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Elementen zu säubern. Am 25. Juli genehmigte der Senat das Gesetz mit geringen Modifikationen, denen die Kammer am 31. zustimmte. In demselben demokratischen Zuge bewegten sich auch die andern Reformen im Innern: die Abschaffung des religiösen Eides bei Gericht und die Wiedereinführung der Ehescheidung. Ferner die längst verlangte Verfassungsänderung, die Ferry 1884 nicht mehr umgehen konnte. Er unternahm sie vornehmlich im Sinne einer Reorganisation des Senats, indem er 24. Mai eine Vorlage einbrachte, die ein Vierfaches bezweckte: einmal, daß keine Revision sich auf die Abschaffung der Republik ausdehnen dürfe, zweitens die Abänderung des Senatswahlgesetzes, drittens die Beseitigung der lebenslänglichen Senatoren, und endlich die Beschränkung des Budgetrechts des Senats.
Der letzte Punkt war beim Senat nicht durchzusetzen, und man ließ ihn fallen. Dagegen ward erreicht, daß an die Stelle der 75 lebenslänglichen Senatoren solche traten, die nur auf 9 Jahre ernannt wurden, und zwar von beiden Kammern, während die übrigen von erweiterten Wahlkörpern, in die fortan die franz. Gemeinden je nach ihrer Größe einen oder mehrere (Paris [* 2] 30) Wahlmänner senden, gewählt wurden Einige Monate vorher, hatte der nach Versailles [* 3] berufene Kongreß als Staatsgrundgesetz erklärt, daß kein Mitglied der ehemaligen Regentenhäuser jemals zum Präsidenten der Republik gewählt werden dürfe, und daß die endgültige Regierungsform F.s die republikanische sei.
Während der Festigungsprozeß der Republik in dieser Weise fortschritt, verloren die Legitimisten in dem Grafen Chambord (Henri V.) ihren Thronprätendenten Nun wurde der Graf von Paris von Legitimisten und Orleanisten als legitimer Thronkandidat angesehen. Derselbe hielt sich aber zunächst von polit. Kundgebungen fern. Ebensowenig trat Prinz Napoleon, das Haupt der Bonapartisten, hervor, weil sich der konservativ-klerikale Teil seiner Anhänger von ihm ab und im Mai 1884 seinem Sohne Victor zuwandte.
Mit der Konsolidierung der Republik Hand [* 4] in Hand ging der Fortschritt in Fragen der Kirche und Schule, woraus schon im April 1883 ein Zerwürfnis mit den ultramontanen Bischöfen zu entstehen drohte, die einige an Staatsschulen benutzte Lehrbücher in ihren Hirtenbriefen verboten. Die Regierung erklärte dies als Anmaßung und betonte ihr Recht, widerstrebenden Priestern den Gehalt zu verweigern. Sie entwarf ein Gesetz über die Bestrafung von Geistlichen, die dem Konkordat zuwiderhandelten, entfernte die Priester aus den Spitälern und brachte Febr. und März 1884 in der Kammer das Gesetz zur Annahme, daß Ordensleute (Kongregationisten) an öffentlichen Schulen nicht mehr unterrichten dürften. Diese Maßnahmen führten zu einer Beschwerde des Papstes, auf die Grévy versöhnlich erwiderte, wodurch ein offener Konflikt vermieden wurde.
Weit mehr Schwierigkeiten verursachte dem Ministerium Ferry die finanzielle Lage des Staates. Die Einnahmen waren seit 1874 um 4 Milliarden hinter den Ausgaben zurückgeblieben, die Steuereingänge nahmen von Monat zu Monat ab, die gesamte Wirtschaft des Landes war im Rückgänge, die Ausfuhr heimischer Fabrikate wurde geringer, und die Einfuhr fremder stieg stetig, sodaß in den ersten 6 Monaten 1883 der Export gegen den Import um 729 Mill. Frs. zurückblieb. Anarchistenprozesse (des Fürsten Krapotkin, der Louise Michel) zeugten für die wirtschaftlichen Mißstände laut genug.
