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Mittelpunkt hatten, wie L'Huillier, genannt Chapelle (1610-86), in dessen Geiste auch Chaulieu (1639-1720), Lainez (1650-1710), de la Fare (1644-1712) und andere Freigeister dichteten. Im Idyll bewunderte die Zeit Antoinette Deshoulières (gest. 1694), deren von Pascals «Pensées» inspirierte Melancholie in der Poesie neu war, sowie Jean Renaud de Segrais (1624-1701),
den Übersetzer des Virgil, während Fontenelles «Schäferspiele» weder Lyrik sind, noch den Idyllenton besitzen.
Die zu europ. Bedeutung gelangenden Romane im Zeitalter Ludwigs XIV. waren sehr zahlreich und spiegeln ziemlich treu den Geist und die Neigungen der damaligen Zeit. Auf den histor.-sentimentalen Roman der Madeleine de Scudéry (1608-1701), dessen Ansehen in das goldene Zeitalter hineinreicht, und der Zeitgenossen, Zeitereignisse und Sitten und Empfinden der Zeit ins Altertum versetzt hatte, folgten die, einen großen Fortschritt bekundenden geistvollen Schöpfungen der Gräfin Lafayette (1633-93); sie führen zur Gegenwart zurück, bereiten den Roman des 18. Jahrh. vor und zeigen an hochherzigen [* 1] Figuren die Tragik menschlichen Geschicks. Die Romane der Mademoiselle Caumont de la Force (gest. 1724) und der Frau de Villedieu (gest. 1683) sind im Stile der galanten Memoiren der Zeit gehalten. In seiner «Histoire amoureuse des Gaules» hat Graf de Bussy-Rabutin (1618-93) einen elegant geschriebenen aus Wahrheit und Erdichtung gemischten Beitrag zur Skandalchronik des franz. Hoflebens geliefert, dem es an Nachahmungen nicht gefehlt hat.
Die Kunst, elegante Briefe zur Unterhaltung weiterer Kreise [* 2] zu schreiben, war seit Balzac und Voiture sehr gewöhnlich. Nachdem auch im Brief der bel esprit eine Rolle gespielt, erhält er durch den Pariser Arzt und Professor Guy Patin einen persönlichern Charakter; in den Briefen der Marquise von Sévigné (1626-96) schildert eine hochgebildete, lebhaft urteilende Frau von warmem Gefühl und guter Beobachtungs- und Darstellungsgabe das Leben der höhern Stande der Zeit in privater und öffentlicher Beziehung; die Briefe der geistreichen Geliebten Boursaults, Babet, haben denselben Charakter der Intimität, mehr sachlicher Natur sind die der Françoise d'Aubigné, Marquise de Maintenon.
Die in Briefen, Memoiren und bei geselligen Unterhaltungen seit 1660 beliebt gewordenen Porträts oder Personencharakteristiken mögen Jean de La Bruyère (1645-96) mit Veranlassung gegeben haben zu seinen dem Theophrast nachgebildeten «Caractères ou m?urs de ce siècle», die in origineller Darstellungsform Leben, Lebensweise und Charaktertypen der Zeit in scharfen Umrissen mit moralisch-satir. Tendenz vorführen. Die Beredsamkeit auf der Kanzel zu heben waren die auf Herausbildung künstlerischer Form ausgehende Zeit und Anlässe des prunkliebenden Hofs hinreichend. Besonders die Trauerrede wird durch Bossuet, Bourdaloue, Fléchier, die Predigt überhaupt, außer durch die genannten, durch Fénelon u. a. in verschiedener Weise künstlerisch entwickelt.
