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Fragen in Anspruch genommen, und gleichgültig ließ man in der Dichtung den traditionellen Klassicismus sich aufrecht erhalten, um so mehr, als dessen nüchterne Verständigkeit und rhetorisches Pathos trotz seiner aristokratischen Bestandteile dem polit. Rationalismus sowohl republikanischer wie monarchischer Gewaltherrschaft innerlich verwandt ist. So blieb der Klassicismus auch unter Napoleon I. die anerkannte litterar. Macht. Hingegen ist es leicht erklärlich, daß eine der Verstandespoesie den Rücken wendende Geistesrichtung gern die in der Revolution erworbene Freiheit und größere Selbständigkeit des Einzelnen annahm, sich aber auflehnte gegen den durch den Fanatismus der Aufklärung bis zum Götzendienst getriebenen Vernunftkult und auf die nicht weniger realen in Gemüt und Phantasie der Menschen wurzelnden Mächte zurückgriff.
Während der Revolutionszeit waren Zeitungen und Flugschriften die in den Vordergrund tretenden litterar. Erscheinungen, und insbesondere entfaltete sich die parlamentarische Beredsamkeit zu großer Blüte. [* 2] Der berühmteste von allen Rednern dieser Zeit war Mirabeau. Um ihn gruppierten sich der Kardinal Maury, Mounier, Lally-Tollendal, Clermont-Tonnerre, Adrien Duport, Barnave, Sieyès und der milde royalistische Cazalès. Während der Assemblée législative traten die Girondisten und unter ihnen besonders Vergniaud hervor. Die Reden der Convention nationale und des Directoire arteten nicht selten in wahre Wutausbrüche aus. Das vollständigste Bild der franz. Journalistik und Beredsamkeit während der Revolutionszeit gewährt die «Histoire parlementaire de la Révolution française» von Roux und Buchez (40 Bde., Par. 1833-38). - Fast nur geschichtliches Interesse haben die vielen Gelegenheitsgedichte, die in den «Poésies nationales de la Révolution française» gesammelt sind.
Das am meisten charakteristische lyrische Erzeugnis der Epoche ist die «Marseillaise» (von Rouget de l'Isle). Lebrun-Pindares republikanische Oden, M. J. Chéniers «Hymne à l'Être suprême» drückten polit. und religiöse Ideen der Revolution mit klassischer Gespreiztheit aus. Der größte Dichter des Zeitalters, André Chénier, wurde ein Opfer der Schreckenszeit Seine Elegien, Idyllen und übrigen Dichtungen, an wahrer Empfindung, Kraft, [* 3] frischer Sinnlichkeit und reinem Geschmack unerreicht, eröffneten den Franzosen den Ausblick in eine ihnen bisher unbekannte poet. Welt, aber sie blieben damals ziemlich unbekannt, und erst ein Menschenalter später (1819) gleichsam neu entdeckt, trugen sie Frucht für das dann folgende Dichtergeschlecht.
Unter den dramatischen Dichtern dieser Zeit erwarb sich Andrés Bruder, M. J. Chénier, einen angesehenen Namen. Er liebte es, seine histor. Tragödien mit Anspielungen auf Zeitereignisse zu würzen und das Theater [* 4] zur Rednerbühne zu machen. Neben ihm zeichneten sich Fabre d'Eglantine und Laya mehr als Lustspieldichter aus. Besonderes Gefallen erregten Schauerdramen wie die «Victime cloîtrées». Daneben war das Theater mit Gelegenheitsstücken aller Art überschwemmt, unter denen viele vom Schauspieler Dugazon herrührten.