Das Deficit war bisher durch Anleihen, Schatzscheine, Vorschüsse der Bank u. dgl. mühsam gedeckt worden. Diese Mittel reichten fürder nicht mehr aus, und Ferry mußte an entscheidendere Maßregeln denken. Es ergaben sich zunächst zwei:
1) die Umwandlung der 5prozentigen Rente in eine 4½prozentige, wodurch man jährlich 35 Mill. ersparte, und wozu die beiden Kammern im April 1883 ihre Zustimmung gaben, und 2) der Verzicht auf die Verstaatlichung der Eisenbahnen, indem man den Ausbau der Linien, der bisher das außerordentliche Budget mit einigen Hundert Millionen jährlich belastet hatte, den Privatgesellschaften vertragsmäßig überließ. Die Kammer genehmigte das Gesetz und die franz. Finanzen waren wieder, wenigstens annähernd, ins Gleichgewicht [* 5] gebracht, ohne jedoch einer Anleihe vollständig entraten zu können.
Gleichzeitig dachte aber Ferry eine weitausgedehnte Kolonialpolitik durchzuführen, um den Export zu beleben. Man sprach von einem Sahara-Meer, von einer Eisenbahn an den Niger, von Massenkolonisationen. Dazu allerdings waren die Staatsmittel zu knapp. Aber diese Expansionspolitik führte Frankreich doch bis nach Madagaskar [* 6] und Tongking, [* 7] wo es Protektorate anstrebte. Der Erfolg der Expedition nach Madagaskar (s. d.) war gering. In dem Friedensschluß, der Dez. 1885 unter ital. Vermittelung zu stande kam, mußte Frankreich auf die Erwerbung Nordmadagaskars verzichten und behielt sich nur die Besetzung der an der Nordostspitze gelegenen Bucht Diego Suarez vor. Die Königin mußte 10 Mill. Frs. Kriegsentschädigung leisten, bis zu deren Bezahlung Frankreich den Hafen von Tamatave behielt.
Mehr Erfolg wies die Expedition nach Tongking (s. d.) auf. In Ostasien hatte Frankreich seit der Erwerbung von Saigon durch Napoleon III. (1862) bestimmte Interessen zu wahren. Häufige Reibungen blieben nicht aus, und als sich der Gouverneur von Cochinchina gegen die Überfälle von Seeräubern selbständig Genugthuung zu verschaffen suchte, kam es 1882 zu ernsten Feindseligkeiten zunächst mit Annam (s. d.), mit dem jedoch bald zu Huë ein Vertrag zu stande kam, der es in ähnliche Abhängigkeit von Frankreich brachte wie Tunis: [* 8] die auswärtige Politik und die Zolleinnahmen gingen auf die franz. Regierung über, dem Kaiser der Annamiten blieb nur die innere Verwaltung und seine Civilliste Nun ging es gegen den Piratenstaat der «Schwarzflaggen», aber mit so empfindlichen Opfern und so wenig Erfolg, daß Ferry Unterhandlungen mit China [* 9] anknüpfte, damit dieses seine Hilfstruppen, mit denen es die Schwarzflaggen unterstützte, zurückrufe.
Die Verhandlungen verliefen erfolglos, es kam zu einem förmlichen Kriege mit China, und erst als der franz. Konteradmiral Courbet die Außenwerke der Stadt Son-tai erstürmte und die Stadt besetzte, Bac-Ninh und 12. April Hung-hoa eroberte, brachten diese Erfolge zu Wege, daß sich China zu einem Abkommen bequemte. Am wurde in Tien-tsin ein Präliminarvertrag abgeschlossen, worin die Regierung zu Peking [* 10] alle Rechte aus Annam und Tongking aufgab. Bald darauf, kam auch ein neuer Vertrag mit Annam zu stande, der die auswärtige Politik dieses Reichs vollständig unter den Willen des franz. Residenten stellte. Trotz dieser Verträge stellte sich aber doch noch lange ¶
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nicht der Friede ein. Der Überfall einer franz. Kolonne durch die Chinesen 23. und bei Langson brachte den Krieg von neuem zum Ausbruch. Da derselbe in Frankreich sehr unbeliebt war, so scheute sich die Regierung, immer neue Kredite zur Ausrüstung von Verstärkungsmannschaften den Kammern abzuverlangen, und trat deshalb von Anfang an mit ungenügenden Streitkräften auf dem Kriegsschauplatze auf. Die Niederlage des Generals Negrier bei Langson machte in Frankreich den tiefsten Eindruck und brachte Veränderungen in der innern und auswärtigen Politik mit sich, die sich zunächst im Sturze des Ministeriums Ferry ausdrückten.
