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Fritz Jacobi, der freilich Spinozas wachsenden Einfluß auf Goethe nicht hindern konnte. Ein Besuch des jungen Herzogs Karl August von Sachsen-Weimar führte zu einer Einladung dorthin, die um so lieber annahm, als der Ortswechsel ein unklares, schmerzlich gelöstes Verhältnis zu der eleganten und reichen Patriciertochter Anna Elisabeth Schönemann (Lili) entscheidend abschnitt.
Am trifft der Dichter in der kleinen thüring. Residenz Weimar [* 2] ein. Einigen tollen Monaten, die der dem Günstling mißwollende Hofklatsch geschäftig aufbauschte (vgl. Diezmann, Goethe und die lustige Zeit in Weimar, Lpz. 1857), folgt eine arbeitsreiche Zeit, geteilt zwischen poet. Schaffen für den Bedarf des Hofes und ernster Verwaltungsthätigkeit, die Goethe mit allen Schichten des Volkslebens in Berührung brachte;
seine Fürsorge für den Ilmenauer Bergbau [* 3] nährte stark seine Neigung zur Naturforschung. In unbedingter und nie wankender vertrauensvoller Freundschaft schloß sich Herzog Karl August an seinen großen Freund, der selbst den Stürmer mehr und mehr ablegte, da er den Fürsten zu zähmen hatte;
1776 trat Goethe als Legationsrat ins Conseil, ward 1779 Geheimrat, 1782 geadelt und Kammerpräsident, d. h. Finanzminister. (Vgl. Düntzer, Goethe und Karl August, 2. Aufl., Lpz. 1888.) Wielands Herz eroberte er im Sturm;
an Herder, der auf seinen Antrieb als Generalsuperintendent berufen wurde, hatte er trotz mancher Trübungen lange einen Mitstrebenden, dem er im Humanus seines fragmentarischen Epos «Die Geheimnisse» ein Denkmal setzte.
Mehr als alle bedeutete ihm seine «Besänftigerin», die Hofdame Frau von Stein (s. d.),
die «Lida» seiner Lyrik, die ihm zehn Jahre lang ein unsinnliches und doch herzenswarmes Liebesglück gewährte und besonders dazu beitrug, die hochgehenden Wogen der drängenden Leidenschaft zu harmonischer Schönheit zu glätten: in der «Iphigenie» zumal, die 1779 prosaisch vollendet wurde, hat sie ihm poet. Gestalt gewonnen; aber auch die Heldin des unvollendeten «Falken», die Charlotte der «Geschwister» (1776) spiegelten ihr Bild wieder. In diesem Dramolet und weit bedeutender im «Wilhelm Meister», an dem er zumal 1782-83 arbeitete, ist es nicht mehr eine excentrische Ausnahmegestalt, wie in «Götz» und «Werther», sondern eher ein strebsamer Durchschnittsmensch aus engen Verhältnissen, der im Mittelpunkt steht; die Poesie des wirklich typischen Lebens verdrängt die des Ausnahmefalls.
Auch am «Egmont», den Goethe noch in Frankfurt [* 4] begann, am «Tasso» arbeitet er in den zehn ersten Weimarer Jahren, ohne die Ruhe zum Abschluß zu finden; ebenso blieb ein intereßantes rätselreiches Bruchstück «Elpenor», ein antikes Schicksalsdrama nach chines. Novellenmotiv, in den Anfängen, und von Arbeiten höhern Stils kamen nur kleinere, wie das Melodrama «Proserpina», vielleicht zur Totenfeier für Glucks Nichte Nanette bestimmt, und die wundervollen Hymnen «Grenzen [* 5] der Menschheit», «Das Göttliche» u. a. zur Vollendung, die zeigen, wie sich der Titan mehr und mehr den Göttern beugt.
