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nicht der Friede ein. Der Überfall einer franz. Kolonne durch die Chinesen 23. und bei Langson brachte den Krieg von neuem zum Ausbruch. Da derselbe in Frankreich sehr unbeliebt war, so scheute sich die Regierung, immer neue Kredite zur Ausrüstung von Verstärkungsmannschaften den Kammern abzuverlangen, und trat deshalb von Anfang an mit ungenügenden Streitkräften auf dem Kriegsschauplatze auf. Die Niederlage des Generals Negrier bei Langson machte in Frankreich den tiefsten Eindruck und brachte Veränderungen in der innern und auswärtigen Politik mit sich, die sich zunächst im Sturze des Ministeriums Ferry ausdrückten.
Die Kolonialpolitik hatte ihre hauptsächlichsten Gegner im Lande an denjenigen, die die erste Aufgabe F.s in dem Revanchekrieg gegen Deutschland [* 2] sahen. Sie erklärten die Entsendung von namhaften Streitkräften für eine Schädigung dieses Zwecks und waren mächtig genug, um z. B. den König Alfons XII. von Spanien, [* 3] als er im Sept. 1883 nach Paris [* 4] kam, durch den Pöbel insultieren zu lassen, weil er in Straßburg [* 5] die Uniform des ihm verliehenen deutschen Ulanenregiments getragen hatte.
Besonders erbitterte es die chauvinistischen Gegner Ferrys, daß er in der Kongofrage die Einladung Bismarcks zu einer Konferenz angenommen hatte (s. Kongostaat), [* 6] und als nun im März 1885 jene Unfälle in Asien [* 7] bekannt wurden und Ferry daraufhin größere Kredite (200 Mill.) beanspruchte, da brach der Sturm gegen ihn los: die Opposition unter der leidenschaftlichen Führung Clémenceaus warf ihm Verfassungsbruch vor, weil er ohne die Genehmigung der Deputierten Krieg mit China [* 8] führe, und sogar Landesverrat, da er die Gefahr der Lage verschwiegen habe. Am wurde der Kredit mit 308 gegen 161 stimmen verweigert, und Ferry gab seine Entlassung. Der Dringlichkeitsantrag der Opposition, das Ministerium in Anklagezustand zu versetzen, wurde mit 304 gegen 161 Stimmen abgelehnt.
Der Nachfolger Ferrys, der Kammerpräsident Brisson, hatte insofern leichteres Spiel, als jener bereits den Frieden mit China angebahnt hatte und die Erfolge der franz. Flotte bei der Insel Formosa den Hof [* 9] zu Peking [* 10] nachgiebig machten. Am 4. April kam es in Paris zu Präliminarien, 9. Juni zum Definitivfrieden von Tien-tsin, worin sich China zur Räumung Tongkings und zur Verzichtleistung auf die Oberhoheit über Annam verstand, Frankreich dagegen auf Kriegskostenentschädigung keinen Anspruch erhob.
Nach der Beilegung dieses Streites konnte sich Brisson mit innern Fragen beschäftigen. Das wenige Tage vor Ferrys Sturz in der Kammer beschlossene Listenwahlgesetz wurde 23. Mai auch vom Senat genehmigt, nur mit der Einschränkung, daß in die der Wahl zu Grunde liegende Bevölkerungsziffern die Ausländer nicht einzurechnen und die Mitglieder der frühern Herrscherhäuser nicht wählbar seien. Die Kammer gab hierzu ihre Zustimmung, und 17. Juni wurde das neue Wahlgesetz verkündet, wonach die Kammer fortan 584 Mitglieder zählen sollte.
Brisson hatte die Annahme dieses Gesetzes betrieben in der Meinung, damit eine gesicherte republikanische Mehrheit zu erreichen, aber man erfuhr eine ungeheure Enttäuschung. Das neue Wahlgesetz verhalf bei den Wahlen einer großen Anzahl Monarchisten zu Mandaten. Freilich wurden dann bei den 270 Stichwahlen durch Kompromisse mit den Radikalen fast nur Republikaner gewählt, doch waren dadurch 115 Radikale in die Kammer gelangt, die mit den Gemäßigten gemeinsam allerdings die Mehrheit den 200 Monarchisten gegenüber bildeten, von denen aber doch fraglich war, ob sie stets bereit sein würden, das Ministerium zu unterstützen.
