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unbestechlicher Wahrheitsliebe, der in Werken von einfachem Aufbau, aber packender Wirkung den unheilvollen Einfluß darstellte, den die in der Presse [* 2] und an der Börse wuchernde «tripotage» aus Gesellschaft und Familie ausübte, während A. Dumas (Sohn),
in seinen sog. Thesenstücken mit Vorliebe Zerrüttungen des Familienlebens behandelnd, in den Vorreden zu seinen Komödien als Prediger erscheint, «dessen Obhut die Seelen anbefohlen sind», in seinen Stücken selbst durch geschickte Technik besticht und durch glänzende Dialektik den Schein unerbittlicher Folgerichtigkeit zu erzielen und über die Schwächen seines sittlichen Standpunkts hinwegzutäuschen weiß. An dem Tage, wo er die aus seinem gleichnamigen Roman geschöpfte «Dame aux camélias» (1852) als ein dem Leben entnommenes naturgetreues Sittenbild auf die Bühne brachte, veranlaßte er einen Umschwung, der mit seinem «Demi-monde» (1855) zum Siege gelangte und dem «Realismus», wie man das jetzt nannte, die Herrschaft übergab.
Neben diesen beiden Größen der damaligen Bühnendichtung nimmt Sardou eine geachtete Stellung ein als Verfasser humorvoller Sittenkomödien, in denen er durch beispiellos geschickte Mache unwahrscheinliche Handlungen und Charaktere annehmbar zu machen versteht, während Octave Feuillet als feiner Charakterzeichner vornehmer Frauen in seinen Lustspielen und als glücklicher Nachfolger Mussets in seinen anmutigen und graziösen «Proverbes» erscheint. Die Verskomödie hat in dieser Zeit nur noch einigen Erfolg in zwei Stücken Ponsards: «L'honneur et l'argent» (1854) und «La bourse» (1856). Denn weil man im wirklichen Leben nicht in Versen spricht, wurde der prosaische Vortrag in allen realistischen Bühnenstücken gebräuchlich.
Eine neue, erfolgreiche, in Versen geschriebene Tragödie ist während dieses Zeitraums nicht auf der Bühne erschienen. Das alte Vaudeville im Geschmack Désaugiers und Scribes, d. h. das Vaudeville mit kleinen Liedern und Arien (Vaudeville à couplets), verschwand gänzlich. Labiche, Meilhac und Ludovic Halévy und nach ihnen Gondinet und Pailleron haben zur Veränderung des Geschmacks in diesem untergeordneten, aber echt nationalen dramat. Genre am meisten beigetragen, indem sie die Stoffe dafür der Gegenwart entnahmen, d. h. den anziehenden und pikanten Bestandteil der heutigen kleinen Charakter- und Sittenkomödie hineinbrachten und auf diese Weise das Vaudeville dem gewöhnlichen Lustspiel annäherten. Den für diesen Zeitraum charakteristischen Ersatz des Liederspiels lieferten eigentlich die Operetten Offenbachs, für die Halévy und Meilhac die possenhaften und leichtfertigen Texte schrieben.
Auf dem Gebiete des Romans bilden die Herzens- und Idealromane G. Sands Kundgebungen gereifter und abgeklärter Kraft [* 3] («Le [* 4] marquis de Villemer», 1861 u. a.); die «Revue des Deux Mondes» veröffentlichte anständige, gemütvolle Sittenromane von Jules Sandeau, die von weltmännischer Moral getragenen, mit Feinheit ausgeführten Charakter- und Gesellschaftsbilder aus der vornehmen Welt und die etwas preciösen Sonderlingsgeschichten des Genfers Victor Cherbuliez («Le comte Kostia», 1863); als glänzende Stilisten und erfindungsreiche Erzähler zeichneten sich Edmond About, Arsène Houssaye und Ch. Monselet aus.