Um so reicher war halb notgedrungen G.s Schaffen für das Liebhabertheater des Hofs, an dem auch die von ihm hochgeschätzte Künstlerin Corona [* 6] Schröter zuweilen mitwirkte. Das nicht ungetrübte Verhältnis der herzogl. Gatten, das Goethe leise zu heilen strebte, klingt durch in «Lila», im «Triumph der Empfindsamkeit», der zugleich eine kräftige Satire auf die Modesentimentalität enthält, in den «Ungleichen Hausgenossen»; daneben steht die Aristophanische Posse «Die Vögel», [* 7] das Singspiel «Jeri und Bäteli», der Niederschlag einer Schweizerreise mit dem Herzog (1779),
und das für G.s Lieblingsschöpfung, den Weimarer Park, effektvoll berechnete Idyll «Die Fischerin», in dem der «Erlkönig» zuerst erschien (1782).
Die Fülle der Geschäfte und Zerstreuungen erweckten schließlich in ein so tiefes Bedürfnis nach Sammlung, nach Lösung aus manchem innerlich überwundenen Verhältnis, daß er, nur mit Wissen seines herzogl. Freundes, von Karlsbad nach Italien [* 8] aufbricht, wo er bis in das Frühjahr 1788 bleibt. Hier findet er sich selbst wieder. Seine Sinnlichkeit reift hier im Anblick antiker Kunst und ital. Natur zur genialen Anschauung des Typischen, Gesetzmäßigen in Kunst und Natur aus, und das kommt seiner Dichtung wie seiner Forschung zu gute.
Und hier findet er Stimmung und Muße, die lange geplante Sammlung seiner «Schriften» zu beginnen. Der «Faust» zwar erscheint in ihnen wenig über die Frankfurter Scenen hinaus gefördert (Neudruck des Fragments von 1790 in den «Deutschen Litteraturdenkmalen des 18. und 19. Jahrh.», hg. von Seuffert, Heilbr. 1882). Aber in «Iphigenie» (erschienen 1787; Ausg. von Bächtold in vierfacher Gestalt, Freiburg [* 9] 1883; O. Jahn, «Aus der Altertumswissenschaft», Bonn [* 10] 1868; K. Fischer, «Goetheschriften, I», Heidelb. 1888) goß er die ursprüngliche Prosa zu melodischen Jamben um, die der ruhigen Schönheit des Werkes höchst gemäß sind.
Die äußerliche Lösung des Konflikts, die Euripides' «Iphigenie» gegeben hatte, wird hier in eine innerliche Heilung durch die Macht der Buße und Wahrheit gewandelt, wie sie Sophokles im «Philoktet» vorbereitet hatte: «Alle menschlichen Gebrechen heilet reine Menschlichkeit.» Schade, daß ein in Italien gefaßter Plan «Iphigenie in Delphi» ebensowenig zur Vollendung gelangte wie die «Nausikaa», von der wir verheißungsvolle Scenen haben. Auch der schon 1780 begonnene «Tasso» (Ausgabe von Kern, Berl. 1893; vgl. K. Fischer, Goetheschriften, III, Heidelb. 1890) reifte unter Italiens [* 11] Sonne [* 12] weiter und dankt ihr den Glanz der Farbe und Stimmung, wenn er auch erst 1789 vollendet wurde (erschienen 1790). Während im ursprünglichen Plane Tasso, ein gesteigerter Werther, die volle Sympathie des Dichters besaß, entzog gemäß dem Laufe der eigenen Entwicklung G.s der weltkundige thätige Antonio dem nervösen Helden mehr und mehr von G.s Beifall: das ungehemmte Ausleben des Genies ist dem gereiften Dichter nicht mehr das Höchste.
Welch wunderbarer Unterschied des Stils zwischen «Iphigenie» und «Tasso»! Hier eleganter Konversationston, dort erhabene Menschlichkeit. Aber ihr äußerer Erfolg war gering. Nicht besser ging es dem «Egmont», der gleichfalls in Italien vollendet ward " (erschienen 1788). In seinen Volksscenen zumal lebt noch etwas von Shakespeares Einfluß; aber der Held, frei und unfrei wie die Natur, sorglos naiv, ohne Pathos und Reflexion, [* 13] konnte mit Schillers lärmenden Revolutionären beim Publikum nicht wetteifern, und Klärchens herrliche Gestalt, ein pathetisches Seitenstück zu Gretchen, erregte gar moralische Skrupel.