Die Lage war eine ganz veränderte. Dies bekam Brisson sofort zu empfinden, als er, um die Stellung F.s in Asien aufrecht zu halten, von der neuen Kammer einen Kredit von 70 Mill. forderte und diesen nur mit 274 gegen 270 Stimmen zugestanden erhielt. Auch Grévy erfuhr den Wechsel der Dinge, als sich bei seiner Neuwahl zum Präsidenten im Kongreß nur 457 Stimmen (15 über die absolute Majorität) auf ihn vereinigten. Brisson gab, da er nur jene geringe Mehrheit in der Kammer gefunden hatte, seine Entlassung, und trat Freycinet an seine Stelle, der aus Opportunisten und Radikalen ein neues Kabinett bildete. Sadi Carnot übernahm darin die Finanzen, Sarrien das Innere, Goblet den Unterricht, Baïhaut die Bauten, Lockroy den Handel, Demôle die Justiz, Develle den Ackerbau, Granet die Post, Aube die Marine und Boulanger, von Clémenceau protegiert, das Portefeuille des Krieges.
So hatten die letzten Abgeordnetenwahlen ergeben, daß das Ministerium sich nicht mehr auf eine einzige starke Partei in der Kammer stützen konnte, sondern jetzt auch die Hilfe der Radikalen durch allerlei Zugeständnisse erkaufen mußte. Dies zeigte sich gleich im Jan. 1886, als Rochefort den Antrag auf eine allgemeine Amnestie an Stelle der beschränkten, wie sie Grévy erlassen hatte, stellte und die Kammer 21. Jan. die Dringlichkeit mit 3 Stimmen Mehrheit votierte. Da machte die Regierung die Wahrnehmung, daß sogar eine Koalition der Monarchisten und der hartnäckigsten Republikaner möglich war.
Freilich zerfiel dieses unnatürliche Bündnis sofort, als es bald nachher bei Arbeiterunruhen in Decazeville zur Ermordung eines Beamten kam und man die Unruhen auf socialistische Umtriebe zurückführte. Jener Antrag Rocheforts fiel, aber immerhin zog Freycinet daraus die Lehre, [* 11] daß er sich zu Konzessionen an die Radikalen werde herbeilassen müssen, wozu sich alsbald die Gelegenheit bot, als die Frage der Ausweisung der Prinzen zur Sprache [* 12] kam. Denn namentlich ihrem Einflusse glaubte man die Wahl jener 200 Monarchisten im Oktober zuschreiben zu müssen.
Freycinet widerlegte diese Meinung, als der Radikale Daché den bezüglichen Ausweisungsantrag stellte, und es gelang ihm, noch 4. März denselben zu Fall zu bringen. Als dann aber das fast monarchische Auftreten des Grafen von Paris bei Gelegenheit der Vermählung seiner Tochter Amélie mit dem Kronprinzen Karl von Portugal neuerdings das Mißtrauen der Republikaner erregte, vereinigten sich beide Kammern über die Bestimmungen eines Gesetzes, das dem Antrage des Abgeordneten Brousse zufolge im Juni folgende Hauptpunkte festsetzte: die Häupter der franz. Regentenfamilien und deren nächstberechtigte Erben sind aus Frankreich verwiesen; die Regierung kann durch Dekret auch die andern Mitglieder verbannen; Übertretung dieses Verbotes wird mit Gefängnis von 2 bis 5 Jahren bestraft. Das Gesetz erschien im Amtsblatt, und schon am nächsten Tage begaben sich der Graf von Paris, sein Sohn Louis Philipp Robert, Prinz Jérôme Napoleon und sein ältester Sohn Victor ins Ausland; da das Gesetz aber auch die übrigen Prinzen von allen ¶
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öffentlichen oder Wahlämtern ausschloß, so wurde auch der Herzog von Aumale, der, wie die Herzöge von Chartres und von Alençon, bereits durch das Dekret vom in den Stand der Nichtaktivität versetzt worden war, durch ein Dekret des Präsidenten Grévy vom seines Ranges als General entkleidet. Ebenso verloren die Herzöge von Chartres, von Alençon, von Nemours, von Penthièvre, der Prinz von Joinville, Roland Bonaparte, Murat und Sohn ihre Offiziersstellen.
