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nach dem Abzug der Franzosen ein besonderes Odium verlieh. Napoleon suchte den ungünstigen Eindruck durch einen leichten diplomat. Triumph zu verwischen, und von den Verwicklungen zwischen Preußen und Österreich in der schlesw.-holstein. Frage Vorteil zu ziehen. Er unterstützte Bismarcks Politik, ließ Mai 1866 durch seinen Gesandten Grafen Benedetti in Berlin einen europ. Kongreß in Vorschlag bringen und deutete in einem Gespräch mit dem preuß. Gesandten in Paris auf die Rheinlinie als eine wünschenswerte Entschädigung für Frankreich hin.
Als man dies in Berlin ablehnte, änderte Napoleon sein Begehren, indem er die Wiederherstellung eines deutschen Rheinbundes kleiner Fürsten an der Grenze F.s vorschlug, wenn Preußen auf dem Kongreß Schleswig-Holstein zugesprochen würde. Aber es sollte zu einem solchen Kongreß nicht kommen. Österreich faßte den Krieg fest ins Auge und verhandelte mit Napoleon III. über einen Vertrag, der 12. Juni zu stande kam. Napoleon sollte danach von Österreich Venetien erhalten, um dies unter der Bedingung an Italien zu überlassen, daß dort die weltliche Herrschaft des Papstes und die Unverletzlichkeit der ihm noch unterworfenen Gebiete anerkannt und in dem Kriege zwischen Preußen und Österreich Neutralität beobachtet werde. Auch Napoleon verpflichtete sich neutral zu bleiben und eine Schadloshaltung Österreichs auf Preußens Kosten (Schlesien) gutzuheißen, wofür Österreich Frankreich eine entscheidende Stimme bei jeder Neugestaltung der deutschen Verhältnisse (event. Kompensationen) zugestand.
Der rasche Verlauf des Deutschen Krieges von 1866 überraschte in Paris um so mehr, als man auf ein langwieriges und wechselvolles Ringen gerechnet hatte. Am 4. Juli, am Tage nach der Schlacht bei Königgrätz, erfolgte die Abtretung Venetiens an Napoleon III.; aber die Hoffnung, von dem siegreichen und sich vergrößernden Preußen «Kompensationen» zu erlangen, schlug fehl. Wohl hatte Preußen die franz. Vermittlerrolle angenommen und daraufhin Frieden mit Österreich geschlossen.
Als jedoch hinterher der franz. Gesandte Benedetti 5. Aug. Bismarck einen Entschädigungsplan überreichte und für Frankreich die Grenze von 1814, Rheinbayern und Rheinhessen nebst Mainz und die Aufhebung des preuß. Besatzungsrechts in Luxemburg forderte, antwortete der preuß. Minister in bestimmter Form, wenn die Ablehnung dieser Ansprüche ein Kriegsfall wäre, so würde Preußen Krieg führen. Auf diesen Bescheid erklärte Napoleon angesichts der schlechten Armeeverhältnisse, der ganze Antrag sei ein Mißverständnis gewesen, in das er während seiner Krankheit durch Drouyn de l'Huys verwickelt worden sei.
Dieser trat 1. Sept. zurück und wurde durch den Gesandten in Konstantinopel, Marquis de Moustier, ersetzt. Ende 1866 bethätigten sich zum letztenmal die Sympathien Napoleons III. für die Neugestaltung Italiens. Der franz. General Leboeuf übernahm als kaiserl. Kommissar Venetien von dem österr. Militärkommando 19. Okt., um es sofort den eigenen Municipalbehörden zu überliefern und die Vereinigung mit dem Königreich Italien anzubahnen. Auch räumten die franz. Truppen bis Mitte Dezember Rom und den Kirchenstaat.
Um aber doch noch eine «Kompensation» an der deutschen Grenze zu erwerben und dem populären Rufe «Revanche pour Sadowa» wenigstens in etwas gerecht zu werden, unterhandelte Napoleon mit König Wilhelm III. von Holland wegen Ankaufs des Großherzogtums Luxemburg. Kurz vor Unterzeichnung des Kaufvertrags zeigten jedoch die Erklärungen Bismarcks im Norddeutschen Reichstage, daß dort von einer Zulassung der beabsichtigten Abtretung nicht die Rede sein könnte. Sonach hielt Napoleon III. es geraten, auch jetzt wieder nachzugeben; eine franz. Cirkulardepesche erklärte, daß man auf die Erwerbung Luxemburgs verzichten wolle, wenn Preußen seinerseits das Besatzungsrecht daselbst aufgebe. Eine Londoner Konferenz vereinbarte den Vertrag vom der das Großherzogtum für immer neutralisierte.