Meist wurde in diesen Stücken der großen Menge und den Gewalthabern Weihrauch gestreut; nur einige Dichter, z. B. Laya in seinem «Ami des lois», hatten Mut genug, die Terroristen offen anzugreifen. Auch Collot d'Herbois, der eine so schreckliche Rolle in der Revolution spielte, schrieb mehrere Komödien. Das merkwürdigste Schauspiel indes, das wäbrend der Revolution zur Aufführung kam, war wohl «Le [* 5] jugement dernier des rois» von dem fruchtbaren Sylvain Maréchal. Auch die Comédie larmoyante fand Beifall, besonders erhielt die Bearbeitung von Kotzebues «Menschenhaß und Reue» eine günstige Aufnahme. Demoustier war in seinen dramat. Stücken «Le conciliateur» und «Les femmes» ebenso affektiert als in seinen «Lettres à Émilie». -
Vgl. Géruzez, Histoire de la littérature française pendant la Révolution (Par. 1859);
Lotheissen, Litteratur und Gesellschaft in Frankreich zur Zeit der Revolution 1789-94 (Wien [* 6] 1872).
Als aber das Jahrhundert zu Ende ging und auf die innern Stürme des polit. Lebens in Frankreich eine Ruhebedürftigkeit folgte, die es dem siegreichen Feldherrn möglich machte, die Leitung des Staatswesens in seine feste Hand [* 7] zu nehmen, erhielt jene obenbezeichnete, der Aufklärungslitteratur und Verstandesdichtung feindliche Richtung ihre berufenen Vertreter, und als Verkündiger und Vorkämpfer einer Dichtung von neuem Ideengehalt traten hervor Châteaubriand («Génie du christianisme», 1802) und Frau von Staël («De la littérature considérée dans ses rapports avec les institutions sociales», 1800; «De l'Allemagne», 1810), beide durch außerhalb Frankreichs gesammelte Erfahrungen und Eindrücke über die engen Grenzen [* 8] des franz. Klassicismus erhaben; der erstere vermischte in seinen farbenprächtigen Dichtungen feine Begeisterung für die Schönheit des Christenglaubens mit Wertherschem Subjektivismus und Rousseauscher Naturschwärmerei, während Frau von Staël, für die Freiheit der Persönlichkeit in Leben und Dichtung kämpfend, dem erstarrenden Konventionalismus der franz. Poesie, unter Hinweis auf die Kunst und Litteratur Italiens [* 9] und Deutschlands, [* 10] die Forderung der Naturwahrheit, der Übereinstimmung von Leben und Kunst entgegenstellte.
Freilich blieb die natürliche Weiterentwicklung der auch nach dem Emporkommen der Napoleonischen Herrschaft ans zweifachem Grunde gehemmt. Einmal war Napoleon I. aus polit. Erwägungen den freien geistigen Regungen abgeneigt, und nur die naturhistor. und mathem. Wissenschaften fanden bei ihm Förderung und Begünstigung, dann aber wurden die meisten hervorragenden Geister durch die kriegerischen Unternehmungen Frankreichs von der Beschäftigung mit Kunst und Wissenschaft abgezogen.