Aumale wurde wegen eines hochmütigen, zurechtweisenden Briefs an Grévy verbannt. Die Seele dieser Maßregeln war Boulanger, der sich damit den Radikalen für ihre Protektion dankbar zu erweisen dachte. Um sich an ihm zu rächen, ließ Aumale einen Brief veröffentlichen, den jener 1880 an ihn geschrieben hatte und der die Versicherung enthielt, daß der Schreiber den Tag für gesegnet halten würde, der ihn unter das Kommando des Herzogs zurückriefe. Den üblen Eindruck, den diese Publikation machte, durch die er als charakterloser Streber entlarvt wurde, suchte der General durch maßlosen Chauvinismus wieder wett zu machen, sodaß Freycinet alle Mühe hatte, auf einer Rundreise im Sept. 1886 durch Betonung [* 14] der Friedenspolitik den Eindruck abzuschwächen und die Mißstimmung in Berlin [* 15] zu beschwichtigen.
Die gesetzgeberische Thätigkeit der Kammern, deren erste Session von 1886 am 15. Juli geschlossen wurde, hatte außer dem Ausweisungsgesetz und einem Spionagegesetz keine erwähnungswerten Leistungen aufzuweisen. Die neue Session, die eröffnet wurde, erledigte zunächst das Gesetz über die Organisation des Elementarunterrichts, das die Kammer in dem vom Senat 30. März beschlossenen Wortlaut 28. Okt. annahm. Der Kernpunkt lag im Art. 17, der bestimmte, daß in allen Gemeindeschulen F.s nur weltliche Elementarlehrer angestellt werden dürfen; die Emancipation dieser Schulen von der Herrschaft der Geistlichkeit war eine vollständige; der Religionsunterricht wurde aus der Schule verbannt.
Das Kabinett Freycinet scheiterte an den schlechten Finanzzuständen, denen die mit unzulänglicher Kraft [* 16] ergriffene und auf halbem Wege abgebrochene Expansivpolitik in Hinterasien natürlich nicht aufgeholfen hatte, um so weniger, als das Armeebudget bis auf jährlich 833 Mill. anwuchs und Boulanger für Melinitbomben, Repetiergewehre, Baracken u. dgl. 360 Mill. forderte. Die Kammer rief nach Ersparungen, und die Radikalen wünschten diese am Bestand der Beamten zu machen. Einer der Ihrigen, Colfavru, beantragte die Streichung sämtlicher Unterpräfektenstellen, während die Regierung sich nur zu einer allmählichen Reduktion derselben bereit erklärte. Da traten die Monarchisten der äußersten Linken zur Seite, und als Freycinet aus diesem Anlaß die Vertrauensfrage stellte, wurde der radikale Antrag mit 262 gegen 247 Stimmen angenommen, und Freycinet gab seine Entlassung.
Die Unzuverläßigkeit der republikanischen Kammermehrheit machte es für Grévy schwierig, einen Nachfolger zu finden. In diesem Augenblicke ward eine Lösung der Krisis nur dadurch möglich, daß der bisherige Unterrichtsminister Goblet 10. Dez. ein neues Kabinett bildete, in dem acht Minister des vorigen blieben, darunter auch der Kriegsminister Boulanger. Der Vicepräsident des Staatsrates, Flourens, übernahm das Portefeuille des Auswärtigen, Dauphin die Finanzen, Berthelot den Unterricht.