Diese wiederholten Niederlagen der auswärtigen Politik wirkten auf die innern Verhältnisse zurück. Die Opposition nahm an Bedeutung und Umfang zu. Zunächst griff Napoleon III. zu Repressivmaßregeln: ein Senatskonsult vom untersagte jede Diskussion der Verfassung außer durch den Senat und beschränkte die Befugnis des Gesetzgebenden Körpers auf die Verbesserung von Regierungsvorlagen. Bald darauf aber verstand sich Napoleon III. zu einigen liberalen Konzessionen.
Ein kaiserl. Brief an Rouher vom schaffte zwar die Adreßdebatte ab, ließ aber ein Interpellationsrecht zu. Die seit 1852 beseitigte Rednertribüne im Gesetzgebenden Körper wurde wieder aufgerichtet und die baldige Vorlage neuer Gesetze über die Presse und das Vereinsrecht versprochen. Dieses Dekret zog eine teilweise Änderung des Ministeriums nach sich, in das Niel als Kriegsminister eintrat; doch Rouher (der sog. «Vicekaiser») blieb in Amt und Einfluß.
Die Reorganisation der Armee wurde mit aller Macht betrieben. Das dem Gesetzgebenden Körper vorgelegte Gesetz sollte durch neunjährige allgemeine Dienstpflicht (5 bei der Fahne) eine Feldarmee von 800000 Mann und zum Schutz der Festungen und Städte eine mobile Nationalgarde von 400000 Mann schaffen. Gleichzeitig betrieb Niel mit rastloser Energie die Umwandlung der Infanteriegewehre nach dem verbesserten System Chassepot. Der Sommer 1867 verlief im festlichen Glanze der zweiten Pariser Welt-Industrieausstellung. Im Herbst 1867 ließ die ital. Nationalpartei durch Garibaldi sich zu einem Angriff auf Rom fortreißen.
Daher ging 26. Okt. ein franz. Geschwader mit Landungstruppen unter General de Failly von Toulon in See, und 30. Okt. rückten die ersten franz. Bataillone wieder in Rom ein. Am 3. Nov. kam es bei Mentana zu einem blutigen Gefecht zwischen den Freischaren Garibaldis und den päpstl. Truppen; letztere waren in Gefahr zu unterliegen, als die Franzosen ihnen zu Hilfe kamen und den Ausschlag gaben. Nachdem die päpstl. Autorität im Kirchenstaat wiederhergestellt war, kehrte ein Teil des franz. Expeditionskorps nach Frankreich zurück; doch blieben einige Truppen in Civitavecchia.
Unterdes war die kaiserl. Regierung bemüht, die Gesetzvorlage über die Armeereform durchzubringen. Am 14. Jan. ward das neue Wehrgesetz im Gesetzgebenden Körper mit 199 gegen 60 Stimmen angenommen und 1. Febr. vom Kaiser genehmigt. Auch eine Anleihe von 429 Mill. Frs., vorzugsweise zu militär. Zwecken, wurde bewilligt (28. Juli). Die neuen Gesetze über die Presse und das Versammlungsrecht kamen im Mai zu stande; sie schufen im Gegensatz zu dem bisherigen Willkürregiment wenigstens eine gesetzliche Grundlage. Die extremen Parteien benutzten die gewonnene Freiheit.
