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wahrscheinlich eine Erfindung der «Enfants
sans souci» (s. d.),
einer um 1380 entstandenen Karnevalsgesellschaft. Die Sottie war ursprünglich eine Art «Parade» (Zugstück zum Anlocken des Publikums), später wurde sie eine dramat. Satire in närrischem Gewande, worin niemals wirkliche Personen auftraten, sondern Narren (Sots), die eine Einrichtung (l'Église), einen Stand u. dgl. personifizierten. Die Sottie erlangte die Freiheit, unter der Narrenmaske Wahrheiten vorzubringen, die sonst niemand öffentlich zu äußern wagte, und in polit. und religiösen Angelegenheiten ihre Meinung auszusprechen. Übrigens ist keins dieser Spiele aus der Zeit vor 1450 erhalten.
5) Die Zeit Ludwigs XI., Karls VIII. und Ludwigs XII. (ungefähr 1450-1515). Die Herrschaft der burgund. Schule in der Litteratur beginnt, seitdem die franz. Lehnsmonarchie Burgund unter Philipp dem Guten (1419-67) und Karl dem Kühnen (1467-77) neben dem franz. Königtum eine selbständige und übergreifende Machtstellung zu behaupten trachtet. Die am prunk- und kunstliebenden burgund. Hofe lebenden oder von hier aus unterstützten Poeten erlangen das höchste Ansehen in der litterarisch gebildeten Welt, und die Umwandlung der Dichtung in bloße Redekunst, ein Ziel, auf das die herrschende Richtung in der schon lange zusteuert, bringen sie zum Abschluß.
Die Herrschaft dieser Schule überdauert den Zusammenbruch des Burgundischen Reichs (1477), denn sie reicht bis in die ersten Regierungsjahre des Königs Franz I., und die Nachwirkungen ihrer Geschmacksrichtung reichen bis über die Mitte des 16. Jahrh. Schon jetzt schöpfte man aus dem neubelebten Studium der Dichter des klassischen Altertums das Bewußtsein, daß gelehrtes Wissen zu den Quellen der Dichtung führe und mithin Gelehrsamkeit den Beruf zum Dichter erteile.
Die Nüchternheit des Empfindens und die Trockenheit der Stoffe, die man dichterisch bearbeitete, suchte man durch äußere Mittel auf eine poet. Höhe zu erheben, indem volltönende, dem Griechischen und Lateinischen entlehnte Fremdwörter, umständliche Satzbildung und künstliche Reimspiele den histor., polit., moralischen Traktaten, den Lobreden und konventionellen Liebesgedichten die Zierden der Redekunst verleihen sollten. «Rhetoriqueur» war der Ehrenname des Schriftstellers und Dichters.
Ein bürgerlicher Zug geht durch diese Dichtung, auch wo ihre Vertreter am Hofe leben. Denn von den Lobreden und Minnespielereien abgesehen, bestrebt man sich vornehmlich als Satiriker und Moralist, als Politiker und Geschichtschreiber, sein Zeitalter zurechtzusetzen und zurechtzuweisen, zu beeinflussen und zu unterrichten. Selbstverständlich bleibt dabei die Allegorie im Schwange; neu und der gelehrten Renaissance zu verdanken ist die immer häufiger werdende Einführung mytholog.
Gestalten und Erfindungen. Der älteste der burgundischen Poeten, Régnier de Guerchy, Rat Philipps des Guten, war noch Zeitgenosse des Herzogs Karl von Orléans; [* 2] Pierre Michault, Sekretär [* 3] des Grafen von Charolais (Karls des Kühnen), widmete seine Hofzucht («Doctrinal de cour») Philipp dem Guten (1466),
sein «Danse des aveugles» stellt das Leben als einen Tanz vor, wozu drei Blinde (Amour, Fortune, Mort) den Takt schlagen; Olivier de la Marche (1422-1501),
Gardekapitän Karls des Kühnen, erzählte in allegorischer Einkleidung («Le [* 4] chevalier délibéré») die Geschichte seines Herzogs. Der anerkannte Meister der Schule wurde Georges Chastelain aus Gent, [* 5] der in Reimen und in Prosa vornehmlich geschichtliche Gegenstände behandelte («Chronique des ducs de Bourgogne», 1419-70, «Épitaphes d'Hector» u. s. w.). Ihm schließt sich der Verskünstler Jean Molinet (gest. 1507) aus Valenciennes an, Lobredner des Hauses Burgund und Österreich, [* 6] Verfasser von geistlichen, satir. und histor.