Die Kolonialpolitik hatte ihre hauptsächlichsten Gegner im Lande an denjenigen, die die erste Aufgabe F.s in dem Revanchekrieg gegen Deutschland [* 12] sahen. Sie erklärten die Entsendung von namhaften Streitkräften für eine Schädigung dieses Zwecks und waren mächtig genug, um z. B. den König Alfons XII. von Spanien, [* 13] als er im Sept. 1883 nach Paris kam, durch den Pöbel insultieren zu lassen, weil er in Straßburg [* 14] die Uniform des ihm verliehenen deutschen Ulanenregiments getragen hatte.
Besonders erbitterte es die chauvinistischen Gegner Ferrys, daß er in der Kongofrage die Einladung Bismarcks zu einer Konferenz angenommen hatte (s. Kongostaat), [* 15] und als nun im März 1885 jene Unfälle in Asien [* 16] bekannt wurden und Ferry daraufhin größere Kredite (200 Mill.) beanspruchte, da brach der Sturm gegen ihn los: die Opposition unter der leidenschaftlichen Führung Clémenceaus warf ihm Verfassungsbruch vor, weil er ohne die Genehmigung der Deputierten Krieg mit China führe, und sogar Landesverrat, da er die Gefahr der Lage verschwiegen habe. Am wurde der Kredit mit 308 gegen 161 stimmen verweigert, und Ferry gab seine Entlassung. Der Dringlichkeitsantrag der Opposition, das Ministerium in Anklagezustand zu versetzen, wurde mit 304 gegen 161 Stimmen abgelehnt.
Der Nachfolger Ferrys, der Kammerpräsident Brisson, hatte insofern leichteres Spiel, als jener bereits den Frieden mit China angebahnt hatte und die Erfolge der franz. Flotte bei der Insel Formosa den Hof [* 17] zu Peking nachgiebig machten. Am 4. April kam es in Paris zu Präliminarien, 9. Juni zum Definitivfrieden von Tien-tsin, worin sich China zur Räumung Tongkings und zur Verzichtleistung auf die Oberhoheit über Annam verstand, Frankreich dagegen auf Kriegskostenentschädigung keinen Anspruch erhob.
Nach der Beilegung dieses Streites konnte sich Brisson mit innern Fragen beschäftigen. Das wenige Tage vor Ferrys Sturz in der Kammer beschlossene Listenwahlgesetz wurde 23. Mai auch vom Senat genehmigt, nur mit der Einschränkung, daß in die der Wahl zu Grunde liegende Bevölkerungsziffern die Ausländer nicht einzurechnen und die Mitglieder der frühern Herrscherhäuser nicht wählbar seien. Die Kammer gab hierzu ihre Zustimmung, und 17. Juni wurde das neue Wahlgesetz verkündet, wonach die Kammer fortan 584 Mitglieder zählen sollte.
Brisson hatte die Annahme dieses Gesetzes betrieben in der Meinung, damit eine gesicherte republikanische Mehrheit zu erreichen, aber man erfuhr eine ungeheure Enttäuschung. Das neue Wahlgesetz verhalf bei den Wahlen einer großen Anzahl Monarchisten zu Mandaten. Freilich wurden dann bei den 270 Stichwahlen durch Kompromisse mit den Radikalen fast nur Republikaner gewählt, doch waren dadurch 115 Radikale in die Kammer gelangt, die mit den Gemäßigten gemeinsam allerdings die Mehrheit den 200 Monarchisten gegenüber bildeten, von denen aber doch fraglich war, ob sie stets bereit sein würden, das Ministerium zu unterstützen.