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Zahlreiche oppositionelle Zeitungen entstanden; aber alle übertraf die «Lanterne» von Rochefort durch ihre unerhörte Rücksichtslosigkeit und schneidende Satire. Auch die Entthronung der Königin Isabella II. von Spanien (Sept. 1868), mit der Napoleon III. eben einen Allianzvertrag zu schließen im Begriff war, trug dazu bei, die Aufregung zu steigern. Am Allerseelentage (2. Nov.) kam es auf dem Pariser Kirchhofe Montmartre zu Demonstrationen; man bekränzte die Gräber Cavaignacs, Baudins und anderer Republikaner. Da die Polizei in ungeschickter Weise dagegen einschritt, wurde eine Subskription zu einem Denkmal für Baudin von der Presse eröffnet, und als der Minister des Innern, Pinard, deshalb ein gerichtliches Verfahren einleiten ließ, hielten die Verteidiger, darunter Gambetta, feurige Reden, die den Staatsstreich unumwunden als Verbrechen brandmarkten. Napoleon selbst fand das Verhalten des Ministers ungeschickt und ersetzte ihn durch Forcade de la Roquette.
In der Session vom Jan. bis April 1869 deckte die Opposition die ganze schwindelhafte Finanzwirtschaft bei dem vielgepriesenen Umbau von Paris auf (s. Haußmann) und betonte die Notwendigkeit, der Hauptstadt ihre kommunale Selbständigkeit zurückzugeben. Gleich nach dem Schlusse der Session wurden die Neuwahlen zur vierten Legislaturperiode auf den 23. und 24. Mai ausgeschrieben, und es begann von allen Seiten eine lebhafte Wahlagitation. Der Minister des Innern, Forcade de la Roquette, bot alles auf, um die offiziellen Kandidaturen durchzubringen, und dies gelang zum größten Teil; nur in Paris, Lyon, Marseille und andern großen Städten erlitt der Imperialismus und das sog. persönliche Regiment eine vollständige Niederlage; hier wurden sogar die gemäßigten Oppositionellen und Republikaner teilweise durch Radikale (Gambetta, Bancel, Raspail, Rochefort u. s. w.) verdrängt, die sich als die «Unversöhnlichen» bezeichneten und die Rouheristen als «Mamelucken» brandmarkten.
Napoleon III. empfand die Bedeutsamkeit der Krisis und schwankte. Um einer parlamentarischen Niederlage zuvorzukommen, richtete er 12. Juli eine Botschaft mit dem Versprechen neuer konstitutioneller Reformen an den Gesetzgebenden Körper und vertagte ihn auf unbestimmte Zeit. Rouher wurde entlassen und zum Senatspräsidenten ernannt. Am 17. Juli erfolgte die definitive Abschaffung des sog. Staatsministeriums nebst einer Änderung des Kabinetts, was jedoch keineswegs eine parlamentarische Konzession war, da Forcade de la Roquette und seine meisten Kollegen blieben, während nicht ein einziges Mitglied der Mittelpartei berufen ward. Am 2. Aug. trat der Senat zusammen, um über die Verfassungsnovelle der Regierung zu beraten, und faßte ein Senatskonsult, das die Kompetenz des Gesetzgebenden Körpers und des Senats in manchen Stücken erweiterte und im Princip auch die Ministerverantwortlichkeit zugestand.
Durch die Verfassungsänderung war die Stellung des Ministeriums immer unhaltbarer geworden, und so berief Napoleon III. Ollivier zur Bildung eines neuen Kabinetts, das die Majorität des Gesetzgebenden Körpers treu vertreten sollte. Dies erste parlamentarische Ministerium unter dem zweiten Kaiserreiche kam zu stande und begann seine Funktionen mit der Entlassung des Seinepräfekten Haußmann. Am 28. März wurde dem Senat der Entwurf einer neuen Verfassung vorgelegt, der unter anderm dem Gesetzgebenden Körper einen Anteil an der konstituierenden Gewalt, die bisher allein dem Senat zustand, einräumte; aber die Minister sollten nach wie vor nur vom Kaiser abhängen, und ihre angebliche Verantwortlichkeit war also ganz illusorisch.
Dazu behielt der Kaiser sich das Recht vor, jederzeit an das Volk, dem er verantwortlich sei, zu appellieren. Von diesem Rechte wollte Napoleon III. sofort Gebrauch machen; die neue Verfassung, sobald sie durch Senatskonsult festgestellt war, sollte nicht dem Gesetzgebenden Körper zur Beratung vorgelegt, sondern durch Volksbeschluß bestätigt werden. Dadurch erschien der neue Parlamentarismus nur als eine Maske für die Fortdauer der alten persönlichen Regierung. Am kam dann das Senatskonsult zu stande und 8. Mai wurde es samt allen seit 1860 bewirkten liberalen Verfassungsreformen durch eine allgemeine Volksabstimmung angenommen. Es wurden 7350142 Ja und 1538825 Nein abgegeben.
