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Morand mit Anmut und poet. Empfindung in «Grisélidis» (comédie en vers libres, 1891). Unterdessen bleibt das Pariser Sitten- und Gesellschaftsbild in mehr oder weniger tendenziöser und mehr oder weniger lebenswahrer Behandlung als ?Drame? oder Lustspiel auf der ersten Bühne Frankreichs vorherrschend. Der gediegenste Lustspiel- und Dramendichter der Kaiserzeit, Emile Augier (gest. 1889), war nach dem Kriege wenig fruchtbar, doch trug er noch einmal in der häuslichen Sittenkomödie «Les Fourchambault» (1878) einen großen und wohlverdienten Erfolg davon. A. Dumas (Sohn) fuhr fort, in der Behandlung heikler Gesellschafts- und Lebensfragen sich als guten Beobachter zu erweisen und die Konvenienzmoral mit scharfer Dialektik zu bekämpfen.
Seine größten Erfolge trug er auch jetzt in der Darstellung des «gemeingefährlichen Weibes» («J'ai deshabillé la femme en public») davon, wie in «Princesse Georges» (1872),
«La femme de Claude» (1873) und «L'étrangère» (1876). Victorien Sardou zeichnete sich durch Vielseitigkeit und geschickte Mache aus, versuchte sich mit Erfolg in der Charakterkomödie («Fernande», 1870, «Dora», 1877, «Fédora», 1882),
behandelte die Ehescheidungsfrage scherzhaft in «Divorçons» (1881),
schilderte kleinstädtisches Treiben in «Les bourgeois de Pont-Arcy» (1878),
schrieb das polit. Tendenzstück «Rabagas» (1872, ein Zerrbild Gambettas),
das erfolgreiche histor. Lustspiel «Madame Sans-Gêne» (1891) und für Sarah Bernhardt histor. Ausstattungsstücke («Théodora», «Tosca», «Le [* 2] crocodile», «Ghismonda»). In dem Geiste des alten Lustspiels dichtete Edouard Pailleron, der in dem erfolggekrönten Stücke «Le monde où l'on s'ennuie» (1881) in feiner und witziger Weise ein modernes Gegenstück zu Molières «Gelehrten Frauen» geschaffen hat. Halévy und Meilhac haben ihr Geschick nicht allein in lebendigen Possen («Toto chez Tata», 1873, «La boule», 1874, «Tricoche et Cacolet», 1871),
sondern auch im Sittendrama («Froufrou», 1869) bewährt, der letztere hat in den letzten Jahren sich von seinem Mitarbeiter getrennt und allein das Sittenbild in Lustspielform («Ma cousine», «Décoré» u. a.) gepflegt. Die Originalstücke Alphonse Daudets haben sich nicht lange auf der Bühne behaupten können, sein letztes Werk «L'obstacle» (1890) behandelt in optimistischer Weise das Thema von Ibsens «Gespenstern». Der angesehene Kritiker Jules Lemaître hat in verschiedenen durch geistreichen Dialog und einzelne Feinheiten ansprechenden Komödien und Dramen («Révoltée», 1889, «Mariage blanc», 1891) doch noch keine große Bedeutung als Bühnendichter erlangt. Henri Becque («Parisienne», 1890, «Les honnêtes femmes»),
Abraham Dreyfous, H. Lavedan («Le prince d'Aurec», 1892),
Georges de Portoriche («Amoureuse», 1891) versprechen für das höhere Lustspiel und Drama etwas zu leisten; den Bühnen, die das Vaudeville und die ausgelassene Posse pflegen, fehlt es nicht an Produzenten, die in der Wahl ihrer Mittel, komische Wirkungen zu erregen, nicht blöde sind und die Zote nicht verschmähen. Labiche (gest. 1888) ist an komischer Erfindung von keinem seiner Nachfolger übertroffen worden; gleich ihm versorgten Gondinet (gest. 1888) und Clairville (gest. 1879), Barrière (gest. 1877) schon die Possenbühnen des zweiten Kaiserreichs; die neueste Possendichtung ist im allgemeinen durch den Naturalismus ungünstig beeinflußt worden, doch verdienen Ernest Blum und Raoul Toché, Grenet-Dancourt, Jules Moineaux, Alexandre Bisson («Feu Toupinel», 1890) und Albin Vallabrègue genannt zu werden.
