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kungen unterworfen werden als solchen, die durch den Zweck der Haft und die Ordnung im Gefäng- nisse notwendig werden.
Auch sollen Untersuchungs- gefangene ohne Not nicht gefesselt werden. Da die deutsche Strafprozeßordnung eine Verteidigung schon während der Voruntersuchung znläßt, hat der Verhaftete auch darauf Anspruch, mit seinem Ver- teidiger schriftlich und mündlich zu verkehren.
Unter allen Umständen bleibt auch die mildeste Unter- suchungshaft für den Betroffenen ein Übel. Es ist daher billig, daß dieselbe auf eine später erkannte Freiheitsstrafe in Anrechnung gebracht werde, wozu auch der Richter in Deutschland [* 2] ermächtigt, aber nicht verpflichtet ist.
3) Strafgefängnisse.
Unter allen Gefäng- nissen nimmt gegenwärtig diese dritte Klasse den ersten Rang ein.
Wenn von Gefängnissen und Gefängniswesen schlechthin die Rede ist, pflegt man zuuächst an die Strafanstalten zu denken.
Einmal ist die Anzahl der gleichzeitig bestraften Personen so viel zahl- reicher als diejenige der andern Gefangenen, und fodann kommen erst bei den eigentlichen Straf- gefängnissen die wichtigsten und schwierigsten Pro- bleme zum Vorschein. Im Vergleich zu ihnen kann man alles dasjenige, was bei den Sicherheits- und Schuldgefängnissen zu beachten ist, als einfach und leicht erreichbar bezeichnen.
Die Strafgefängnisse der heutigen Zeit selbst sind wiederum nach ihren Bezeichnungen mannigfach verschieden. Je nach den Abstufungen und Arten der Freiheitsstrafen sondert man auch die Namen der Haftanstalten.
Oft sind diese Arten und Abzeichen höchst willkür- lich und unsicher;
dem Gesetzgeber schwebte viel- mehr eine dunkle Vorstellung als ein klares Be- wußtsein vor. In Deutschland bestehen im Anschluß an das Strafensystem des Reichsstrafgesetzbuchs folgeude Abstufungen:
1) Zuchthäuser, 2) Gefäng- nisse im engern Sinne, 3) Festungen, 4) Haftlokale, l 5) polizeiliche Arbeitshäuser oder Korrigenden- ^ anstalten, 6) Besserungshäuser für jugendliche De- linquenten im Alter zwischen 12 und 18 I., welche die zur Erkenntnis der ^trafbarkeit erforderliche Einsicht noch nicht besessen haben.
Dazu kommen die besondern Militärgefängnisse. (S. Freiheitsstrafen.) Die Gefängnisse stehen in Bayern, [* 3] Württemberg, [* 4] Baden, [* 5] Hessen [* 6] unter dem Justizministerium, in Württemberg unter Zuziehung eines Gefängnis- rates, welcher aus Beamten, Geistlichen, je einem Arzt und Kaufmann zusammengesetzt ist leine ähn- liche Einrichtung besteht für das Zellengefängnis in Nürnberg); [* 7]
in Preußen [* 8] stehen die Zuchthäuser und einige andere Strafanstalten unter dem Mini- sterium des Innern, die übrigen unter dem Justiz- ministerium.
Gefängnisvorsteher ist in Preußen der erste Staatsanwalt unter Aufsicbt des Ober- staatsanwalts;
die zum Ressort des Ministeriums des Innern gehörenden Strafanstalten stehen unter den Regierungspräsidenten;
die dringend notwen- dige besondere Vorbildung der höhern Gefängnis- beamten, insbesondere in Ethik, Psychologie, Psy- chiatrie, ist noch nirgends eingeführt.
Der Streit, wie die Strafanstalten am zweck- mäßigsten einzurichten seien, ist noch in der Gegen- wart ungeschlichtet.
Drei Umstände sind es insbe sondere, die zu seiner fortwährenden Wiederbelebung und Erneuerung beitragen. In erster Linie ist da^ Princip streitig, welches die Strafgefetzgebung als Ausgangspunkt ihren Bestimmungen zu Grunde legen soll. Es giebt Menschenfreunde, welche als Zweck der Freiheitsstrafe die Besserung des Sträf- lings anstreben.