Doch hatten alle großen Städte überwiegend mit Nein gestimmt, und noch bedenklicher erschienen die von der Armee und Marine abgegebenen 50000 Nein. Nichtsdestoweniger sah Napoleon III. in dem Plebiscit eine neue Gewähr für seine Dynastie. Auch Ollivier fühlte sich durch diesen Erfolg gehoben und trat seitdem dem Gesetzgebenden Körper mit Schroffheit entgegen. Die Reformbewegung geriet vollständig in Stockung, und in der auswärtigen Politik war Frankreich bereits auf eine gefährliche Bahn geraten.
Die definitive Überzeugung, es sei mit Preußen keine Gebietsvergrößerung zu erreichen, legte Napoleon III. den Gedanken nahe, eine solche gegen Preußen zu erstreben. Der Kaiser mochte die Vorteile der franz. Heeresreform überschätzen, die seit Niels Tode (1869) nur noch lässig weiter betrieben worden war, und der Versicherung des Kriegsministers Leboeuf, er sei «erzbereit» (archiprêt), Glauben schenken, überdies ward er durch den Herzog von Gramont, der 15. Mai an Graf Darus Stelle das Auswärtige Amt übernahm, schlecht genug beraten.
Die von der Kaiserin unterstützte Jesuitenpartei schürte aufs eifrigste, und so ward die Wahl des Erbprinzen Leopold von Hohenzollern zum König von Spanien als bequemer Vorwand ergriffen, um Preußen zu demütigen oder den Krieg zum Ausbruch zu bringen. Als 12. Juli die Entsagung des Erbprinzen Leopold bekannt geworden war, schien zunächst der span. Zwischenfall erledigt zu sein. Aber an demselben Abend fand ein Ministerrat unter dem Vorsitz Napoleons III. statt, und hier ward ein Beschluß gefaßt, der den Krieg unvermeidlich machte.
Der franz. Botschafter Benedetti mußte 13. Juli auf der Brunnenpromenade zu Ems dem preuß. Könige Wilhelm I. das Ansinnen stellen, er solle die bestimmte Versicherung geben, daß die hohenzoll. Kandidatur nicht wieder aufgenommen werden dürfe; auch eine schriftliche Entschuldigung wegen dieser Sache, in Form eines Briefs des Königs an Napoleon III., wurde beansprucht. Als Wilhelm I. diese Zumutungen kurzweg abwies, dem franz. Botschafter weitere Audienzen in dieser Sache verweigerte und Bismarck den Sachverhalt in der von ihm in scharfer Form redigierten «Emser Depesche» amtlich bekannt machen ließ, erklärte man die Ehre F.s verletzt. In der Sitzung vom 15. Juli erhob Thiers vergebens seine warnende Stimme. Ollivier versicherte, daß das Ministerium «mit leichtem Herzen» die Verantwortlichkeit
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übernehme. Am 19. Juli wurde die franz. Kriegserklärung in Berlin überreicht, und Napoleon III. übernahm in Metz 28. Juli das Oberkommando der Rheinarmee, nachdem er der Kaiserin Eugenie die Regentschaft übertragen hatte.
Der Deutsch-Französische Krieg von 1870 und 1871 (s. d.) enthüllte überraschend schnell die äußere und innere Schwäche des zweiten Kaiserreichs. Gleich nach den ersten Niederlagen trat das Ministerium Ollivier vor einem Mißtrauensvotum des Gesetzgebenden Körpers zurück. Das neue Kabinett, unter Vorsitz des Generals Cousin-Montauban, bot alles auf, um die Wehrkraft F.s zu verstärken und Paris zu verproviantieren. Unterdes ward die franz. Armee in einer Reihe großer Schlachten vernichtet, Napoleon III. selbst ergab sich bei Sedan (2. Sept.) kriegsgefangen; der kaiserl. Prinz, der seinen Vater begleitet hatte, hatte sich bereits über Belgien nach England begeben. Auf die Nachricht von dieser Katastrophe brachen in Paris Unruhen aus; in der Nacht vom 3. auf den 4. Sept. beantragte Jules Favre im Gesetzgebenden Körper die Absetzung der kaiserl. Dynastie. Cousin-Montauban wagte nicht, der Bewegung ernstlich entgegenzutreten, da Militär und Nationalgarde sich unzuverlässig zeigten. Am 4. Sept. nachmittags stürmte ein Volkshaufen das Sitzungslokal des Gesetzgebenden Körpers, der Senat löste sich auf, und während Gambetta unter allgemeinem Enthusiasmus die Republik proklamierte, flüchteten die Kaiserin und die Häupter der kaiserl. Partei, um in England Zuflucht zu suchen.