Geradezu herrschend ist die Gewohnheit geworden, erfolgreiche Romane für die Bühne einzurichten und zwar mit Vorliebe solche, die dem Zuschauer eine Reihe Situationen des krassen Naturalismus vorführen. Auf diese Weise sind Zolas «Ventre de Paris», [* 3] «Renée», «Germinal», Daudets «Fromont», «Sappho», «L'Immortel» u. d. T. «La lutte pour la vie», der Gebrüder Goncourt «Renée Mauperin» und «Germinie Lacerteux», Theuriets «Raymonde» und andere Romane von Claretie, Glouvet, Bourget, Ohnet u. s. w. dramatisch zugerichtet worden.
Der Schaulust, der Befriedigung der Phantasie, des Gemüts und der Vaterlandsliebe dienen historische und Militärstücke, wie «Sainte-Russie», ein russ.-franz. Verbrüderungsstück von Gugenheim und Lefaure (1890), Volksschauspiele, die aus Feuilletonromanen Xaviers de Montépin u. a. hervorgegangen sind, solche von socialistischer Tendenz u. a. m. Das siegreiche Vordringen der naturalistischen Schule auf dem Gebiete des Romans hat den Wunsch hervorgerufen, das Drama der Zukunft zu schaffen, da nach Goncourt die «kranke Bühnenkunst ihr Ende erreicht hat». Es galt, die Fesseln der theatralischen Konvention in Form und Inhalt zu sprengen und den Dichtern die Möglichkeit zu gewähren, Stücke, die anderswo wegen sittlicher und Anstandsbedenken oder wegen technischer Mängel zurückgewiesen waren, aufzuführen und eine Probe ablegen zu lassen. So entstand unter der Leitung des Schauspielers Antoine mit Unterstützung reicher Liebhaber und bekannter Schriftsteller (Zola, Maupassant, Goncourt) das «Théâtre libre» (seit 1891 in der Porte-Saint-Martin), ein Tummelplatz für die Versuche der Verkannten, Zurückgewiesenen und kühnen Anfänger, Naturalisten und Symbolisten und solcher, die das Handwerk der Kunst verschmähen.
Ibsens, Tolstois, Turgenjews, Strindbergs, G. Hauptmanns Werke wurden hier gespielt, neben denen von Alexis, Céard, Hennique, J. Jullien, G. Ancey, Brieux, Descaves, Méténier u. a. Den Erfolg hat diese Bühne bisher gehabt, daß sich die Kritik angelegentlich mit ihr beschäftigt hat. Neben dem «Freien Theater» [* 4] besteht noch ein «Théâtre des nouveautés» als zweite Versuchsbühne (seit 1890) für ungezügelte und zügellose Talente. Der Merkwürdigkeit wegen verdienen auch die Marionetten Signorets Erwähnung, welche humoristische Mysterien, wie «Le mystère de la nativité» und «Tobie» (1890),
poetisch wertvolle Dichtungen von Maurice Bouchoz, aufführen, endlich die Herberge zum «Chat-noir» mit ihren ausgelassenen und sinnreichen Darstellungen von poetisch-musikalischen Mysterien und Parodien.
Die erfolgreichsten Leistungen der beiden letzten Jahrzehnte gehören unstreitig der erzählenden Dichtung an, dem Roman und der Novelle; mehr als in der dramat. Litteratur drängt sich hier wie auch in der lyrischen Poesie eine herbe, trostlose, zum Pessimismus herabsinkende Lebensauffassung hervor; denn auf dem von Balzac, Flaubert, Edmond und Jules de Goncourt gewiesenen Wege fortschreitend, entscheiden sich die Naturalisten, an ihrer Spitze Emile Zola, grundsätzlich für ein darstellendes Verfahren, das die Erscheinungen, Äußerungen und Umgebungen des sichtbaren Lebens genau beobachtet und mit urkundlicher Treue («art documentaire») den «physiol. Menschen» nachzeichnet, wie ¶
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er durch seine Umgebung bestimmt und unter dem Spiel aller seiner Organe thätig ist. Überzeugt von dem Übergewicht des Schlechten in der Welt, verbunden die Wahrheit zu sagen, die Wahrheit nur im Sichtbaren erkennend, giebt der Naturalist vor, eine sittliche Pflicht in der Darstellung des Niedrigen und Gemeinen zu erfüllen, und scheint nicht zu wissen, wie sehr seine Werke unsaubern Gelüsten fröhnen, seine «urkundlichen» Schilderungen sittlicher und physischer Verkommenheit Keime des Unheils aussäen.