Die Verdienste, die sich Napoleon durch die neue Organisation des gesamten Unterrichtswesens um die Wissenschaft erworben hat, sind nicht zu verkennen; aber das Wort, das er selbst mit so großem Erfolge zu gebrauchen verstand, schien ihm eine gefährliche Waffe, deren Handhabung er durch eine strenge Censur regeln zu müssen für notwendig hielt. Châteaubriand, dessen Verherrlichung des kath. Glaubens Napoleon für seine polit. Zwecke willkommen war, konnte doch zum Kaiser in ein dauerndes Verhältnis nicht kommen; Frau von Staël wurde von der kaiserl. Polizei in die Verbannung gejagt und ihr Werk über Deutschland [* 11] in Paris [* 12] eingestampft. Dagegen begünstigte Napoleon alle Schriftsteller, die als gemäßigte Voltairianer und Anhänger verständiger Aufklärung und Ordnung in den ausgefahrenen Gleisen des Klassicismus die Poesie vor sich hertrieben. Als Meister ¶
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der beschreibenden Dichtung und klassischer Lobredner einer eingebildeten Natur erfrente sich Delille hohen Ansehens. Als glänzender akademischer Redner besaß L. Fontanes die kaiserl. Gunst. Boisjolin, Esménard, Baour-Lormian und andere Künstler des eleganten Stils und der vollendeten poet. Form haben ihren Ruhm nicht überlebt. In Heldengedichten, wie im «Charlemagne» (von d'Arlincourt),
«Achille à Scyros» (Luce de Lancival) schmeichelte man dem Kaiser aufs übertriebenste. Auf der Bühne gelang es Talma, die Tranerspiele Chéniers, Raynouards, Arnaults, Lemerciers durch die Kunst der Darstellung zum Leben zu erwecken. Audrieux, Picard, Duval, Collin d'Harleville, Désaugiers erhielten die Tradition der komischen Bühne aufrecht. Als Lyriker hat Millevoye einige Originalität und zeigt sich Chênedollé von Châteaubriand inspiriert, während Désaugiers, der Vorsitzende der Gesellschaft «Caveau», durch seine heitern, echt nationalen Lieder (Chansons) der populärste Vorgänger wurde von Béranger, der erst gegen Ende des Kaiserreichs mit seinen ersten Liedern hervorgetreten ist. -
Vgl. Merlet, Tableau de la littérature française, 1800-15 (3 Bde., Par. 1877-84);
Jullien, Histoire de la poésie française à l'époque impériale (2 Bde., ebd. 1844): Jeanroy-Félix, Nouvelle histoire de la littérature française pendant la Révolution et le premier Empire (ebd. 1886).
9) Unter der Restauration (1815-30). Nach dem Sturze des Kaiserreichs beginnt das Geistesleben der franz. Nation wieder in immer kräftigern Schlägen zu pulsieren. Die Dichtung bereitet sich ebenso wie Kunst und Wissenschaft zu hohem Aufschwung vor. Zuerst ist es die Liebe zu dem besiegten Vaterlande, die in den etwas rhetorischen «Messéniennes» (1818) Casimir Delavignes, wie in einzelnen polit. Liedern Bérangers hervorbricht. Dem unterm Kaiserreich aufwachsenden Geschlecht hatten die Werke Châteaubriands und der Frau von Staël, die abenteuerlichen Erzählungen Charles Nodiers nicht vergeblich nene Quellen dichterischer Inspiration erschlossen.
Gleichzeitig wurden A. Chéniers Poesien bekannt und veröffentlichte Lamartine seine «Méditations poétiques» (1820), deren weiche Religiosität und in Gefühlen schwelgende Verse tief in die Herzen der Zeitgenossen drangen. Alsbald übernahm auch Victor Hugo die Führung. Hatte er in seinen ersten Versuchen der ältern litterar. Überlieferung seinen Tribut entrichtet, selbst in seinen ersten Oden (1822) christlich-monarchisch gesinnte Romantik in klassische Formen gebunden, so sprengte nicht lange darauf sein Feuergeist die Fesseln des poet.
Konventionalismus, er verwies den mytholog. Apparat in die Rumpelkammer und übertrumpfte die schwächliche Umschreibung durch den kräftigen, die Sache bezeichnenden Ausdruck und lebendige Bildersprache. Man wandte sich der Vergangenheit des Vaterlandes zu und suchte seine Stoffe da, wo man eines Volks ursprüngliche Eigenart anzutreffen meinte. So ließ man denn auch die aus Deutschland und England kommenden litterar. Einflüsse auf sich wirken. Ausgezeichnete Redner und Gelehrte, wie Cousin, Guizot, Villemain führten durch ihre Vorträge in die Philosophie und Dichtung des Auslandes und des franz. Mittelalters ein.
Nicht mehr die Meister des 17. Jahrh. und Voltaire, sondern Goethe und Schiller, Shakespeare und Calderon, Scott und Byron wurden als die Größen im Reiche der Dichtung anerkannt. Neue Anregungen und Aufschlüsse gewährte auch später Sainte-Beuve, als er in seinem «Tableau historique et critique de la poésie française au XVIe siècle (1828) die verkannten und vergessenen Dichter des 16. Jahrh. einer feinsinnigen Beurteilung unterwarf und ihnen zu ihrem Rechte verhalf.