Gedichten («Éloges», «Complaintes», «Chapelet des dames» u. s. w.). Natürliche Begabung, Herrschaft über die Sprache, [* 7] Gefühl für Harmonie und Tonfall besaß Jean Le Maire aus Belges (1473-1548), der letzte und bedeutendste Dichter aus Burgund. Er diente Margarete von Österreich, schrieb im Sinne der Politik Ludwigs XII. von Frankreich und begründete seinen Ruhm durch das umfängliche Geschichtswerk «Illustration des Gaules». Als geistvoller Novellist glänzte 1450-60 am burgund.
Hofe Antoine de la Sale (1398-1461),
der den Ritterroman auf den Boden der Wirklichkeit zurückführt und in der «Hystoyre et plaisante cronicque du petit Jehan de Saintré» (1459) zugleich das ritterliche Ideal seiner Zeit schildert. Auch die «Cent nouvelles nouvelles», hundert einfache, teils originale, teils aus Poggio, Boccaccio und den Fabliaux entlehnte Geschichten, 1456-61 in Brabant entstanden, sollen von Antoine de la Sale redigiert oder verfaßt sein. (Vgl. Cent nouvelles nouvelles, hg. von Th. Wright, 2 Bde., Par. 1858: Jehan de Saintré, hg. von Guichard, ebd. 1843.) Eine Satire gegen den Ehestand: «Les quinze joyes de mariage» (Parodie auf die mittelalterlichen «Joyes de Nostre-Dame»),
ging um 1450 ans der Feder desselben Schriftstellers hervor. (Vgl. Quinze joyes de mariage, hg. von Janet, Par. 1853.) Verwandten Geistes sind auch die Entscheidungen in Sachen der Minne («Arrests d'amour») des Pariser Prokurators Martial d'Auvergne, eine Schrift, die bis zur Mitte des 16. Jahrh. sich größter Verbreitung und höchster Wertschätzung erfreute. Im eigentlichen Frankreich, am Hofe Karls VIII., der Anna von Bretagne und Ludwigs XII., folgen dann die Dichter den Spuren ihrer burgund. Meister: Meschinot (gest. 1491), Chrétien aus Paris [* 8] (gest. 1525), Octavien de Saint-Gelais, Gringore und der letzte vielschreibende Vertreter der Rhetorik, Jean Bouchet (gest. um 1550). Die bürgerliche Satire dieses Zeitraums findet in den volkstümlichem Schriften Coquillarts ihren Ausdruck. - Überhaupt verstummt die volkstümliche Dichtung jetzt nicht.
Polit. und Liebeslieder, frei von den Unarten des höhern Stils, von wahrer Empfindung und natürlichem Ausdruck, sind in größerer Anzahl aus dieser Periode erhalten. (Vgl. G. Paris, (Chansons du XVe siècle, Par. 1875; Mor. Haupt, Franz. Volkslieder, Lpz. 1877.) Auch der Pariser Dichter François de Montcorbier, genannt Villon (1431 bis etwa 1461), ist ein echtes Talent von ursprünglicher Frische, dessen ungesuchte poet. Beredsamkeit in den Herzen seines Volks Widerhall fand. - Ihren populären Charakter bewahrte sich auch die Bühne. Die Blüte [* 9] der Mysteriendichtung ist vorüber, aber es werden doch noch neue Stücke geschrieben, wie «La destruction de Troye la grant» (neu hg. von Stengel, [* 10] Marb. 1883) von Jacques Miller (1425-66) aus Paris, worin (um 1452) der mittelalterliche Trojaroman dramatisiert ist, das «Mystère de Saint [* 11] Didier» (1482 zu Langres aufgeführt) von ¶
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Guillaume Flamang und «Saint Louis» von Gringore (1514) u. a. Die Farce hat jetzt ihre glänzendste Epoche. Das klassische Stück dieser Gattung, «Maître Pierre Pathelin», ist um 1470 entstanden. Auch die Moralitäten und Sottien erfreuen sich besonderer Beliebtheit. Pierre Gringore (etwa 1470-1534) dient der Politik Ludwigs XII. auf der Bühne mit der Moralität «L'homme obstiné» und der Sottie «Jeu du prince des sotz» (1512).
