen des Jungen Deutschlands nur eine lästige Fessel sahen. Doch im engen Kreise [* 15] wird es immer stiller und einsamer um den Greis. 1828 scheidet auch sein herzogl. Freund. Er selbst aber bleibt wunderbar frisch und schöpferisch bis ans Ende.
Den Werken seines letzten Decenniums, «Wilhelm Meisters Wanderjahren» und dem zweiten Teil des «Faust», ist sogar ein besonders moderner Zug socialer Interessen gemein. (Vgl. Gregorovius, G.s Wilhelm Meister in seinen socialistischen Elementen, Königsb. 1849.) Dort entwirft er in der «pädagogischen Provinz» das utopische Bild einer Zukunftserziehung, die geradezu Saint-Simonistische Momente enthält, und hier bietet die Entwicklung des «Faust» über die Antike hin zur Arbeit, zur That ein Programm, höchst würdig des 19. Jahrh. Der fünfte Akt des zweiten Teils enthält dichterische Schönheiten, die keinen Vergleich zu scheuen haben. Am berichtet Goethe an Wilh. von Humboldt von der Vollendung des «Faust», der in jeder Hinsicht das Werk seines Lebens, seine poet. Generalbeichte war; fünf Tage darauf, am 22. März, schließt der Gewaltige, da er sein Tagewerk vollbracht, ruhig entschlafend die Augen. «Es kann die Spur von seinen Erdentagen nicht in Äonen untergehn.»
G.s eigentümliche Größe liegt in der unbedingten Natürlichkeit seiner Entwicklung. Mit Schönheit, Kraft [* 16] und Gesundheit reich ausgestattet, durch die Gunst des Schicksals vor der kleinlichen Not des Daseins bewahrt und an einen Platz gestellt, hoch genug zum Überblick und nahe genug zum Einblick in die Vielheit des Lebens, dabei beseelt vom stärksten Trieb der Selbstausbildung und der lautersten Menschenliebe, gewährt Goethe das Bild einer geradezu vorbildlichen Lebensführung.
Erstaunliche Universalität der Bildung vereint sich in ihn: mit jener absoluten Naivetät der Anschauung und Empfindung, die ihn zum tiefsten Frauenschilderer werden läßt. Alles Forcierte, Gemachte ist ihm verhaßt: so liegt ihm der kategorische Imperativ ebenso fern wie moralisches und polit. Pathos; auch die Sittlichkeit ist ihm nur gesunde und schöne Natur. Die Poesie kommandiert er nicht, sondern er dichtet nur, weil, wann und wie er innerlich muß; seine Dichtung ist Gelegenheitsdichtung im höchsten Sinne.
Aber dieser Aristokrat der freien, schönen und starken Persönlichkeit ist kein Dichter für die Menge. Nie hat er Schillers Popularität besessen; Prüderie, Pietismus (Pustkuchen), Rationalismus (Nicolai, Kotzebue, neuerdings Du Boys-Reymond) und Radikalismus (Börne, Menzel, Gutzkow, Ruge) haben ihm stets gegrollt und nur kleine Gemeinden sich zu ihm bekannt: so früh schon der Kreis [* 17] Rahels in Berlin. [* 18] (Vgl. Hehn, Gedanken über Goethe, Berl. 1887; Braun, Schiller und Goethe im Urteile ihrer Zeitgenossen, Abteil. 2, 3 Bde., ebd. 1883-85.) Seit seinem Tode ist freilich das Interesse, wenn auch schwankend, doch im steten Aufsteigen gewesen: die Wissenschaft hat sich in hervorragenden Vertretern seiner bemächtigt (Scherer, Vischer, Loeper u. a.), es ist eine eigene Goethe-Philologie entstanden, und seit Eröffnung des Goethe-Archivs (s. d.) widmet sich ¶