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Ein Handelsvertrag mit Rußland, in dem Frankreich die Zölle auf Naphthaprodukte (Petroleum) auf die Hälfte des bisherigen Betrages herabsetzte und von Rußland wesentliche Zollermäßigungen für feinere Industrieerzeugnisse und Ackerbaugeräte erlangte, legte von neuem Zeugnis ab von den freundschaftlichen Beziehungen, die sich zwischen beiden Mächten entwickelt hatten. Grenzstreitigkeiten mit Siam spitzten sich im Juli zu einem Konflikt zu, als den Menam hinauffahrende franz. Kanonenboote von den Siamesen beschossen wurden. Frankreich forderte 20. Juli in einem Ultimatum Anerkennung des Mekong als Grenze und besetzte, als Siam mit der Annahme zögerte, Tschantabon. Erst 3. Okt. kam ein Vertrag zu stande, worin Siam auf das linke Mekongufer verzichtete.
Inzwischen fanden 20. Aug. die Neuwahlen zur Deputiertenkammer statt und ergaben mit den Stichwahlen 3. Sept. wieder eine Verstärkung [* 2] der Republikaner, aber auch der Socialisten, während die Hoffnungen der Ralliierten sich nicht erfüllten. Es wurden gewählt 409 Republikaner und Radikale, 79 socialistische Radikale und Socialisten, 29 Ralliierte und 64 Konservative. Kurz vorher (16. und 17. Aug.) war es zwischen franz. und ital. Arbeitern in Aiguesmortes zu blutigen Zusammenstößen gekommen, wobei eine Anzahl Italiener getötet und verwundet worden waren, ein Ereignis, das nicht dazu beitrug, das ohnehin gespannte Verhältnis zu Italien [* 3] zu verbessern. Dagegen feierte die Republik einen großen Triumph, als Rußland endlich den Kronstadter Flottenbesuch erwiderte. Am 13. Okt. traf ein auf der Heimreise von Amerika [* 4] begriffenes russ. Geschwader unter Admiral Avellan im Hafen von Toulon [* 5] ein, wo es bis 29. Okt. verweilte. Auf das überschwenglichste wurden die russ. Offiziere und Seeleute gefeiert, namentlich auch in Paris, [* 6] wohin sich ein Teil zum Besuch begab; ein Taumel der Begeisterung ergriff die franz. Bevölkerung [* 7] und erreichte seinen Gipfel, als Kaiser Alexander in einem Telegramm an Carnot von den «Banden, welche unsere beiden Länder vereinigen», sprach, in welchen Worten man die Existenz eines franko-russ. Bündnisses bestätigt zu finden glaubte.
Dieser Erfolg hinderte aber nicht, daß das Ministerium Dupuy bald darauf bei dem Versuch, sich einheitlicher zu gestalten und seine radikalen Mitglieder abzustoßen, zu Falle kam (25. Nov.). Erst nach langem Bemühen kam 3. Dez. ein neues Kabinett mit Ausschluß der Radikalen unter dem bisherigen Kammerpräsidenten Casimir-Perier zu stande, der zugleich das Auswärtige übernahm. Kammerpräsident an seiner Stelle wurde Dupuy, der gleich darauf Gelegenheit hatte, sich in dieser Stellung durch seine Kaltblütigkeit auszuzeichnen. In der Sitzung der Deputiertenkammer, 9. Dez., wurde von der Galerie eine Dynamitbombe in den Saal geschleudert, die über 20 Abgeordnete verletzte. Der Thäter, der Anarchist Vaillant, wurde alsbald ergriffen. Dies Attentat rief eine große Erbitterung gegen die Anarchisten hervor, und bereits 11. Dez. wurde eine Preßgesetznovelle in der Kammer angenommen, die die Verherrlichung von Verbrechen und auch die indirekte Aufreizung dazu unter Strafe stellte, und 15. Dez. drei weitere Gesetzentwürfe über den Verkehr mit Sprengstoffen, über Vereinigungen mit verbrecherischen Zwecken und wegen Bewilligung eines Kredits zur Verstärkung der Polizei. Trotzdem fanden nach der Hinrichtung Vaillants während der nächsten Monate noch mehrere anarchistische Bombenanschläge in Paris statt. Aber Casimir-Perier fuhr fort, nachdem durch die Konversion der 4½ prozentigen Rente in 3½ prozentige auch das Gleichgewicht [* 8] im Budget hergestellt worden war, die Regierung mit fester Hand [* 9] zu führen, und unterstützt von der Rechten, einen mehr konservativen Zug in die Politik zu bringen.