Das Leben der «Bohème», der Künstler und Litteraten schilderte H. Murger, während Erckmann-Chatrian die Dorfgeschichten G. Sands nachahmten und in einfacher und kraftvoller Weise Land und Leute ihrer Elsässer Heimat darstellten mit dem geschichtlichen Hintergrunde der Revolutionszeit und des ersten Kaiserreichs («Maître Daniel Rock», 1861; «Madame Thérèse», 1863; «L'ami Fritz», 1864). Jules Verne fand außerordentlichen Beifall mit seinen Abenteuer- und Reiseromanen, in denen er in eigentümlicher Art naturwissenschaftliche Exaktheit mit ausschweifender Phantastik vermählte («Cinq semaines en ballon», 1863). Andererseits verwirft man die Willkür der Phantasie und die idealistische Darstellung als wahrheitswidrig und will nur die physische und physiol. Wirklichkeit gelten lassen.
Diese Richtung hat ihren Anknüpfungspunkt an Balzac. Von durchschlagender Wirkung war Flauberts «Madame Bovary» (1857),
wo zum erstenmal peinlichste Genauigkeit der Darstellung mit kühler Objektivität und überlegener Erzählungskunst sich verbindet. E. Feydeaus «Fanny» (1858) zeigt daneben schon den ganzen naturalistischen Schmutz. Der Fahne des Realismus folgen A. Dumas (Sohn), Champfleury (Jules Fleury-Husson),
Hector Malot und vor allen die Brüder Jules und Edmond Goncourt mit ihren von bedeutender Darstellungsgabe zeugenden, aber trostlosen Schilderungen verkommender und verkommener Existenzen («Renée Mauperin, 1864; »Germinie Lacerteux", 1865). Der Feuilletonroman endlich, den E. de Girardin zuerst in seiner «Presse» eingeführt hatte, befriedigt auch in dieser Periode das Unterhaltungs- und Erregungsbedürfnis zahlreicher Leser. Dem Beispiel A. Dumas' (Vater) folgen Paul Féval, der nach 1870 ein gläubiger Moralschriftsteller wurde, E. Feydeau mit der schmutzigen Abart des Unterhaltungsromans, Ponson du Terrail, Xavier de Montépin, Gaboriau mit ihren Schauer-, Verbrecher- und Polizeiromanen, A. Bélot, Assollant u. a. m. Ungemeines Aufsehen machte 1862 der phantastische Socialroman «Les Misérables» von V. Hugo, gegen den seine übrigen erzählenden Werke dieser Zeit weit zurückstehen.
In der Geschichtschreibung behaupten die alten Namen noch immer den ersten Rang. Thiers, Michelet und Louis Blanc vollendeten die letzten Bände ihrer großen Geschichtswerke. Mignet ließ eine Geschichte der Maria Stuart, des Klosterlebens des Kaisers Karl V., der Rivalität Franz' I. und Karls V. erscheinen, Cousin eine Reihenfolge histor. Studien über die Frauen und geselligen Zustände des 17. Jahrh. in Frankreich, Vaulabelle eine Geschichte der Restauration, Henri Martin eine Geschichte Frankreichs, Théophile Lavallée eine gediegene «Histoire des Français»; Lanfrey vernichtete in seiner, nicht vollendeten, «Histoire de Napoléon Ier» die Napoleonische Legende, während Napoleon III. in seiner «Histoire de César» die «organisierte Demokratie» unter erwähltem Oberhaupt verherrlichte, Laboulaye in der «Histoire des États-Unis» mit Begeisterung die republikanische Selbstregierung schilderte und der Herzog von Broglie den liberalen Konstitutionalismus vertrat und in dem Werke «L'Église et l'Empire main ^[richtig: romain] au IVe siècle» für das kath. Interesse schrieb. Renan setzte sein Hauptwerk über den Ursprung des Christentums fort, Boissier und Martha verfaßten geschmackvolle und gründliche Schriften über das röm. Altertum. Das Memoirengenre lieferte einen nicht unbeträchtlichen Zuschuß: Châteaubriands ¶
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längst erwartete «Mémoires d'outre-tombe», die Lebensgeschichte der George Sand, Erinnerungen und Briefe von Madame Récamier, die Memoiren von dem ältesten Dupin, Odilon Barrot und Balzac, wovon der Briefwechsel des letztern in persönlicher Beziehung sehr interessant ist. Von Guizot erschienen «Mémoires pour servir à l'histoire de mon temps» und von Villemain «Souvenirs contemporains d'histoire et de littérature». Hierzu kommen die Memoiren Carnots, des Marschalls Soult und des Grafen Miot von Melito.