Für die Geschichtschreibung fehlte dem Zeitalter Ludwigs XIV. die richtige Auffassung der Aufgaben; man greift wohl jetzt in der Zeit weiter zurück, als in der Chronik geschah, behandelt aber die Quellen unkritisch und stellt, wenn auch in guter Ordnung, klar und anziehend, doch tendenziös dar. So der noch chronikartig schreibende freimütigere François Eudes de Mézeray (1610-83), noch mehr César Vichard, Abbé de Saint [* 3] Réal (1639-92), der mit leichtfertiger Verletzung der Wahrheit die Geschichte, um zu unterhalten, ganz romantisch darstellt, der ebenfalls unterhaltende, zuverlässigere René Aubert de Vertot (1655-1735) und Charles Rollin (1661-1741), der in «Histoire ancienne» und «Histoire romaine» gutgeschriebene Kompilationen für die Jugend darbot.
Claude Fleury (1640-1723) verfaßte eine bändereiche, wegen ihres lehrreichen Inhalts und Einfachheit der Darstellung und Sprache [* 4] lange geschätzte Kirchengeschichte. Der Calvinist Jacques Basnage (1653-1723), Bossuets Gegner, lieferte die beiden als klassisch geltenden Werke «Histoire de l'Église depuis Jésus-Christ jusqu'à présent» und «Histoire des Juifs depuis Jésus-Christ». Allen diesen Historikern zeigt sich an Kunst der Darstellung und Einheitlichkeit des Gesichtspunktes Bossuet (1627-1704) überlegen, der in seinem «Discours sur l'histoire universelle» den Gang [* 5] der Geschichte sich unter der unmittelbaren Einwirkung der göttlichen Vorsicht vollziehen läßt.
Von hervorragendem künstlerischen Werte und von geschichtlicher Bedeutung sind einzelne Memoirenwerke aus dieser Zeit. Der Kardinal von Netz, Pierre de Gondy (1614-79), schildert in seinen Memoiren mit beispielloser Unbefangenheit und reicher Menschenkenntnis, zauberisch anziehend durch natürliche Lebendigkeit und Leichtigkeit des höhern Umgangtons, die Unruhen der Fronde. Die Memoiren des durch seine «Maximen» berühmten Herzogs von Larochefoucauld (1613-80) zeichnen sich durch eleganten Stil aus. Der Schotte Hamilton erzählt in seinen Memoiren die Abenteuer seines Schwagers, des Ritters von Gramont, mit Frivolität, aber anmutigem Humor. - Über die Leistungen in der Philosophie s. Französische Philosophie. -
Vgl. De Mogeot, Tableau de la littérature française au XVIIe siècle (Par. 1859);
Albert, La littérature française au XVIIe siècle (ebd. 1873);
Lotheißen, Geschichte der im 17. Jahrh. (4 Bde., Wien [* 6] 1877-84);
Dupuy, Histoire de la littérature française au XVIIe siècle (Par. 1892).
5) Die letzten Jahre Ludwigs XIV. und die Zeit der Regentschaft (etwa 1690-1725). In den letzten 25 Jahren Ludwigs XIV. wurde der Glanz seiner Regierung matter; der Ehrgeiz des Monarchen hatte die Hülfsquellen des Landes nahezu erschöpft, schwer lasteten die Folgen seiner innern und äußern Politik auf der Bevölkerung, [* 7] und als Ludwig gestorben war, verschlechterten sich unter dem leichtsinnigen Regiment des genialen und sittenlosen Philipp von Orléans [* 8] die öffentlichen Zustände in noch höherm Grade.
Unter der Herrschaft der Maintenon war am Hofe Ludwigs eine frömmelnde Richtung tonangebend geworden, unter dem Regenten warf die sittenloseste Verworfenheit selbst die Maske heuchlerischer Frömmigkeit ab. Die Litteratur hatte in den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrh. ihre glänzenden Vertreter verloren, oder sie hatten sich vom Hofe und aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Boileau wurde taub und mürrisch, Racine fiel, nach der letzten herrlichsten Offenbarung seines Genius («Athalie», 1691), in Ungnade, Lafontaine wurde von bußfertigen Gedanken verfolgt. Man begann nicht alles zu bewundern, was von der glänzenden Sonne [* 9] Ludwigs bestrahlt wurde, und Zweifel an der Vortrefflichkeit des absoluten Regiments wurden laut. Überall regt ein kritischer Geist seine Flügel. Ein Bild des Hoflebens in dieser Epoche und der von ¶
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ihm abhängigen Verhältnisse geben die mit scharfem Urteil und verbissenem Groll geschriebenen Denkwürdigkeiten des Herzogs von Saint Simon (1675-1755), die an Energie und Farbenreichtum des Ausdrucks unvergleichlich sind. Auch auf rein litterar. Gebiete schien nicht alles über den Zweifel erhaben. Ch. Perrault griff die Autorität der Alten an («Parallèle des anciens et des modernes», 1688-98), was den Groll Boileaus erregte, der hierdurch die Stützen des franz. Klassicismus erschüttert glaubte, mit Unrecht, denn der letztere bedurfte der Alten nicht; eher konnte sich Perrault aus dem franz. Klassicismus die Waffen [* 11] für seine Angriffe holen.