Seit dem Tode seines Bruders Jules (1870) hat Edmond de Goncourt nur noch einen beachtenswerten Roman veröffentlicht («Les
frères Zemganno», 1879). Das Haupt der Schule des objektiven Naturalismus wird Zola, der seit 1871 eine
Reihe von pathol.-physiol. Romanen unter dem Gesamttitel «Les Rougon-Macquart» verfaßt und veröffentlicht
hat, die «bürgerliche und natürliche Geschichte» einer Familie
unter
dem zweiten Kaiserreich, die sich durch 19 Bände hindurchzieht («La fortune de Rougon», 1871, bis «Docteur
Pascal», 1893); bei einer Fülle trostloser und abstoßender Einzelheiten, bei einer bisweilen
pedantisch-kleinlichen Vorliebe für Schmutz und Detailausführung zeugen diese Werke von großer Sprachgewalt, von seltener
Kraft
[* 6] und Fähigkeit, äußere Zustände und Stimmungen darzustellen.
Seine Poetik enthält der «Roman expérimental» (1880). Neben Zola ist Alphonse Daudet seit seinem Pariser Sittenbilde «Fromont jeune et Risler ainé» (1874) der erfolgreichste neuere Romanschriftsteller Frankreichs. In seinen frühern Werken unterscheidet ihn größere Decenz und vornehmere Haltung von Zola, er zeigt liebenswürdigen Humor und ist ein Meister feiner Ironie, hat sich aber zuletzt den Naturalisten sehr genähert. Eine Anzahl jüngerer Schriftsteller, die sich um Zola sammelten, gaben in den «Soirées de Médan» (1880) die ersten Beweise ihres Könnens und ihrer Zugehörigkeit zur Schule des Meisters.
Einer der eifrigsten «Médanisten» war Paul Alexis («Éducation amoureuse», 1890),
auch Henri Céard, Camille
Lemonnier («Le
possédé», 1890),
Henri Rabusson, Edouard Rod («La vie privée de Michel Teissier», 1892),
Paul Mariéton, Octave Mirbeau u. a. folgen seiner Richtung. Als Zolas Roman «La terre» (1887) erschien, worin Schmutz und Abscheu sich häuften, kündigten ihm fünf Anhänger die Heeresfolge, unter ihnen der begabte Niederländer J. K. Huysmans (geb. 1848),
Lucien Descaves, Paul Margueritte, J. H. Rosny («Daniel Valgraive», 1891). Diese und andere Schriftsteller, wie Marcel Prévost («Confession d'un amant», 1891),
sind des materialistischen Pessimismus überdrüssig und der «Roman der Zukunft» soll wieder den idealen Bedürfnissen, dem «besoin d'une expression romanesque» des Lebens in höherm Grade gerecht werden. Eine Mittelstellung zwischen den Naturalisten und den Psychologen nahm Guy de Maupassant (gest. 1893) ein, der in Werken wie «Pierre et Jean» (1888),
«Fort comme la mort» (1889) durch einfache Darstellung ergreifender Konflikte und psychol. Tiefblicke sich Zola überlegen gezeigt hat. Die eigentlichen «Psychologen» oder «Analytiker», die sich Mühe geben, das menschliche Seelenleben besonders in seinen Ausartungen und krankhaften Nervenzuständen zu ergründen und darzustellen, mit möglichst wenig eigener Empfindung, berufen sich auf Beyle; an ihrer Spitze steht Paul Bourget («Cruelle énigme», 1885, «Crime d'amour», 1886, «Mensonges», 1887),
der mit seinen nervösen Heldinnen und Helden («Le disciple», 1889) aus den gebildeten und wohlhabenden Ständen und seiner zart abgetönten Darstellung den geraden Gegensatz zu Zola bildet. Bourget ist zugleich der Vertreter der psychologischen litterar. Kritik («Essais de psychologie contemporaine», 1883). Auch J. Le Maître und Anatole France gefallen sich in der Kleinmalerei. Gyp (Gräfin Martel-Mirabeau) verfaßte übermütige satir. Geseltschaftsbilder, während Ferdinand Fabre in seinen bedeutenden Romanen die Seelenkämpfe des Seminaristen, den Ehrgeiz des Priesters («L'abbé Tigrane», 1873, «Ma vocation», 1889) und das Leben in seiner Cevennenheimat mit Ernst und Kraft dargestellt hat.