Das ist unerreichbar, soweit nicht eine Erziehung durch Gewöhnung an Arbeit in Frage steht.
Dagegen soll die Strafe abschrecken nnd neue strafbare Handlungen verbüten;
nur ist auch gegen den Verbrecher Gerechtigkeit zu üben, und unserer heutigen Kultur entspricht es nickt, dic Freibeitsstrafen wesentlich zu schärfen.
Der zweite Grund, aus welchem zahlreiche Meinungsversckic- denheiten hervorgehen, liegt in der unklaren Er tenntnis derjenigen Zustände, denen die Mehrzahl der Verbrechen erfahrungsgemäß entspringt. Im allgemeinen unterscheidet man zwar Gelegenheits- verbrechen, d. h. solche, die nach ihrer Begehung eine öftere Wiederholung nicht von vornherein be- fürchten lassen, und Gewohnheitsverbrechen, d. d. solche, welche als zuständliche verbrecherische Hand- lungsweise erscheinen, wie der Diebstahl oder die Hehlerei als Erwerbsquelle.
Gerade die Gewobn Heitsverbrechen, bei denen trotz der Strafe Wieder- holung und Rückfall einzutreten pflegt, bilden die schwierigste Gattung.
Bei unverbesserlichen Ver- brechern wird kaum etwas Anderes übrig bleiben als lebenslängliche Zwangsarbeit.
Sonst muß der Staat, soweit dies irgend möglich ist, danach streben, ein späteres gebessertes Leben des bestraften Ver- brechers anzubahnen und hierauf schon bei der Be- bandlung in der Strafanstalt die sorgsamste Rück- sicht nedmen. (S. auch Gefangenenfürsorge.) Die Vorschläge für eine Reform des Gefängniswesen haben bereits eine Geschichte.
An der Spitze der Reformer steht John Howard (s. d.), der zu den größten Wodl- thätern des Menschengeschlechts gezählt werden darf; er veröffentlichte 1774 sein berühmtes Werk über Ge- fängnisse und Zuchthäuser, welches 1780 ins Deutsche [* 9] übersetzt ward.
Als allgemeine oder doch häufigste Nbelstände der damaligen Gefängnisse wurden durch Howard bemerkbar gemacht: mangelhafte, nach der Willkür der Kerkermeister bemessene Ernährung, Er- pressungen der Aufseher, eine nicht selten verpestete, jenes furchtbare Kerkersieber erzeugende, alles mit Feuchtigkeit durchdringende Luft, der Mangel an Licht, [* 10] an Fußböden, an Abtritten, an Raum zur Bewegung, ungesunde Beschäftigungsarten, lieder- liche Gewohnheiten jeder Art unter den Gefange- nen. Im Anschluß an seine herzergreifenden Schil- derungen bespricht Howard die Mittel zur Abhilfe und die Pläne zur Reform.
Unter dem gewaltigen Eindrucke, den Howards Schilderungen hervor- brachten, bemühte man sich mehr und mehr, jener Verderbnis, wenigstens in leiblicher Beziehung, entgegenzuwirken.
Als solche teilweise aus der Zeit vor Howard herrührende Verbesserungen verdienen hervorgehoben zu werden: die (^82, cli cu^toäiu, für jugendliche Verbrecher in Rom [* 11] (1703), errichtet von Clemens XI., das Strafhaus zu Mailand [* 12] (17li0), zu Vilvorde in den damals österr.
Niederlanden- l177 und zu Gloucester (1793).
In diesen be- fand sich eine Anzahl von Zellen, deren Nützlichkeit schon vor Howard von einzelnen Schriftstellern, z wie Mabillon, gelegentlich hervorgehoben wor- j den war.
Was Howard begonnen, fetzten in Eng- land zahlreiche hervorragende Männer, gestützt auf Samuel Romilly wirkte in seinem Geiste;
Ventbam erdachte den Plan eines Panoptikons, d. b. eines Gefängnisbaues, welcher in allen seinen Teilen und Flügeln von einer Eentralballe aus überseben werden kann. ¶
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Ein neuer Anstoß zu Gefängnisreformen ging ! gegen das Ende des 18. Jahrh, von Amerika [* 14] aus. Hu Philadelphia [* 15] entstand 1791 ein Gefängnis mit , H Zellen, welches als «Bußanstalt» (konitentmi-v) bezeichnet wurde.