Es wurde dem Zurückgekehrten nicht leicht, sich wieder in die Weimarer Verhältnisse zu finden. Von Ämtern behielt er nur die bei, die seinen Neigungen entsprachen, vor allem das Kuratorium der Universität Jena, [* 14] die Aufsicht über den Bergbau, dann ¶
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(1791-1817) die Leitung des Hoftheaters, das er zu litterar. Experimenten sowie dazu benutzte, um einen für die Entwicklung der deutschen Schauspielkunst wichtigen idealen Vortragsstil auszubilden. (Vgl. Pasqué, G.s Theaterleitung, 2 Bde., Lpz. 1863; Burkhardt, Das Repertoire des weimarischen Theaters unter G.s Leitung, Hamb. 1891; Wahle, Das Weimarer Hoftheater unter G.s Leitung, Weim. 1892.) Aber die Freundschaft des Herzogs blieb ihm treu. Dagegen löste sich der Seelenbund mit Frau von Stein, als er die jugendliche, schöne Christiana Vulpius (geb. zu Weimar als Tochter des Weimar. Amtsarchivars Joh. Friedr. Vulpius, gest. vgl. E. Brauns, Christiane von Goethe, 2. Aufl., Lpz. 1888) 1788 in sein Haus nahm, eine einfache Natur, gesund und gescheit, vielleicht etwas derb, aber voll Verständnis und hingebender Sorge für ihren großen Freund.
Sie ist nicht nur die Heldin seiner von heidn. Lebenslust strotzenden «Römischen Elegien», nicht nur sein stilles «Veilchen», sondern ihr brachte er später auch die tiefsinnige, auf ein innerliches Verstehen berechnete Elegie «Die Metamorphose der Pflanzen» dar. In dem gleichnamigen Prosaaufsatz führte er 1790 den wissenschaftlichen Grundgedanken von dem Zusammenhang und der Entwicklung aller organischen Wesen aus einer Urform aus: schon früher (1784) hatte er durch Entdeckung des Intermaxillarknochens beim Menschen den letzten scharfen anatom. Unterschied zwischen Menschen und Tier beseitigt. Goethe steht durch diese Gedankenreihen mit an der Spitze der modernen naturwissenschaftlichen Evolutionstheorie, seine Naturansicht entspricht, und zwar in genialer Ausdehnung [* 16] über die gesamte Natur, dem Standpunkt, den wir jetzt durch Darwins Namen bezeichnen, während seine optischen, namentlich gegen Newton gerichteten Studien zu sehr auf täuschender Anschauung und zu wenig auf sicherer Berechnung beruhten, um siegreich sein zu können («Beiträge zur Optik», 1791; «Zur Farbenlehre», 1810). Jene Einsicht in die organische Entwicklung der Wesen verband ihn eng mit Herder, dessen «Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit» sich in ähnlicher Richtung bewegten.
Dem Freunde der ruhigen natürlichen Entwicklung mußten die revolutionären Zuckungen der Zeit in Wirklichkeit und Dichtung tief widerstreben. Wie wenig Goethe zu der Französischen Revolution ein rechtes Verhältnis zu finden wußte, lehren die unzulänglichen poet. Versuche, sich mit ihr abzufinden («Der Großkophta», 1792; «Der Bürgergeneral», «Die Aufgeregten», «Unterhaltungen der Ausgewanderten», 1793; die kühle, bei großer formeller Vollendung wirkungslose, weil allzu typisch gehaltene Jambentragödie «Die natürliche Tochter», 1802, nach einem franz. Memoirenwerk; endlich das dramat. Fragment «Das Mädchen von Oberkirch», um 1808). So darf es nicht wundern, daß ihm Schillers Jugenddramen mit ihrem polit.
Pathos widerstrebten. Die beiden Männer rückten sich auch nicht gleich näher, als Schiller Jenaer Professor wurde. Erst ein zufälliges naturwissenschaftliches Gespräch und dann die Einladung zu den «Horen», [* 17] die Schiller an Goethe richtete, knüpften engere Beziehungen; aus denen erwuchs eine mehr als zehnjährige Freundschaft der ebenbürtigen Geister, die der Tod erst löste. Den reichern innern Gewinn trug ohne Frage Schiller davon; Goethe wurde durch den betriebsamen Freund zwar zur Produktion gedrängt und in das litterar.