15) Unter der dritten Republik bis zum Rücktritt Thiers' (1870-73). Noch am Abend des konstituierte sich auf dem Pariser Stadthause eine «Provisorische Regierung der nationalen Verteidigung», die aus lauter Abgeordneten der Linken bestand (Arago, Crémieux, Favre, Ferry, Gambetta, Garnier-Pagès, Glais-Bizoin, Pelletan, Picard, Rochefort, Simon). Den Vorsitz und das Generalkommando von Paris erhielt General Trochu. Jules Favre wurde Vicepräsident und Minister des Auswärtigen und begann seine Funktionen mit einem diplomat.
Rundschreiben vom 6. Sept., worin er erklärte, daß die Regierung den Frieden wünsche, aber «nicht einen Zoll breit des nationalen Gebietes, nicht einen Stein von den franz. Festungen» abgeben werde. Denselben Anspruch erhob Favre in einer mündlichen Verhandlung mit Bismarck zu Ferrières 19. bis 20. Sept. Thiers übernahm eine diplomat. Mission nach London, Wien, Petersburg und Florenz, um die Vermittelung der neutralen Mächte zu erbitten; aber er fand nirgends Gehör. Auch seine Unterhandlungen mit Bismarck, 1. Nov. in Versailles, führten zu keinem Resultat.
Als die deutschen Heere gegen Paris vorrückten, beschloß die franz. Regierung, das Schicksal der Hauptstadt zu teilen, doch ward zur Verwaltung der Provinzen eine Delegation nach Tours abgeordnet, wo Gambetta als Minister des Krieges und des Innern thatsächlich die Diktatur an sich riß. Am 19. Sept. war die Einschließung von Paris beendigt. Straßburg und Metz kapitulierten. Anfang Dezember mußte die Regierungsdelegation von Tours weiter südlich nach Bordeaux flüchten, und auch die Regierung von Paris hatte einen schweren Stand.
Alle Anstrengungen, den Belagerungsgürtel zu durchbrechen, blieben erfolglos, und Mangel an Lebensmitteln stellte sich ein. Dazu gab es im Innern eine extreme Partei, die in Verbindung mit der internationalen Arbeitergesellschaft stand und sich auf die bewaffnete Bevölkerung der Arbeiterquartiere Belleville, Montmartre u. s. w. stützte. Abgesehen von kleinern Ruhestörungen, versuchte diese und zunächst ohne Erfolg, sich der Gewalt zu bemächtigen und eine sog. Commune einzusetzen. Unter diesen Umständen sah sich die Regierung der nationalen Verteidigung genötigt, den Frieden zu erbitten.
Am wurde zwischen Favre und Bismarck eine Konvention über einen dreiwöchigen Waffenstillstand zu Lande und zu Wasser unterzeichnet. (S. Deutsch-Französischer Krieg von 1870 und 1871, Bd. 5, S. 109 a.) Während dieser Waffenruhe, die später bis zum 3. März verlängert wurde, sollte durch allgemeine freie Wahlen eine Nationalversammlung gewählt werden, um über den Frieden zu verhandeln. Als Gambetta versuchte, die Wahlfreiheit zu Gunsten der Republikaner zu beschränken, wurde sein Dekret weder von Bismarck noch von der Pariser Regierung anerkannt, und bei der allgemeinen Friedenssehnsucht des franz. Volks sah er sich zum Rücktritt genötigt. Am 8. Febr. fanden die Wahlen statt, und am 12. hielt die Nationalversammlung in Bordeaux ihre erste Sitzung.