Seit jener Zeit spricbt man denn auch in Europa, [* 16] obwohl unpassend, von Pöniten- ! tiaranstalten und Po'nitentiarwesen.
Nack den ! puritanischen Anschauungen der Quäker wollten sie durck Einsamkeit das Gemüt von der Welt befreien j und zu Gott zurückführen.
Selbst die Arbeit konnte ^ aber nach diesen Anschauungen als Zerstreuung auf- gefaßt werden und wurde auch in derTbat nach dem ältern Pennfylvanischen Svstem dem Ver brecher vorenthalten. Das ältere Pennsvlvaniscke System bewährte sich scklecht und wurde in Penn- sylvanien selbst bald wieder aufgegeben. Erst! nach mehrern Iabrzehnten nabin man den alten! Gruudgedanken modifiziert wieder auf. Es ent- standen die beiden berühmten Einzelbaftanstalten von Cherrv-Hill bei Philadelpbia oder die ti stücke Bußaustalt (eröffnet 18-29) undvonPittoburgb oder die Westliche Bußanstalt (seit 18^7". Nach diesem neueru Pennsvlvanischen System wurde den Sträf- lingen auch Arbeit gewährt, nicht als ein die! Strafe erschwerendes Moment, sondern vielmebr als Gegengewicht gegen die sonst für Gemüt und Geist nachteiligen Wirkungen einer langdauernden Vereinsamung im Kerker. Ferner milderte man auch die Isolieruug durch Gefängni^besucke und hielt nur auf Trennung der Verbrecher unter sich. (S. Einzelhaft.) Das System der Einzelhaft blieb nach seinem Bekanntwerden in Europa keineswegs obne Gegner. Ibren mächtigsten Stützpunkt fanden dieselben an dem Widerspruch, den die pennsvlv.
Behandlungs- weise auf amerik.
Boden selbst hervorgerufen batte. Im Staate Neuyort war )8K'" da^ später berübml gewordene Gefängnis von Auburn in Angriss genommelr worden. In diesen: bildete sich nacl' zahlreichen Versuchen ein 18^."" zunl Abschluß ge- kommenes eigenes System, demzufolge die Ver- brecher nur bei Nacht in gellen getrennt bleiben, bei Tage indefsen unter dem l^esetze strengsten Schweigens gemeinschaftlich arbeiten.
Auch in an- dern amerit.
Anstalten, insbesondere in der gleich- falls vielgenannten Anstalt von Sing-Sing lim Staate Neunort), gelangte das sog. Auburnscke oder Schweigsv stein s^il^ut ^M^m) zur Anwen- dung. Da der Kostenaufwand für .Verstellung von Schlafzellen ein viel geringerer war al5 für Ein richtung von neuen Einzelhaftgefängnissen, so ent- schied man sich in Europa vielfach fnrda^ Auburnfcke System.
Auf demselben beruheu die Strafanstalten von Genf [* 17] (1825)), von St. Gallen il8)i9" und zabl reiche andere.
Selbst ohne Einfübrung besonderer Schlafzellen nabm man, wie in Preußen und 7vrant reich, das unbedingte Schweiggebot an.
Obwobl nun nickt geleugnet werden kann, daß in Neinern Anstalten, wie z.B. iu St. Gallen, auch mittels des Auburnscken Systems gute Nesultate erreicht worden sind, so bleibt dagegen dennoch der Vor- wurf bestehen, daß das unbedingte Sckweiggebot der menschlichen 'Natur widerstrebt, daß der Anreiz zu Mitteilungen in der Tbatsacke der Gesellschaft lichkeit der Verbrecher gar nicht zu ersticken ist und deswegen zablreiche harte Disziplinarstrafen wegen Übertretung des Schweiggebots vollstreckt werden müssen, obwohl überbaupt nur der geringste Teil von solchen l'ibettl'etllllgel! entdeckt werden taun. Die Überzeugung, daß die strenge langjährige Einzelhaft ein übelstand sei, führte zu einem neuen System, welches darauf Bedacht nahm, alle Vor- züge der Einzelhaft zu verwerten und alle Nackteile derselben zu vermeiden.