Wichtig sind die von A. Du Casse herausgegebenen «Mémoires et correspondance politique et militaire du roi Joseph», noch wichtiger jedoch ist die «Correspondance de Napoléon Ier», für deren Veröffentlichung Napoleon III. eine eigene Kommission bestellte. An der Spitze der litterarischen Kritik behauptete sich Sainte-Beuve; unter den jüngern Talenten traten hervor Prévost-Paradol, Weiß, Taine, E. Scherer, Sarcey, Paul de Saint-Victor. Die politischen Zeitungen verloren dagegen während des zweiten Kaiserreichs Macht und Bedeutung und kamen beinahe ganz auf ihre ursprüngliche Beschaffenheit und Bestimmung zurück, nämlich auf trockne Mitteilung polit. und anderweitiger Neuigkeiten ohne mißliebigen Kommentar. -
Vgl. Vapereau, L'Année littéraire et dramatique (19 Bde., Par. 1858-69);
Charpentier, La Littérature française au XIX siècle (ebd. 1875; deutsch von Otto, Stuttg. 1876).
12) Unter der dritten Republik (seit 1870). Keiner unter den lyrischen Dichtern, die schon während des Zweiten Kaiserreichs Berühmtheit erlangt hatten, hat die allgemeine Geltung V. Hugos errungen, nach dessen Tode etwa Lyriker wie Sully-Prud'homme, Coppée, Le Conte de Lisle als die Angesehensten unter den Modernen bezeichnet werden können. Dieselben Richtungen, die schon im vorhergehenden Zeitraum an die Oberfläche treten, werden mit Talent und Eifer fortgesetzt und auch, was in ihnen schon ungesund war, noch durch krankhaften Widersinn übertrumpft. Den Parnassiern folgt seit dem großen Kriege ein jüngeres Geschlecht von Kunstpoeten nach; die begabtesten sind: Jean Aicard (geb. 1848), Frédéric Bataille (geb. 1850), Henri Chantavoine (geb. 1850), der feinsinnige Kritiker Anatole France (geb. 1844) und Paul Déroulède, der bekannteste Vertreter der reichhaltigen Kriegsdichtung von 1870 und 1871 («Chants du soldat», 1872). Frei von Künstelei sind die frischen Landschafts- und Strandbilder von André Lemoyne (geb. 1822) und die von warmem Natur- und Heimatsinn zeugenden Poesien André Theuriets.
Auch lehnte sich eine Gruppe von Lebendigen («Les vivants») gegen den Götzendienst der Form auf, aber bald trennten sich diese vier: Paul Bourget, Maurice Bouchor, Raoul Ponchon, Jean Richepin, wieder voneinander;
Richepin setzte den Pessimismus und Naturalismus, die ganze Fäulnispoesie von Baudelaire, fort und that groß mit Cynismen und lasterhaftem Tiefsinn in seinen «Blasphèmes» (1884), ohne darum in diesen und andern Dichtungen seine reiche poet.
Kraft zu verleugnen. Nach ihm gefielen sich andere darin, durch Cynismen und Lästerungen Aufsehen und Anstoß zu erregen, wie z. B. Ponchon. Von Baudelaires und Richepins Ausschreitungen ausgehend, brachte dann die Sucht, durch etwas ganz Neues und Unerhörtes die Frühern zu überholen, die Schule der «Décadents», «Symbolistes» oder «Déliquescents» auf, die, außer dem Wunsch Aufsehen zu erregen, selber nicht recht wissen, was sie wollen, aber sich recht ungeberdig und anmaßend zeigen.