Dies sollte sich auch in dem Verhältnis zur Kirche geltend machen. Der Kultusminister Spuller erklärte 3. März in der Kammer, daß die Regierung in religiösen Fragen das Princip der Toleranz vertrete und dem «neuen Geist» der Versöhnung Rechnung tragen wolle. Aber die dadurch nur gesteigerten Machtgelüste der Kirche machten diese Versöhnlichkeit bald zu Schanden. Verordnungen betreffend die Rechnunglegung über die Kirchengüter fanden bei vielen Bischöfen und Geistlichen heftigen Widerstand, der durch ein, vom Papst allerdings später desavouiertes Rundschreiben des päpstlichen Nuntius Ferrata noch bestärkt wurde.
Die Regierung konnte nicht umhin, zur Wahrung der staatlichen Autorität gegen mehrere renitente Bischöfe, namentlich den Erzbischof von Lyon, [* 10] mit Maßregelungen einzuschreiten. Nun hatte sie auch die Rechte gegen sich, ohne darum doch die Radikalen für sich gewonnen zu haben, und so kam sie bei der nächsten Gelegenheit zu Falle. Als die Kammer 22. Mai das Verbot, daß Angestellte der Staatsbahnen [* 11] an Arbeiterkongressen teil nähmen, mißbilligte, nahm das Ministerium seine Entlassung.
Dupuy bildete nun wieder ein Kabinett (30. Mai). Eine hervorragende Stellung nahm darin der Minister des Auswärtigen, Hanoteaux, ein, der sogleich mit Energie gegen das zwischen England und dem Kongostaat [* 12] 20. Mai geschlossene Abkommen vorging, durch das man F.s Vorzugsrechte im Kongobecken mißachtet und auch die Rechte der Pforte im äquatorialen Sudan geschmälert glaubte. Dieser Aktion ging parallel eine ähnliche Deutschlands, [* 13] mit welchem Staat Frankreich schon unter dem vorigen Ministerium 18. März ein sehr günstiges Abkommen über die Abgrenzung der beiderseitigen Machtsphären in Westafrika getroffen hatte, wodurch Frankreich der Zugang zum Tsadsee gesichert war. Inzwischen wurde die Aufmerksamkeit von diesen Dingen abgelenkt durch die Ermordung des Präsidenten Carnot. Als dieser bei einem Besuch in Lyon 24. Juni abends nach dem Theater [* 14] fuhr, wurde er von dem ital. Anarchisten Caserio, der sich auf das Trittbrett des Wagens schwang, durch einen Dolchstoß schwer verwundet und starb wenige Stunden danach. In der durch diese That hervorgerufenen Erregung machte namentlich die Teilnahme des Deutschen Kaisers und die damit verbundene Begnadigung zweier in Deutschland [* 15] wegen Spionage verurteilten franz. Marineoffiziere einen tiefen Eindruck.