Tags darauf legte die Regierung der nationalen Verteidigung ihre Funktionen in die Hände der Versammlung nieder, und diese ernannte 17. Febr. Thiers zum Chef der Exekutivgewalt, unter dem Jules Favre das Ministerium des Auswärtigen behielt. Am 26. Febr. wurden die Friedenspräliminarien in Versailles zwischen Thiers und Favre einerseits, Bismarck und den Bevollmächtigten von Bayern, Württemberg und Baden andererseits abgeschlossen, wodurch Frankreich die Provinzen Elsaß und Deutsch-Lothringen, mit Metz, aber ohne Belfort, an das Deutsche Reich abtrat und sich verpflichtete, 5000 Mill. Frs.
Kriegskosten zu bezahlen; bis nach geleisteter Zahlung sollte ein Teil des franz. Gebietes von deutschen Truppen besetzt bleiben. Diese Präliminarien wurden 1. März von der Nationalversammlung zu Bordeaux, 2. März von Kaiser Wilhelm I. ratifiziert. Kurz darauf (20. März) siedelte auch die Nationalversammlung nebst der Exekutivgewalt aus Bordeaux nach Versailles über. In Paris aber brach 18. März ein neuer erfolgreicher Aufstand aus, und die Commune bemächtigte sich der Gewalt. Die Bewegung blieb jedoch auf die Hauptstadt beschränkt, die Armee der Versailler Regierung treu, und nach langwierigen blutigen Kämpfen (s. Paris) wurde der Aufstand niedergeschlagen und die Ordnung wiederhergestellt (28. Mai). Schon zuvor war der definitive. Friedensschluß mit Deutschland erfolgt. Nach Bestimmung der Präliminarien waren zu Brüssel 28. März franz. und deutsche Bevollmächtigte zusammengetreten, um die Einzelheiten weiter zu beraten; doch die Verhandlungen schleppten sich hin, und man vermochte sich namentlich über die finanziellen Fragen nicht zu einigen. Da griff der Reichskanzler Bismarck persönlich ein, und in einer Zusammenkunft zwischen ihm und den franz. Ministern Favre und Pouyer-Quertier zu Frankfurt a. M. (6. bis 10. Mai) wurden alle streitigen Punkte schnell erledigt. Der Frankfurter Friede (s. d.) vom bestätigte im wesentlichen die Präliminarien.
Die Wahlen vom 8. Febr. hatten unter klerikalen Einflüssen und unter dem Drucke der Verhältnisse eine überwiegend legitimistisch-orleanistische Majorität ergeben, sodaß man allerseits mit Furcht
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oder Hoffnung einer baldigen monarchischen Restauration entgegensah. Die Prinzen des Hauses Orléans kehrten nach Frankreich zurück; der Graf von Chambord (Heinrich V.) erschien zu einem längern Besuch auf seinem Gute Chambord, und die beiderseitigen Anhänger verhandelten wieder über eine Verschmelzung beider Linien. Diese wurde aber durch das Manifest Chambords 5. Juli, worin er erklärte, daß er die weiße Fahne Heinrichs IV. nicht preisgeben könne, zur Unmöglichkeit.
Nun suchte Thiers sich der monarchisch gesinnten Majorität zu versichern, indem er immer mehr Männer von orleanistischer Färbung ins Kabinett berief. Der Republikaner Jules Favre trat zurück, und Charles de Rémusat übernahm 3. Aug. das Auswärtige Amt; später erhielt Casimir Perier (der Sohn) das Ministerium des Innern. Am 12. Aug. wurde aus dem linken Centrum der Nationalversammlung ein Gesetzentwurf eingebracht, der die Verlängerung der Vollmachten Thiers' auf drei Jahre mit dem Titel eines Präsidenten der Republik beantragte, unter gleichzeitiger Einsetzung eines verantwortlichen Ministeriums.
Nach einer heftigen Debatte (30. und 31. Aug.) erfolgte die Annahme des Gesetzes mit 491 gegen 93 Stimmen. Dasselbe bestimmte, daß Thiers als «Präsident der Republik» die Exekutivgewalt ausüben solle unter der Autorität der Nationalversammlung, bis diese ihre Arbeiten beendet habe; er solle am Sitz der Versammlung residieren und auf Verlangen jederzeit von ihr gehört werden. Sowohl der Präsident wie die Minister, die dieser ernennt und entläßt, sollten vor der Nationalversammlung verantwortlich sein. Bald darauf vertagte sich die Versammlung vom 17. Sept. bis 4. Dez., nachdem sie für die Dauer der Ferien eine permanente Kommission von 25 Mitgliedern eingesetzt hatte.
