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Urgeschichte der altgerman. Dialekte (in Pauls «Grundriß der german. Philologie», Bd. 1, Straßb. 1889). Bis in das 4. Jahrh. n. Chr. zurück reichen die ältesten Runeninschriften (s. Runen), [* 2] die teils in Deutschland, [* 3] namentlich aber in Dänemark [* 4] und dem südl. Schweden [* 5] und Norwegen gefunden worden sind. Die früheste schriftliche Aufzeichnung in der heimischen Sprache [* 6] ist die got. Bibelübersetzung des Ulfilas (s. d.). Im übrigen beginnt die Überlieferung in England Ende des 7., in Deutschland Mitte des 8. Jahrh. In Skandinavien geben an 100 Runeninschriften Kunde von der Sprache des 4. bis 7. Jahrh., weit mehr für die folgenden Jahrhunderte; die handschriftliche Überlieferung beginnt hier erst seit Ausgang des 12. Jahrh. Für die ausgestorbenen Sprachen der Rugier, Gepiden, Vandalen, Burgunden und Langobarden sind wir auf Eigennamen und verstreut überlieferte Wörter angewiesen. Gar nichts weiß man über die Sprache des östlichsten der german. Stämme, der Basternen (Bastarnen).
Die Germanische Sprachen zerfallen in drei Gruppen:
1) Ostgermanisch, die Sprache der Ostgermanen (s. d.), deren Repräsentant für uns die got. Bibelübersetzung ist;
2) Nordgermanisch oder Skandinavisch, auch schlechtweg Nordisch genannt, die Sprache der Schweden, Dänen, Norweger und Isländer;
3) Westgermanisch, die Sprache der Westgermanen (s. d.). Viele Gelehrte nehmen einen nähern Zusammenhang des Ostgermanischen und Nordgermanischen an und teilen die Germanische Sprachen in zwei Gruppen, indem sie den Namen Ostgermanisch auch auf die skandinav. Sprachen ausdehnen.
1) Die ostgermanischen Mundarten sind alle ausgestorben; man weiß aber, daß die Sprache der Gepiden und Vandalen dieselbe war wie die gotische (s. Gotische Sprache und Litteratur). Etwas abweichend war die burgundische Mundart.
2) Der nordgermanische Sprachzweig zerfiel in der Zeit von etwa 700 bis 1000 in drei Mundarten: altnorwegisch, altschwedisch, wozu auch die altgutnische Mundart zu rechnen ist, und altdänisch. Letztere beiden Mundarten stehen einander näher als ersterer, sodaß man sie als ostnordische Gruppe zusammenfaßt und der westnordischen gegenüberstellt. Diese erhielt durch die norweg. Besiedelung Islands um 900 einen räumlichen Zuwachs und zerfällt seitdem in eine norwegische und in eine isländische Mundart. Erst im 11. Jahrh. wurden die mundartlichen Abweichungen so groß, daß man von vier Sprachen statt Mundarten reden darf. Über die weitere Entwicklung dieser Sprachen s. Nordische Litteratur und Sprache, Schwedische Sprache, Dänische Sprache und Litteratur, Norwegische Sprache und Litteratur, Isländische Sprache und Litteratur.
3) Das Westgermanische zerfiel bereits zu Beginn unserer Zeitrechnung in zwei Gruppen: das Englische [* 7] (Angelsächsische) und Friesische einerseits (Anglofriesisch) und die sämtlichen deutschen Mundarten (Hochdeutsch mit dem ausgestorbenen Langobardischen, Niederdeutsch mit Niederländisch) andererseits. Eine Mittelstellung nahm von Hause aus das Altsächsische (s. d.) ein, näherte sich jedoch in der Folgezeit immer mehr der deutschen Sprechweise, sodaß wir sie geradezu eine niederdeutsche Mundart nennen. Näheres über die Entwicklung der westgerman. Sprachen s. Angelsächsische Sprache und Litteratur, Englische Sprache, Niederdeutsch, Niederländische Sprache [* 8] und Litteratur, Friesische Sprache und Litteratur, Deutsche Sprache [* 9] und Deutsche Mundarten.