Getriebe [* 18] hineingerissen, aber für seine Entwicklung bedeutete Schiller wenig. Doch unersetzlich wertvoll war das Vertrauen, das Goethe dem verständnisvollen Urteile des Genossen schenken durfte; vor ihrem Bunde traten selbst die Beziehungen zu Herder zurück, von andern zu schweigen, die, wie G.s Berater in Kunstsachen, H. Meyer, nur Männer zweiten Ranges waren. Goethe, der Mann der Anschauung, fand sich mit Schiller, dem Manne der Idee, in der Bewunderung für die Alten: nie war Goethe antiker in seiner Dichtung als eben in dieser Periode. In ihr entstand der Helena-Akt des «Faust», der schöne Torso der «Achilleis», das Maskenspiel «Paläophron und Neoterpe»;
das Trauerspiel «Die Befreiung des Prometheus» wurde in Angriff genommen;
selbst die Übersetzungen des Voltaireschen «Mahomet» und «Tancred» bangen zusammen mit der Wertschätzung antiker Form;
Goethe gründet mit Meyer die Zeitschrift «Die Propyläen», die, wie das spätere Organ der Weimarer Kunstfreunde «Kunst und Altertum», immer wieder auf die antike Kunst hinwies.
Distichon und Hexameter sind Goethe jetzt die Lieblingsmaße: jenes ertönt nicht nur in den herrlichen «Elegien» (z. B. «Alexis und Dora», «Der neue Pausias»),
in den «Venetianischen Epigrammen» (1790 entstanden, 1795 erschienen),
in den geheimnisvollen Sprüchen der «Weissagungen des Bakis», sondern besonders auch in den durch die flaue Aufnahme der «Horen» hervorgerufenen «Xenien» (1796), einer Reihe von Epigrammen, in denen er gemeinsam mit Schiller eine fürchterliche Musterung über die gleichzeitige Litteratur und Kritik abhielt. (Vgl. Die Schiller-Goetheschen Xenien, erläutert von Saupe, Lpz. 1852.) Der Hexameter wurde nicht nur in der «Achilleis» und in dem zu Homerischer Behaglichkeit aus Gottscheds Prosa umgedichteten Tierepos vom «Reineke Fuchs» [* 19] (1794) verwendet, sondern vor allem auch in dem Meisterwerk der Epoche, in dem Epos «Hermann und Dorothea» (1797; vgl. W. von Humboldt, Ästhet. Versuche über G.s Hermann und Dorothea, 4. Aufl., Braunschw. 1882). In die Schicksale einfacher tüchtiger Menschen ragen hier die Nachwirkungen der Revolution bedeutend herein; die Salzburger Emigranten seiner Quelle [* 20] werden bei Goethe zu franz. Auswanderern; moderne Zeitmotive und antik epischer Ton vereinigen sich in einem echt deutschen Kleinstadtsidyll zu unvergleichlicher Wirkung, der man Vossens «Luise» nie hätte an die Seite stellen dürfen.
Andere epische Pläne («Tell», «Die Jagd») blieben unausgeführt. Dagegen zeitigte das ertragreiche Jahr 1797 und sein Nachfolger unter Schillers deutlicherm Einfluß die Mehrzahl der G.schen Balladen; manche von ihnen führte den Dichter in die Zauber- und Nebelwelt des «Faust», zu dessen Vollendung Schiller unermüdlich drängte. Er erlebte diese nicht, wohl aber das Erscheinen von «Wilhelm Meisters Lehrjahren» (1795-96; vgl. Minor, im Goethe-Jahrbuch, hg. von Geiger, Bd. 9, Frankf. a. M. 1888), in denen allerdings das bunte, greifbare Leben der ersten Bücher nicht recht paßt zu dem gesuchten Schlußmotiv, dem pädagogischen Wirken des Geheimbundes, bei welchem dem Freimaurer wohl ein Motiv der Loge hereinspielte. Aber Frauengestalten wie Mignon und Philine sind nirgends von Reflexion angekränkelt; die Hamlet-Analyse ist glänzend, wenn auch anfechtbar; die Scenen aus dem Schauspielerleben verwerten reiche Erfahrung, und es ist ¶