19) Unter der Präsidentschaft Casimir-Periers und Faures (seit 1894). In dem am 27. Juni Versailles [* 16] zusammengetretenen Kongreß wurde gleich im ersten Wahlgang Casimir-Perier, der nach dem Sturz seines Ministeriums wieder Kammerpräsident geworden war, mit 451 von 851 Stimmen zum Präsidenten der Republik gewählt. In ihm sah man in der Furcht vor der anarchistischen und socialistischen Gefahr den Retter des republikanischen Staatswesens. Die meisten Stimmen nach Casimir-Perier hatte der Radikale Brisson (191), der dann in der Deputiertenkammer zum Präsidenten ¶
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gewählt wurde, wo ihm die Regierungspartei nicht einmal einen Kandidaten entgegensetzte. Das Kabinett Dupuy reichte seine Entlassung ein, wurde aber vom Präsidenten der Republik wiederberufen. Ein neues Gesetz gegen die anarchistische Propaganda gelangte darauf schon 26. Juli in der Kammer, 27. Juli im Senat zur Annahme. Einen bedeutenden Erfolg hatte die Regierung durch den am 14. Aug. zu Paris mit dem Kongostaat abgeschlossenen Vertrag. Darin verzichtete der Kongostaat auf die Besetzung nördlich vom 5. Breitengrade und östlich über den 30.° östl. L. hinaus, wodurch die in dem Vertrag mit England von diesem an den Kongostaat erfolgte «Verpachtung» von Gebiet am obern Nil nichtig wurde und hier der Rivalität F.s mit England freies Feld gelassen wurde. War hier eine der kolonialen Bestrebungen drohende Gefahr durch geschickte Diplomatie rasch beseitigt worden, so führte das Verhalten Madagaskars, das sich den Konsequenzen des franz. Protektorats zu entziehen suchte, zum Kriege. Als ein franz. Ultimatum im Oktober unbeantwortet blieb, wurde ein Expeditionskorps nach Madagaskar [* 18] eingeschifft, wo es zunächst 12. Dez. Tamatave besetzte.
Im Innern war die größte Sorge der Steuerreform zur endgültigen Deckung des Deficits zugewendet. Es sollte die Erbschaftssteuer einträglicher gestaltet und eine progressive Einkommensteuer eingeführt werden. Doch kam es nicht zu einem Abschluß dieser Reform, da das Ministerium Dupuy zuvor durch geschicktes Operieren der Radikalen und Socialisten gestürzt wurde. In einer Streitfrage wegen der Dauer der vom Staat vor 12 Jahren der Orléans- und Südbahn geleisteten Zinsgarantie hatte der Staatsrat zu Gunsten der Bahnen entschieden und der Arbeitsminister Barthou daraus die Konsequenz gezogen, seine Entlassung zu nehmen, während das Ministerium im übrigen sich der Entscheidung des Staatsrates unterwerfen zu wollen erklärte.
Hierdurch wurde der Staat mit bedeutenden Mehrausgaben belastet. Diesen Umstand benutzte die Opposition, eine nicht von der Regierung gebilligte Tagesordnung zur Annahme zu bringen, worauf Dupuy die Demission des Ministeriums einreichte. Dies Entlassungsgesuch hatte aber eine ganz unerwartete Folge: der Präsident der Republik selbst legte sein Amt nieder. Die innern Gründe dieses überraschenden Schrittes darzulegen behielt er sich für eine spätere passende Zeit vor.
Jedenfalls glaubte er sich in seinem Bestreben, der Republik ehrlich zu dienen, durch den Mangel an aufrichtiger Unterstützung selbst in seiner nächsten polit. Umgebung gehindert zu sehen. Angeekelt durch das interessierte Parteitreiben und die persönlichen Verunglimpfungen, denen er schutzlos preisgegeben war, zog er sich von einem Amte zurück, worin er nicht, wie er gehofft hatte, einen entscheidenden Einfluß auf die Regierung auszuüben vermochte.
Der Kongreß zur Wahl eines neuen Präsidenten trat 17. Jan. zusammen. Im ersten Wahlgang erhielten von 794 abgegebenen Stimmen Brisson 338, Faure 244 und Waldeck-Rousseau 184; da letzterer zu Gunsten Faures verzichtete, wurde dieser, der im letzten Kabinett Dupuy Marineminister gewesen war, im zweiten Wahlgang mit 430 Stimmen gewählt, während Brisson 361 erhielt. In der verworrenen Lage gelang es dem neugewählten Präsidenten erst nach langen Verhandlungen 27. Jan. ein neues Ministerium von gemäßigter Färbung unter Ribot einzusetzen.