Vgl. E. Fournier, Le théâtre français avant la Renaissance (2. Aufl., Par. 1880);
Viollet-Leduc, Ancien théâtre français (10 Bde., ebd. 1854-57);
Recueil de farces etc. von Leroux de Lincy und Michel (4 Bde., ebd. 1837);
Nouveau recueil de farces von Picot und Nyrop (ebd. 1880);
Petit de Julleville, Répertoire du théâtre comique en France au moyen âge (ebd. 1886). -
Wie bemerkt, sind auch fast alle Meister des schönen Stils als Geschichtschreiber aufgetreten. Ihre Arbeiten werden aber ganz in Schatten [* 13] gestellt durch das nüchterne, von polit. Sinn erfüllte geschichtliche Memoirenwerk (1462-98) des Philippe de Comines. Nach ihm verdient noch Claude de Seyssel (gest. 1520) Erwähnung, wegen seiner «Histoire de Louis XII» und seiner «Grande monarchie de France».
Versuch einer Darstellung der altfranzösischen Periode der Aubertin, Histoire de la langue et de la littérature française au moyen âge (2. Aufl., 2 Bde., Par. 1884); ferner G. Paris, La littérature française au moyen âge (11. bis 14. Jahrh., 2. Aufl., ebd. 1890).
II. Neufranzösische Periode.
1) Das Zeitalter Franz' I. (etwa 1515-50). Unter Franz I. wurde der Bruch mit der mittelalterlichen Vergangenheit der vorbereitet. Die Umwälzung, welche die in das geistige Leben der Nation geworfenen Ideen der Reformation und Renaissance hervorbrachten, bewirkten in der litterar. Thätigkeit den Übergang aus einer unpersönlichen Gebundenheit und Formlosigkeit, die das ausgehende Mittelalter kennzeichnet, und der es durch Wort- und Verskünstelei vergebens zu entrinnen trachtete, zu der individuellern und mehr mit künstlerischem Bewußtsein geübten Behandlungsweise des modernen Zeitalters. Da nun aber gerade der Antrieb zum künstlerischen Schaffen durch den auch bei Hofe begünstigten Humanismus gegeben wurde, so bekümmerten sich die bevorzugten Geister Frankreichs nicht um die Entwicklung und Pflege der in der volkstümlichen Dichtung vorhandenen lebensfähigen Keime, und die herrschende Richtung strebte einer Litteraturepoche von gesellschaftlich (höfisch-) und gelehrt exklusivem Charakter entgegen.
Nirgends zeigt sich dies deutlicher als auf dem Gebiete des Volksschauspiels, das noch ein Menschenalter fortfuhr, durch alte
und neue Erzeugnisse die Menge zu ergötzen, aber unter den Anfeindungen religiöser Eiferer und humanistisch Gebildeter
dahinsiechte. Der Basoche und den Enfants
sans souci unterbanden polizeiliche Einschränkungen die Lebensader,
religiöse Schauspiele durften seit 1548 von der Passionsbruderschaft in Paris nicht mehr aufgeführt werden.
Die Hofdichter befreien sich jetzt von den Einflüssen der burgund. Schule und pflegen, in stofflicher Hinsicht von einzelnen antiken Dichtern beeinflußt, in leichter freierer Weise die Gelegenheitspoesie. Episteln, Elegien, Lieder, Rondels, Epigramme, auch schon Sonette, bilden hauptsächlich die litterar. Hinterlassenschaft von Clément Marot (1495-1544), dem Hofdichter Franz' I. Marot hat die klassischen Dichter der Lateiner nicht ohne Nutzen für seine Ppoet.