Die innere Geschichte der Germanische Sprachen weist eine Reihe übereinstimmender Züge auf. Das Urgermanische
besaß noch zum größten
Teil die altindogerman. Mann
igfaltigkeit der Flexion, wie sie aus der griech.
Sprache bekannt ist.
Zur Zeit der german.
Völkerwanderung bewirkten durchgreifende lautliche
Veränderungen der Wörter, insbesondere durch den
Accent verursachte starke Verkürzungen ein lautliches Zusammenfallen vordem verschiedener Wortformen.
Schon die
Gotische Sprache
(s. d.) hat die Flexion erheblich vereinfacht. Im Mittelalter führte dieser
Prozeß und das Streben nach Ausgleichung von lautlichen Verschiedenheiten innerhalb derselben Formklasse (s.
Analogiebildung) schließlich zu einer großen Umwälzung des ganzen Charakters der alten
Sprache, und
bereits vor Ausgang des Mittelalters herrschen überall die modernen
Sprachen, deren Reste von Flexionsendungen den ursprünglichen
Reichtum der verschiedenen Deklinations- und Konjugationsklassen nicht mehr ahnen lassen.
In lautlicher Hinsicht sind die durchgreifendsten Veränderungen der Germanische Sprachen zur Zeit der german. Völkerwanderung vor sich gegangen oder wurzeln wenigstens in dieser Zeit. Der Grund hierfür liegt einerseits in der Sprachmischung mit den romanischen (bez. keltischen in Britannien, finnischen in Schweden und Norwegen) Volksgenossen, welche die german. Sprache ihrer neuen Herren annahmen. Zum andern aber bewirkte eine Umgestaltung der Aussprache die Mischung der einzelnen german. Stämme untereinander, deren jeder von Hause aus eine andere Aussprache mitbrachte. Im südl. Schweden mischten sich Dänen und Schweden, in Dänemark die Dänen mit den Resten der anglofries. Urbevölkerung (s. Westgermanen), in England Angeln, Sachsen [* 10] und Jüten. Im großen und ganzen hat sich der Lautcharakter der Germanische Sprachen in den letzten 700 Jahren nicht wesentlich verändert. Doch scheint es, daß in der Gegenwart der sprachliche Austausch innerhalb des Bereichs jeder einzelnen german. Schriftsprache, eine Folge der großartigen Verkehrserleichterungen, eine abermalige Umwälzung der ortsheimischen Aussprache anbahnt.
Größere Veränderungen weist der moderne Wortschatz auf. Man hatte sich in der Urzeit mit verhältnismäßig geringem Wortvorrat beholfen, wie noch heute der einfache Mann im gewöhnlichen Leben mit sehr wenig Wörtern auskommt. Die fortschreitende geistige Entwicklung der Völker und ihre erweiterten Bedürfnisse drängten einerseits zur Aufnahme einer großen Zahl von Lehnworten, so namentlich in den ersten Jahrhunderten n. Chr. und im 19. Jahrhundert (s. Fremdwörter), andererseits zur Prägung neuer Wortformen und zu einer Verfeinerung der Nuancen der Wortbedeutung.
Auch die Ausgleichung des Wortschatzes der einzelnen Mundarten hat den Wortreichtum der german. Schriftsprachen erweitert, in Deutschland namentlich seit Luther. Insbesondere sind es aber die stetig wachsenden Bedürfnisse der modernen Schriftsprachen, welche auch der gesprochenen Sprache neue Worte, neue Wortbildungen und neue Nüancen der Wortbedeutung zuführen. Hinsichtlich seines Wortschatzes nimmt das Englische unter den Germanische Sprachen eine Sonderstellung ein durch eine dermaßen massenhafte Übernahme franz. Wörter, daß ¶
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man die Sprache fast eine german.-roman. Mischsprache nennen kann. (S. Englische Sprache.) Jedoch gilt das in der Hauptsache nur für die Schriftsprache und für die Sprache der Gebildeten; der engl. Schiffer kommt ziemlich mit german. Worten aus.