Dieses neue System ist das von Sir Walter Crofton seit 1854 ins Werk gesetzte Irische oder Progressivsystem, welches äußer- lich sckon in England vorbereitet war, i'evvem dort 185'! die Transportationsstrafe auf ein geringes Maß beschränkt worden war. In England batte man die Überzeugung gewonnen, daß die Einzel baft böchstens auf ein Jahr Anwendung finden dürfe, und späterbin war man sogar auf eine neun- monatige Frist berabgegangen, nach deren Ablauf [* 18] gemeinsame Sträflingsarbeit im Freien eintreten ! sollte.
Außerdem bestand in England die Einrich- ! tung, daß jeder Verbrecher, welcher sich gut be- tragen, vor Ablauf seiner Strafzeit unter der Be- dingung begnadigt werden konnte, daß er bei schlechten! und liederlichem Lebenswandel sofort, obne weitern Prozeß, in die Strafanstalt zur Ver- büßung des Strafrestes zurückgebracht werden sollte, i
Vgl. .voltzendorsf, Die Deportation als Straf- ! mittel und die Verbrechertolonien der Engländer und Franzosen, Lpz. 1859, und die Schrift des- selben Verfassers, Die Kürzungsfähigkeit der^Frei- deit^ftrafen und die bedingte Freilassung der (Hträf- i linge, ebd. 1861.) Dieser Grundsatz ist auch durch das Deutsche Reicksstrafgesetzb. ^tz.
2N--2li ange- nommen worden.
Danach können Verbrecher, welche eine längere Gefängnis- oder Zuchthausstrafe ^ Festung [* 19] ist ausgeschlossen - zu verbüßen haben, nack Abbnßung von drei Vierteilen, mindestens aber einem Iabr ibrer Strafe vorläufig entlassen werden, wenn sie sieb gut geführt haben, jedoch nur unter ^ oem Vorbebalt, daß diese Vergünstigung bei schlech- ter ,^'übrung des Entlassenen oder wenn derselbe ! den ibm bei der Entlassung auferlegten Verpflick nmgen zuwiderhandelt, jederzeit widerrufen werden tann mit der Wirkung, daß dann die volle Straf- ^ verbüßen war, abgebüßt werden muß.
Entlassung sowobl al5 Widerruf erfolgen, erstere auf Grund de^ Gutacktene" der Gefängnisverwaltung, durch den Iustizminister. Ist die Strafzeit ohne Wider- rnf der Entlassung abgelaufen, so ist die Strafe ver- büßt. In England war also die Einzelhaft nur ein Vorbereitnngvstadinm und die bedingte Freilassung oder Beurlaubung der Gefangenen der Abfchluß der sckweren «vreibeit^strafen. Auf dieser Grund ' läge erbaute Erofton fein neues System. Derselbe ^ sab ein, was schon vor ihm der Oberst Maconochie ^ zuerst gefordert: daß die bessernde Freiheitsstrafe ^ in ibrem Verlaufe von dem Verhalten des Sträf- lings zum Teil abbangig gemackt werden müsse, daß der fortschreitenden Besserung auch fortschreitende Erleichterungen der ?aft entsprechen müssen, daß das eigene Interesse an der Besserung dem Sträf- linge durch äußere und merkliche Übergänge ver sinnlickt werden, daß aus dem Bestrafungsprozeß die Gesellfchaft die Überzeugung wahrfcheinlicker Besserung und infolgedessen die Neigung zur Be- schäftigung Entlassener schöpfen müsse, und endlich, daß die evfabrung^geniäß schwierige Rückkehr von der Gefangenschaft zur Freiheit so allmählich als möglich gestaltet werden solle. Wegen dieses Fort- schreitens von anfänglich größerer Strenge zu dar- ! auf folgender größerer Milde hat man das Irische ! System mit Neckt als ein Progressivsystem bezeichnet, ¶