Der rein naturalistische Pessimismus hat für sie abgewirtschaftet, sie verbinden damit das übersinnliche, behandeln nur menschliche, dem wirklichen Leben angehörige Stoffe, die aber in die höhere Gedankenwelt erhoben werden vermittelst einer Sprache, [* 6] in der das Wort das Symbol des Gegenstandes ist. Diese Sprache erzeugen sie durch sonderbare metrische Kunststücke, wunderliche Vergleichungen, ausgerenkte Wortstellungen, Archaismen, Neubildungen und Entlehnungen aus dem Lateinisch-Griechischen und andern Sprachen (vgl. Baju, L'école décadente, Par. 1887). Sie haben ihren Höhepunkt schon überschritten, ihre Dichtungen und Zeitschriften («Revue indépendante», «Revue décadente», «Le Symboliste») haben wenig Leser gefunden.
Als die Führer der auch in Belgien [* 7] vertretenen Schule der «Décadents» gelten Paul Verlaine (geb. 1844),
Stéphane Mallarmé (geb. 1842),
bei dem Künstelei und Blödsinn sich vereinen, Jean Moréas (geb. 1856),
Jules Laforgue (geb. 1860). Eine Abzweigung der Schule bilden die «Magier» («Les Mages»),
an deren Spitze der Großmeister des Rosenkreuzes Josephin Peladan steht, und die sich in religiösem Socialismus verlieren. Die volkstümliche «Chanson», diese echte Blüte [* 8] franz. Grazie und poet. Witzes, ist gänzlich unter den Hervorbringungen der Fäulnis und der Albernheit versunken. Der Geschmack der Cafés concerts an Liedern wie die der Yvette Guilbert (im «Concert parisien») und des «Chat-noir» («Chansons du Chat-noir», Par. 1890) hat der alten Chanson Désaugiers und Bérangers den Untergang bereitet.
Die durch den großen Krieg hervorgerufene ernstere Stimmung schien zuerst dem geschichtlichen und heroischen Drama günstig. Aus vaterländischer Begeisterung wurde «Jeanne d'Arc» von Jules Barbier (Gaîté 1873) und «La fille de Roland» von Henry de Bornier (Théâtre français 1875) begrüßt, sein «Mahomet» (1890) wurde auf Wunsch der türk. Botschaft vom Spielplan abgesetzt. Großen Erfolg hatte auch die altröm. Tragödie «Rome vaincue» (1876). Weniger glücklich ist Coppée mit seinen größern geschichtlichen Stücken («La guerre de cent ans», «Madame de Maintenon», «Le luthier de Crémone») gewesen. In Sardous «Thermidor» (1891) wollten viele eine Verunglimpfung der großen Revolution erkennen, und die Regierung ließ sich herbei, eine Zeit lang über dieses Werk ein Aufführungsverbot zu verhängen.
Erckmann-Chatrians dramatisiertes Idyll «L'ami Fritz» (1876) wurde an Erfolg noch übertroffen durch das Drama «Les Rantzau» (1882). Charakteristisch für die Vielseitigkeit und das Anpassungsvermögen der modernen Bühne sind die besonders auf dem Odéon gemachten Versuche, Meisterwerke fremder Sprachen in Frankreich einzubürgern. Es erschienen in franz. Bearbeitung einzelne Tragödien von Äschylus («Les Erinnyes» von Leconte de l'Isle, 1873),
von Euripides («Alceste, drame lyrique» von Gassier, 1891),
der «Comte d'Egmont» von Goethe (1890) und eine ganze Reihe von Neubearbeitungen Shakespearescher Stücke («Songe d'une nuit d'été», «Hamlet», «Macbeth», «Shylock», «Roméo et Juliette», «La mégère apprivoisée» u. a. m.). Eine mittelalterliche Erzählung dramatisierten Silvestre und ¶