Die nächsten Ziele der franz. Regierung und Nationalversammlung waren einerseits die möglichst baldige Befreiung des Landes von der feindlichen Besetzung und die Verbesserung des Militärwesens nach preuß. Muster, andererseits der Ausbau der Verfassung. Zur Bezahlung der zwei ersten Milliarden Kriegsentschädigung nahm Thiers im Juni 1871 eine Anleihe von 2500 Mill. Frs. und zur Abzahlung des Restes im Juli 1872 eine Anleihe von mehr als drei Milliarden auf. So war es Frankreich möglich, durch raschere Zahlungen das Ende der Occupation früher herbeizuführen, als beim Friedensschluß in Aussicht genommen war.
Nachdem die letzte Zahlung geleistet war, verließen die letzten deutschen Truppen unter General Manteuffel das franz. Gebiet. Freilich schufen die hohen Zinssummen für das entliehene Kapital (750 Mill. Frs. gegen 350 Mill. vor dem Kriege) den Staatsfinanzen nicht geringe Verlegenheiten, sodaß Jahr für Jahr das Budget ein Deficit aufwies, das Thiers nur mühsam durch neue Steuern und Zölle (auch auf Rohstoffe) zu decken suchte. Trotzdem wurde die Militärreorganisation mit Nachdruck ausgeführt.
Die Nationalversammlung bewilligte für diesen Zweck jede ihr angesonnene Summe und bot sogar der Regierung noch mehr Geld an als diese verlangte. Das Kriegsdienstgesetz vom führte die allgemeine Wehrpflicht in der Weise ein, daß ein Teil der Mannschaft zu fünfjähriger Präsenz, der andere zu sechsmonatigen Übungen verpflichtet war. Außerdem wurde eine Dienstzeit von vier Jahren in der Reserve und von elf Jahren in der Territorialarmee (Landwehr) festgesetzt.
Dieses Gesetz wurde vervollständigt durch das Organisationsgesetz vom und durch das Cadresgesetz vom Durch jenes wurde die Zahl der Regimenter bestimmt (144 Regimenter Infanterie, 70 Regimenter Kavallerie, 28 Regimenter Artillerie) und diese unter 18 Armeekorps verteilt, wofür die kommandierenden Generale sofort ernannt wurden; ein 19. Armeekorps ward für Algerien errichtet und unter das Kommando des dortigen Generalgouverneurs Chanzy gestellt.
Durch das Cadresgesetz wurden die Bataillonscadres in der Weise vermehrt, daß die Maximalstärke des Regiments auf 4000 Mann erhöht wurde. War dieses Gesetz durchgeführt, so bestand die franz. Infanterie aus 641 Bataillonen. Für den Revanchekrieg arbeiteten alle Parteien in Frankreich; auch die Pläne der Jesuiten verbanden sich damit. Unter der Herrschaft der letztern sollte das gedemütigte Frankreich wieder aufgerichtet, das Volk für den national-klerikalen Kreuzzug gegen Deutschland aufgestachelt werden.
Wunderquellen (s. Lourdes), Wundererscheinungen, massenhafte Prozessionen, Absingung von Glaubensliedern mit einem Revancherefrain sollten den Fanatismus in einer gewissen Höhe erhalten. Die Klerikalen, von der Regierung meist begünstigt, gingen in ihren Forderungen immer weiter, bis ihnen zuletzt das Unterrichtsgesetz vom das Recht der Gründung «freier Universitäten» und der Teilnahme an der Erteilung der akademischen Grade zuerkannte, wodurch sie, die bereits den ganzen Volksunterricht und die Leitung der weiblichen Erziehung und Bildung in ihren Händen hatten, auch den höhern Unterricht und die Träger der höhern Bildung unter ihre Gewalt zu bringen hofften.