Später wieder aufgenommen wurde der Kampf der Alten und Neuen gegen Madame Dacier von Fontenelle und La Motte (1672-1731), der sogar den Vers für unnötig und die dramat. Einheitsregeln für überflüssig erklärte. Doch blieb die Herrschaft des klassischen Geschmacks vorläufig bestehen. Auch der große Erfolg der jetzt von Perrault («Contes de ma mère l'Oye», 1697) in die Litteratur eingeführten Märchendichtung kann als ein Anzeichen der Auflehnung gegen die phantasielose Nüchternheit des Klassicismus aufgefaßt werden.
Auf Perraults Märchen folgen «Tausendundeine Nacht» in Gallands Übersetzung (1704-8) und die «Contes des fées» (1698) der Gräfin d'Aulnoy. (Vgl. Delaporte, Du merveilleux dans la littérature française, Par. 1891.) Folgenschwerer sind die wider die in der herrschenden Kirche und Glaubenslehre begründete Weltanschauung offen und versteckt erhobenen Angriffe, welche teils aus dem aufblühenden Studium der Naturwissenschaften, teils aus Lockes Philosophie, teils aus der Skepsis histor.
Kritik hervorgehen, und die in den Schriften Saint Evremonds (1613-1703), Fontenelles (1657-1757), Leclercs und Bayles (1647-1706; «Dictionnaire historique et critique», 1695) zum Ausdruck kommen. Auf kirchlichem Gebiet war allerdings der Jansenismus unterdrückt worden, aber nicht ausgetilgt, der Quietismus der Frau Lamothe-Guyon war durch Bossuet besiegt und Fénelon als Beförderer dieser Richtung vom Hofe verdrängt worden, aber letzterer wagte es doch in seinem Lehrroman «Télémaque» (1699) das herrschende polit.
System unter erdichteter Verhüllung zu tadeln, während ein anderer Geistlicher, Massillon (1663-1742), unter der Regentschaft dem Knaben Ludwig XV. in seinen Predigten die Nachteile des Absolutismus darlegte. Ohne höhern Schwung, mit bewußter Unbefangenheit und ohne lehrhafte Absicht schilderte dagegen Lesage (1668-1747) in seinem «Diable boiteux» (1707),
im «Gil Blas» (1715-35) und andern auf span. Gebieten handelnden Romanen die gesellschaftlichen und litterar. Zustände seines Zeitalters, während Montesquieu in seinen «Lettres persanes» (1721) sich der Romanform bediente, um mit feinem Spott alle Einrichtungen und Gebräuche des öffentlichen und bürgerlichen Lebens zu streifen.
Weniger berührt von dem kritischen Zuge der Zeit blieb die lyrische und dramat. Poesie. J. B. Rousseau (1670-1741) war allerdings auch Satiriker, aber sein Dichterruhm beruht vornehmlich auf seinen klassischen Oden, Kantaten, Psalmen im Stil der «großen Poesie». Aber La Grange-Chancel eiferte in seinen «Philippiques» in starken Versen gegen den Regenten. Das Trauerspiel blieb in hohem Ansehen und wurde im Stile des klassischen Zeitalters von La Fosse, La Grange, Crébillon, La Motte u. a. auf anständiger Höhe erhalten. Im höhern Lustspiel war Regnard ein begabter Nachfolger Molières, während Dancourt mehr als Vertreter der niedern Komödie gelten kann.