Jedenfalls fehlte zunächst Freycinets mäßigende Hand, [* 17] während Boulangers treibender Eifer freieres Spiel fand. Darum kündigte sich auch das J. 1887 sehr kriegerisch an. Zu den kriegerischen Symptomen gehörten außer Boulangers Militärvorlage, die wesentliche Reformen in der Armee einführen und diese um 44000 Mann vermehren wollte, auch die Rüstungen [* 18] an der franz. Ostgrenze, wo die Garnisonen verstärkt und Baracken zur Aufnahme neuer Truppen gebaut wurden.
Dazu kamen die Aufreizungen der Patriotenliga und eines großen Teils der Pariser Presse [* 19] gegen Deutschland, sowie die fortgesetzten, bisher vergeblichen Versuche, eine Allianz mit Rußland abzuschließen. Alles dies erregte nicht bloß in Deutschland, dem diese Kundgebungen zunächst galten, sondern in ganz Europa [* 20] große Beunruhigung und veranlaßte alle Staaten zu militär. Rüstungen. Man glaubte den Ausbruch eines europ. Krieges für Beginn des Frühjahrs als sicher bezeichnen zu können.
Als aber die franz. Regierung die Entschlossenheit Deutschlands [* 21] sah, die namentlich in den Reichstagswahlen im Februar zum Ausdruck kam, und wohl erkannte, daß dasselbe infolge der Einführung des Repetiergewehres einen Vorsprung in den Kriegsrüstungen hatte, ermäßigte sich ihr Kriegseifer. Sie sandte in offiziöser Eigenschaft den Grafen Lesseps nach Berlin, um den dortigen Regierungskreisen genaue Nachrichten von den friedlichen Absichten des franz. Ministeriums zu geben.
Die Stimmung wurde allmählich eine ruhigere, bis es Ende April 1887 zu einer neuen Aufwallung der kriegerischen Leidenschaften in Frankreich kam. Gegen den im Grenzdienst angestellten franz. Polizeikommissar Schnäbele war wegen Spionage in seinem Heimatlande Elsaß-Lothringen [* 22] vom Reichsgericht in Leipzig [* 23] ein Haftbefehl erlassen worden. Als nun Schnäbele 20. April behufs einer mit dem deutschen Polizeikommissar Gautsch verabredeten geschäftlichen Zusammenkunft die Grenze bei Novéant überschritten hatte, wurde er von zwei deutschen Kriminalbeamten verhaftet und nach Metz [* 24] abgeführt.
Die franz. Presse, auf einige unzuverlässige Aussagen angeblicher Augenzeugen sich stützend, behauptete nun, daß die Verhaftung Schnäbeles auf franz. Boden erfolgt sei, worauf die Organe der Kriegspartei mit Leidenschaft den willkommenen Anlaß ergriffen. Im franz. Ministerrat wurde die Mobilmachung der Armee beantragt und nur mit 7 gegen 5 Stimmen unter dem mäßigenden Einfluß des Präsidenten Grévy abgelehnt. Selbst der Ministerpräsident Goblet war der populären Strömung unterlegen und hatte Krieg in Aussicht gestellt, wenn Schnäbele nicht ausgeliefert würde. Da kam Bismarck den Friedliebenden in Frankreich entgegen, denn obgleich eine genaue Untersuchung die Schuld Schnäbeles erwiesen hatte, wurde er doch 30. April in Freiheit gesetzt.
Als leitenden Gesichtspunkt hierbei machte der Fürst geltend, daß Grenzüberschreitungen, die auf Grund dienstlicher Verabredungen erfolgen, als unter der Zusicherung freien Geleites stehend anzusehen seien. Und noch einmal im selben Jahre kam es zu einem ähnlichen Zwischenfall, als im September ein franz. Jagdtreiber, Brignon, durch einen deutschen Jäger im Grenzgebiet erschossen wurde. Wieder war es Deutschland, das nachgab und durch die Höhe der an die Witwe gezahlten Entschädigungssumme, 50000 Reichsmark, die erregten Geister beschwichtigte. ¶