Die romantische Schule, die sich um Ch. Nodier und Victor Hugo scharte, zählte Sainte-Beuve, Petrus Borel, Emile und Antony Deschamps, Prosper Mérimée, später auch Alfred de Musset, Alfred de Vigny und Théophile Gautier zu ihren Angehörigen. Ein engerer Kreis [* 14] schloß sich in dem «Cénacle» V. Hugos zusammen. In der «Muse française» (seit 1823) und im «Globe» (seit 1824) schufen sich die Romantiker zwei Blätter, welche die Kenntnis ihrer Werke und Lehren [* 15] verbreiten sollten.
Das eigentliche Programm der Schule verkündete V. Hugo in der Vorrede zu seinem Drama «Cromwell» (1827). Er war inzwischen zu den Liberalen übergegangen, und so nannte er die Romantik den Liberalismus in der Kunst und stellte die Forderung künstlerischer Freiheit an die Spitze. Keine überlieferten Regeln oder Gesetze sollten ihren Zwang auf den Dichter ausüben dürfen und ihn in Stoffwahl und Darstellungsweise einschränken. Schönes und Häßliches, Erhabenes und Lächerliches, die wirkliche Welt sollte Gegenstand der Dichtung werden, deren Aufgabe gerade die Gegenüberstellung der in der Wirklichkeit vorhandenen Gegensätze sei.
Während der Klassiker nur das Allgemeingültige beachtete und dem Gleichmaß und der Einheit des Tons die charakteristische Besonderheit der Erscheinung und des Ausdrucks opferte, legte die neue Schule ein Hauptgewicht auf histor. Treue und Lokalfarbe. Auch die strenge Scheidung der Gattungen erklärte man für überlebt; auf dem Gebiete des Versbaues gestattete man sich einige Freiheiten (z. B. das Enjambement, die weniger strenge Beobachtung der Cäsur) und neue Rhythmen, ohne darum mit den seit dem 16. Jahrh. ausgebildeten Überlieferungen der franz. Metrik zu brechen.
Die Romantiker hatten den Ehrgeiz, vor allem auf der Bühne ihre klassischen Gegner niederzuwerfen. Hier fehlte der gereiften Technik eines Lemercier und Soumet die jugendliche Lebenskraft, Lebruns vermittelnde Kunst («Marie Stuart», 1820) genügte den weitgehenden Forderungen der Romantiker nicht; umsonst reichte Baour-Lormian mit sechs Gesinnungsgenossen eine Bittschrift ein (1829),
um die Ausschließung der Romantik vom Théâtre français zu bewirken. Vergeblich bekämpften Andrieux und Viennet mit Geist und Witz die neue Schule. Alexandre Dumas trug auf der ersten Bühne Frankreichs mit «Henri III» einen entschiedenen Erfolg davon, und ein Jahr später (Febr. 1830) hielt hier V. Hugo mit «Hernani» seinen Siegeseinzug.
Diese principiellen Kämpfe berührten wenig das heitere Schauspiel. Das erfolgreichste Lustspiel dieses Zeitraums, C. Delavignes «École des vieillards» (1823), bleibt den alten Überlieferungen treu, neben ihm glänzte Scribe (1820-30) auf dem Theater des Gymnase als Verfasser von Stücken ansprechenden und leichten Charakters.
Auf dem Gebiete der Prosadichtung machte sich besonders der Einfluß Walter Scotts bemerkbar, und der historische Roman kam auf die Tagesordnung. Die hervorragendsten Romane waren: Vignys «Cinq-Mars» (1826),
Mérimées «Jacquerie» (1828) und «Chronique du règne de Charles IX» (1829). Ungemein auf die Stimmung der Nation ¶