Die Lage war eine ganz veränderte. Dies bekam Brisson sofort zu empfinden, als er, um die Stellung F.s in Asien aufrecht zu halten, von der neuen Kammer einen Kredit von 70 Mill. forderte und diesen nur mit 274 gegen 270 Stimmen zugestanden erhielt. Auch Grévy erfuhr den Wechsel der Dinge, als sich bei seiner Neuwahl zum Präsidenten im Kongreß nur 457 Stimmen (15 über die absolute Majorität) auf ihn vereinigten. Brisson gab, da er nur jene geringe Mehrheit in der Kammer gefunden hatte, seine Entlassung, und trat Freycinet an seine Stelle, der aus Opportunisten und Radikalen ein neues Kabinett bildete. Sadi Carnot übernahm darin die Finanzen, Sarrien das Innere, Goblet den Unterricht, Baïhaut die Bauten, Lockroy den Handel, Demôle die Justiz, Develle den Ackerbau, Granet die Post, Aube die Marine und Boulanger, von Clémenceau protegiert, das Portefeuille des Krieges.
So hatten die letzten Abgeordnetenwahlen ergeben, daß das Ministerium sich nicht mehr auf eine einzige starke Partei in der Kammer stützen konnte, sondern jetzt auch die Hilfe der Radikalen durch allerlei Zugeständnisse erkaufen mußte. Dies zeigte sich gleich im Jan. 1886, als Rochefort den Antrag auf eine allgemeine Amnestie an Stelle der beschränkten, wie sie Grévy erlassen hatte, stellte und die Kammer 21. Jan. die Dringlichkeit mit 3 Stimmen Mehrheit votierte. Da machte die Regierung die Wahrnehmung, daß sogar eine Koalition der Monarchisten und der hartnäckigsten Republikaner möglich war.
Freilich zerfiel dieses unnatürliche Bündnis sofort, als es bald nachher bei Arbeiterunruhen in Decazeville zur Ermordung eines Beamten kam und man die Unruhen auf socialistische Umtriebe zurückführte. Jener Antrag Rocheforts fiel, aber immerhin zog Freycinet daraus die Lehre, [* 18] daß er sich zu Konzessionen an die Radikalen werde herbeilassen müssen, wozu sich alsbald die Gelegenheit bot, als die Frage der Ausweisung der Prinzen zur Sprache [* 19] kam. Denn namentlich ihrem Einflusse glaubte man die Wahl jener 200 Monarchisten im Oktober zuschreiben zu müssen.
Freycinet widerlegte diese Meinung, als der Radikale Daché den bezüglichen Ausweisungsantrag stellte, und es gelang ihm, noch 4. März denselben zu Fall zu bringen. Als dann aber das fast monarchische Auftreten des Grafen von Paris bei Gelegenheit der Vermählung seiner Tochter Amélie mit dem Kronprinzen Karl von Portugal neuerdings das Mißtrauen der Republikaner erregte, vereinigten sich beide Kammern über die Bestimmungen eines Gesetzes, das dem Antrage des Abgeordneten Brousse zufolge im Juni folgende Hauptpunkte festsetzte: die Häupter der franz. Regentenfamilien und deren nächstberechtigte Erben sind aus Frankreich verwiesen; die Regierung kann durch Dekret auch die andern Mitglieder verbannen; Übertretung dieses Verbotes wird mit Gefängnis von 2 bis 5 Jahren bestraft. Das Gesetz erschien im Amtsblatt, und schon am nächsten Tage begaben sich der Graf von Paris, sein Sohn Louis Philipp Robert, Prinz Jérôme Napoleon und sein ältester Sohn Victor ins Ausland; da das Gesetz aber auch die übrigen Prinzen von allen ¶