Überall auf german. Sprachboden bereitet sich eine Verdrängung der Mundarten durch die Umgangssprache der Gebildeten vor, welcher die Schriftsprache als Richtschnur gilt. In England (von Nordamerika [* 12] und Australien [* 13] ganz zu geschweigen) ist diese Bewegung am weitesten vorgeschritten; für Deutschland vgl. Deutsche Mundarten und Deutsche Sprache (Bd. 5, S. 77-78). Schriftsprachen haben die german. Völker, von der ausgestorbenen gotischen abgesehen, folgende geschaffen:
1) die deutsche, d. i. hochdeutsche, deren sich alle Deutschen in und außerhalb des Reichs, auch die Niederdeutschen, mit Ausnahme der Niederländer, sowie die Friesen innerhalb der deutschen Reichsgrenzen bedienen;
2) die niederländische der Niederländer, der sich die innerhalb der Niederlande [* 14] wohnenden niedersächs. Niederdeutschen und Friesen (s. Karte der deutschen [* 15] Mundarten, Bd. 5, S. 28) angeschlossen haben; nicht wesentlich hiervon verschieden ist die Mundart, welche die Vlämen Belgiens als Schriftsprache zur Geltung zu bringen suchen;
3) die englische, die auch bei den keltisch sprechenden Bewohnern von Irland, Wales und Schottland die herrschende und in neuerer Zeit durch ihre Übertragung nach Nordamerika, Australien und Südafrika [* 16] die erste Weltsprache der Gegenwart geworden ist;
4) die dänische, welche, wenn auch mit einigen mundartlichen Besonderheiten namentlich im Wortschatze, auch die Norweger angenommen haben;
5) die schwedische, die auch außerhalb Schwedens besonders an der Küste Finlands noch immer ihre Geltung behauptet. Neben diesen Schriftsprachen hat sich in neuerer Zeit auch eine reiche mundartliche Litteratur entwickelt. Über den Rahmen einer solchen strebt die friesische in der niederländ. Provinz Vriesland hinaus, der es nur noch an der offiziellen Anerkennung fehlt. (S. Friesische Sprache und Litteratur.)
Das grundlegende Werk für die Erkenntnis der gesamten Germanische Sprachen bildet J. ^[Jakob] Grimms «Deutsche Grammatik» (4 Bde., Gött. 1819-37; neuer vermehrter Abdruck, Bd. 1 u. 2, Berl. 1870-78; Bd. 3, Gütersloh 1890). Die seitdem gemachten Fortschritte sind am besten zu übersehen in Pauls «Grundriß der german. Philologie», Bd. 1 (Straßb. 1891; 5. Abschnitt: «Sprachgeschichte»). Es sei noch auf die folgenden zusammenfassenden Werke hingewiesen: M. Heyne, Kurze Grammatik der altgerman.
Dialekte, Bd. 1 (3. Aufl., Paderb.
1874; 2. Abdr. 1880); A. Holtzmann
, Altdeutsche Grammatik, umfassend die got., altnord., altsächs., angelsächs.
und althochdeutsche Sprache (Bd. 1: Lautlehre, Lpz.
1870-75); O. Schade, Altdeutsches Wörterbuch (2. Aufl., 2 Tle., Halle
[* 17] 1872-82). Von einer «Sammlung kurzer Grammatiken german.
Dialekte» sind erschienen eine got. Grammatik von W. Braune (3. Aufl., Halle 1887), eine altisländische und altnorwegische
von A. Noreen (2. Aufl., ebd. 1892), eine angelsächsische von E. Sievers (2. Aufl.,
ebd. 1886),
eine altsächsische, erste Hälfte von Gallee (ebd. 1891), eine althochdeutsche von Braune (2. Aufl., ebd. 1891) und eine mittelhochdeutsche von Paul (3. Aufl., ebd. 1889), dazu, als Bd. 1 der «Ergänzungsreihe», eine nominale Stammbildungslehre der altgerman. Dialekte von Fr. Kluge (ebd. 1886).