Der Provinz- und Dorfroman wird ferner von Pouvillon («Chante-Pleure», 1890),
Antony Blondel («L'heureux village», 1892) u. a. mit Erfolg gepflegt. Nach psychol. Vertiefung und genauer Wiedergabe des Zuständlichen streben übrigens auch die Schriftsteller, die einer idealern Auffassung der menschlichen Natur huldigen. Für Octave Feuillet (gest. dessen letzte Werke «La morte» (1886) und «Honneur d'artiste» (1890) sind, ist der «Sous-Feuillet» Henri Rabusson eingetreten als Verfasser vornehmer Gesellschaftsromane; neben Cherbuliez wurde André Theuriet ein fleißiger Mitarbeiter der «Revue des Deux Mondes»; Ohnet, nach Zola der gelesenste Schriftsteller des heutigen Frankreich, schildert in seinen zehn Romane umfassenden «Batailles de la vie» (1881-91) mit Vorliebe den siegreichen Kampf bürgerlicher Tüchtigkeit und ehrlicher Arbeit gegen Vorurteil und gesellschaftliche Verderbtheit.
Beliebte Tagesschriftsteller sind Ernest Daudet, Henri Gréville (Frau Alice Durand), die zuerst ihre Helden und Stoffe aus Rußland holte, Thérèse Bentzon (Frau Blanc), Albert Delpit, Hector Malot, Frau Charles Bigot (Jeanne Mayret), Léon de Tinseau u. a. Die Abart des jurist. Romans ist vertreten durch die Werke des ehemaligen Oberstaatsanwalts Quesnay de Beaurepaire, der unter dem Namen Jules de Glouvet schreibt. Außerdem giebt es Kasernenromane (L. Descaves, Reibrach, Abel Hermant), Schilderungen des Pariser Elends auf allen Stufen der Gesellschaft (Hugues Le Roux) u. s. w. Stark von Deutschenhaß beeinflußt sind Erckmann-Chatrian in ihren seit 1871 erschienenen Schilderungen aus dem Elsässer Volksleben («Histoire du plébiscite», 1872). Unter den histor.
Romanen dürfte V. Hugos «Quatre-vingt-treize» (1874) die bedeutendste Erscheinung dieser Periode sein. Ungemein schnell hat sich Loti (der Marineoffizier Julien Viaud) einen Namen gemacht, dessen episodenhafte, meist schwermütige Geschichten einen eigenartigen Reiz durch die meisterhaft ausgeführten Schilderungen fremdländischer Schauplätze («Le mariage de Loti», 1882, «Madame Chrysanthème», 1888) und des Lebens der Fischer und Seeleute («Pêcheur d'Islande», 1886) ausüben. Ganz besonders tritt in der neuesten Zeit wieder die Novelle hervor, in der sich die verfeinerte Erzählungskunst in ihrer höchsten Ausbildung zeigt. Hier sind vor allem die Sammlungen Coppées zu erwähnen («Contes rapides», «Les vrais riches», 1892),
Bourgets «Pastels» (1889), die Legenden von Anatole France und Jules Lemaître, die formvollendeten Erzählungen von Catulle Mendès, welche ebenso cynisch wie seine Romane sind u. a. m. ¶