Die beste Sittenkomödie des Zeitalters ist «Turcaret» von Lesage (1709),
eine gegen die Generalpächter gerichtete Satire. Die volkstümliche Bühne des «Théâtre italien», für welche Dufresny und auch Regnard arbeiteten, wurde auf Befehl der Maintenon geschlossen; unter der Regentschaft gelangten die Jahrmarktsbühnen («Théâtre de la foire») besonders durch die Thätigkeit von Lesage, Fuzelier u. a. zu großer Beliebtheit und gaben dem Singspiel («Vaudeville») das Leben.
6) Die Zeit Ludwigs XV. bis zur Mitte des 18. Jahrh. (ungefähr 1725-50). Der polemisch-satir. Charakter, der schon während der letzten Jahrzehnte der Regierung Ludwigs XIV. in den kritischen Abhandlungen und populären Aufsätzen Bayles, Saint Evremonds, Fontenelles u. a. sich darthut, tritt jetzt immer ausgesprochener hervor; nicht allein in Prosaschriften, sondern selbst in der Dichtung, die indessen an den vom Klassicismus geschaffenen Darstellungsformen festhält.
Auf allen
Gebieten litterar. Thätigkeit macht sich der Einfluß der in England während des letzten Menschenalters ausgebildeten
Lehren
[* 12] und Gedanken bemerkbar; engl. Denker und Dichter, Philosophen und Naturforscher, Deisten, Moralisten und Publizisten wirken
nicht allein durch ihre Schriften umgestaltend auf die religiösen, philos., polit. Anschauungen der bedeutendsteiln
franz. Autoren, sondern einzelne Franzosen, wie Montesquieu, Prévost, Destouches, Voltaire kommen selbst nach England und bringen
von hier eine Fülle persönlicher Anregungen nach Frankreich zurück.
Eine praktische Tendenz beginnt die Litteratur zu beherrschen, der ästhetische Rationalismus des klassischen Zeitalters wird
zu einem philos.-praktischen Rationalismus, der mit den Waffen der Vernunft Aberglauben und Vorurteile bekämpft,
zu bessern, zu belehren und aufzuklären trachtet. Philos., polit., religiöse Gegenstände werden in Unterhaltungsschriften
oder wenigstens in einer allen
Gebildeten zugänglichen Form ohne Rücksicht auf überlieferte Autorität behandelt, und sogar
in der Poesie tritt die Absicht ästhetischer Wirkung gegen die Aufnahme kritischer und lehrhafter Zwecke
zurück. Der praktische Gesichtspunkt herrscht selbst bei den Kunstlehren eines Dubos und Batteur vor.
In seinem histor. Epos («Henriade», 1723) kämpft Voltaire (1694-1778),
in der Komposition und Darstellung die Vorschriften des Klassicismus treu befolgend, für Duldung und bürgerliche Freiheit; in seinen Lehrgedichten («Discours sur l'homme», 1738) verkündet er wie Pope den Deismus, während L. Racine den positiven Glauben mit den Gründen Pascals («La religion», 1742) verteidigt. Harmlos und frei von Tendenz ist das scherzhafte Epos Gressets («Vert-Vert», 1733),
während Voltaires «Pucelle» ebenso tendenziös kirchen- und glaubensfeindlich wie schmutzig und frech ist. Die Tragödie, in ihrer seit Racine feststehenden, in sich abgeschlossenen Form tritt in den Werken Voltaires («Oedipe», 1718, «Brutus», 1730, «Zaïre», 1732, «Mahomet», 1741) auch in den Dienst der religiösen und moralischen Aufklärung, oder sie ist bestrebt, durch Darstellung bedrängter Tugend («Ines» von La Motte, «Zaïre» von Voltaire) tugendsame Gemüter zu Thränen zu rühren. Lebhafter mußte der Zeitgeist einwirken auf das Lustspiel, das ja stets in enger ¶