Seine erste Amtshandlung war die Einbringung einer 28. Jan. in der Kammer angenommenen Amnestie für die wegen Komplotts gegen die innere Sicherheit des Staates und wegen Preß- und Streikvergehen Verurteilten. Dadurch erhielt auch Rochefort die Erlaubnis zur Rückkehr nach Frankreich. Der wichtigste Minister im neuen Kabinett war Hanoteaux, der das Auswärtige behalten hatte und noch weiter mit Entschiedenheit leitete. Als der engl. Unterstaatssekretär Sir Edward Grey im Unterhause es als eine «Unfreundlichkeit» gegen England bezeichnete, wenn Frankreich im Gebiete des obern Nils weitere Fortschritte zu machen suchen sollte, wies er dies in einer Rede im Senat 5. April geschickt zurück. Er scheute sich auch nicht, obwohl schon die Annahme der Einladung Deutschlands zur Eröffnung des Nordostseekanals von einem Teil der franz. Presse [* 19] wütend bekämpft worden war, eine gemeinsame Aktion nicht nur mit Rußland, sondern auch mit Deutschland gegen den zwischen China [* 20] und Japan 17. April geschlossenen Friedensvertrag von Shimonoseki einzuleiten. Die schwierige Reform der direkten Steuern, bei der die demokratischen Wünsche der Radikalen den Anschauungen der Gemäßigten gegenüber standen, schob die Regierung auf, und so kam endlich ohne diese 13. April das Budget für 1895 zu stande, worauf sich die Kammern bis Mitte Mai vertagten.
Litteratur zur französischen Geschichte. Über die Quellen zur franz. Geschichte und deren Bearbeitungen orientiert am zuverlässigsten G. Monod, Bibliographie de l'histoire de France, depuis les origines jusqu'en 1789 (Par. 1888) und der Catalogue de l'histoire de France de la Bibliothèque nationale (Bd. 1-11, ebd. 1855-79).
Von allgemeinen Werken über das ganze Gebiet der franz. Geschichte verdienen Erwähnung: Guizot, Essai sur l'histoire de France (Par. 1823; 14. Aufl. 1877);
Michelet, Histoire de France (neue Aufl., 19 Bde., ebd. 1878-79) nebst dem Abrégé d'histoire de France (2 Bde., ebd. 1881);
Martin, Histoire de France (4. Aufl., 17 Bde., ebd. 1856-60);
Dareste de la Chavanne, Histoire de France, depuis les origines jusqu'à nos jours (3. Aufl., 9 Bde., 1885);
E. A. Schmidt, Geschichte von Frankreich (4 Bde., Hamb. u. Gotha [* 21] 1835-48);
Guizot, Histoire de la civilisation en France (15. Aufl., 4 Bde., Par. 1890);
Rambaud, Histoire de la civilisation française (3 Bde., ebd. 1885-88);
Warnkönig, Franz. Staats- und Rechtsgeschichte (3 Bde., Bas. 1846-48);
Viollet, Précis de l'histoire du droit français (Par. 1885);
ders., Histoire des institutions politiques et administratives de la France (2 Bde., ebd. 1889 fg.);
Glasson, Histoire du droit et des institutions de la France (Bd. 1-5, ebd. 1887-93);
Chéruel, Dictionnaire historique des institutions, mœurs et coutumes de la France (6. Aufl., 2 Bde., ebd. 1884);
ders., Histoire de l'administration monarchique en France depuis l'avènement de Philippe Auguste jusqu'à la mort de Louis XIV (2 Bde., ebd. 1855);
Picot, Histoire des États généraux, 1365-1614 (5 Bde., ebd. 1888);
Thierry, Essai sur l'histoire du tiers-état (ebd. 1853);
Bailly, Histoire financière de la France (2 Bde., ebd. 1830);
Clamageran, Histoire de l'impôt en France (3 Bde., ebd. 1867-76);
Granier de Cassagnac, Histoire des classes nobles et des classes anoblies (ebd. 1840);
Levasseur, Histoire des classes ouvrières en France (bis 1789; 2 Bde., ¶