Ausbildung gelesen; obgleich vorzugsweise Gelegenheitsdichter, hat er doch eigene Individualität zum Ausdruck gebracht und sich einen persönlichen Stil (Style marotique) ausgebildet. Seine Parteinahme für die Reformation ergiebt sich aus feiner Psalmenübersetzung und andern geistlichen Dichtungen. Frische und Naivetät fehlt dagegen seinem Nachfolger Melin de Saint-Gelais (1491-1558), dessen ital. Bildung sich mit Leichtfertigkeit verbindet und ihn als Urbild des galanten franz. Hofabbés erscheinen läßt.
Von der religiösen Bewegung beeinflußt sind die Poesien der Königin Margarete von Navarra und ihres Anhangs, während in den Versen eines Maurice Scève und anderer Poeten eines Lyoner Kreises humanistische Gelehrtheit und ital. Platonismus sich aussprechen. Auch die schöne Seilerin von Lyon, [* 14] Louise Labé schließt sich dieser Richtung an. Ebenso der verdiente Latinist Etienne Dolet aus Orléans, der 1546 als Ketzer verbrannt wurde. In volkstümlichen Tone dichteten indessen Roger de Collerye (Roger Bontemps) und Jean du Pontalais («Contredictz de Songecreux»).
Der Eifer, mit dem Franz I. (durch Begründung des «Collegium trilingue», 1529, und einer königl. Druckerei u. s. w.) und Männer wie Budäus (1467-1540), Rob. und Heinr. Estienne (s. Stephanus), Lefèvre d'Etaples, Danès u. a. für die Aufnahme und Verbreitung der klassischen Studien in Frankreich wirkten, kam der zunächst am unmittelbarsten dadurch zu gute, daß die Schriften des Altertums, Prosa und Poesie, in schneller Folge in das Französische übertragen wurden.
Unter diesen Übersetzungen ist vor allem die prot. Bibel [* 15] des Olivetanus (1535) hervorzuheben. Fast gleichzeitig erschien die Bekenntnisschrift der franz. Reformation, Calvins «Christianae religionis institutio» (1536), deren franz. Übersetzung (1541) auch Epoche für die Geschichte der franz. Prosa gemacht hat. Auch aus dem Italienischen und aus dem Spanischen übersetzte man vieles, was litterar. Bedeutung beanspruchen durfte. Von größter Bedeutung war z. B. die von Herberay Des Essarts auf Wunsch des Königs unternommene Übertragung des span. «Amadis», der bald in Frankreich heimisch wurde wie ein franz. Originalwerk und für den Ritterroman von neuem das Interesse der Lesewelt erweckte.
Die Form des volkstümlichen Ritterromans parodierte François Rabelais (1495-1553) in seinem «Gargantua und Pantagruel» (1533-52), einer Schöpfung, die an Bedeutung und innerm Gehalt allen dichterischen Erzeugnissen der Epoche voransteht, und die als ein farbenreiches humoristisch-satir. Zeit- und Sittengemälde mittelalterliche und neuzeitliche Bestandteile in sich vereinigt und zugleich der entsprechendste Ausdruck wird der Hoffnungen, des Aufschwungs, der Kämpfe und Mißbräuche, der Meinungen und Widersprüche, welche das damalige Leben durchzogen und erfüllten. Auch der in seiner litterar. Fassung von Boccaccios Dekameron abhängige «Heptaméron» (gedruckt zuerst Par. 1558) der Königin Margarete, eine Sammlung von Erzählungen, Schwänken, Gesprächen und Betrachtungen, giebt in seiner Mischung von mittelalterlicher Indecenz, sentimentaler Romantik, platonischem Idealismus und religiöser Innigkeit getreulich die Zeitstimmungen wieder. Dagegen sind die «Nouvelle récréations et joyeux devis» ihres Sekretärs Des Périers (gest. 1544) eine ¶