Weniger Einigkeit herrschte unter den Parteien, wo es sich um den Ausbau der Verfassung handelte. Die Monarchisten spalteten sich in Legitimisten, Orleanisten und Bonapartisten, und jede dieser drei Parteien hatte ihren besondern Prätendenten; die Republikaner bildeten gleichfalls drei Gruppen: gemäßigte, entschiedene und radikale Republikaner. So kam es, daß eine Dreißiger-Kommission, welche die konstitutionellen Gesetze ausarbeiten sollte, in der Versammlung keine Mehrheit fand. An diesen Schwierigkeiten nutzten sich mehrere Ministerien ab, und mit der Verfassung ging es nicht vorwärts. So viele Verdienste auch Thiers als Präsident der Republik hatte, so zürnten ihm doch die Monarchisten, weil er ihre Pläne nicht ausführte und in einer Botschaft vom Nov. 1872 die thatsächliche Republik dem Ungewissen vorzog.
Als nun Thiers bei der Neubildung des Ministeriums die monarchische Mehrheit gar nicht mehr berücksichtigte und sein Kabinett nur noch aus den Reihen der gemäßigten Republikaner rekrutierte, beantragten die Monarchisten ein Tadelsvotum gegen ihn, das 24. Mai mit 360 gegen 344 Stimmen angenommen wurde. Darauf nahmen Thiers und dessen Minister ihre Entlassung, und Marschall Mac-Mahon wurde noch in der nämlichen Sitzung zum Präsidenten der Republik gewählt.
16) Unter der Präsidentschaft Mac-Mahons (1873-79). Der neue Präsident ernannte ein aus Legitimisten, Orleanisten und Bonapartisten zusammengesetztes Ministerium, worin der Herzog von Broglie den Vorsitz führte und das Auswärtige übernahm. Die neue Präsidentschaft schien nicht
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von langer Dauer zu sein, denn die Legitimisten betrieben leidenschaftlicher als je die Verschmelzung, hatten viele Orleanisten dafür gewonnen und formulierten bereits einen Antrag auf Zurückberufung des Grafen Chambord auf den Thron seiner Väter. Da aber dieser in einem Briefe an Chesnelong vom 27. Okt. eine bedingungslose Zurückberufung verlangte und weder in der Fahnenfrage (ob Trikolore oder die weiße Fahne) noch in der Verfassungsfrage zum voraus eine bindende Erklärung abgeben wollte, so zogen sich die Orleanisten zurück. Dagegen verlangte nun Mac-Mahon die Herstellung einer starken Exekutive, und die Versammlung beschloß, die Dauer der Präsidentschaft auf sieben Jahre festzusetzen.
Unter dem Broglieschen Ministerium machten der Ultramontanismus und der Bonapartismus sehr bedeutende Fortschritte. Die Hirtenbriefe der franz. Bischöfe überboten sich in Angriffen auf die Person des Deutschen Kaisers und die Reichsregierung, sodaß der Kultusminister in einem Rundschreiben vom die Bischöfe zur Vorsicht ermahnte und Bismarck die franz. Regierung zur Rede stellte. Die Bonapartisten errangen bei den Ersatzwahlen mehrere günstige Erfolge und sahen sich im Besitze der meisten höhern Beamtenstellen. Nach dem erfolgten Tode des Exkaisers Napoleon scharten sie sich um dessen Sohn, der in Chiselhurst die Feier seiner Großjährigkeit beging. Sie agitierten namentlich unter dem niedern Volke und warteten die günstige Gelegenheit zu einem Staatsstreiche ab.
Inzwischen war Broglie gefallen. Nachdem er die Annahme des Mairegesetzes vom durchgesetzt hatte, wodurch die Ernennung der Bürgermeister vollständig in die Gewalt der Regierung gebracht ward, legte er noch ein höchst reaktionäres Senatsgesetz und ein das allgemeine Stimmrecht beschränkendes Gesetz für die Abgeordnetenwahlen vor. Doch bei der Frage, ob das Wahlgesetz sofort zur Beratung kommen solle, entschied die Versammlung gegen Broglie. Darauf nahm er seine Entlassung, und Kriegsminister Cissey bildete 22. Mai ein neues, gleichfalls den monarchischen Parteien entnommenes Kabinett.
Die Bevorzugung der Klerikalen und Bonapartisten dauerte fort. Bei der Beratung der Gesetze über die Übertragung der Gewalten und über die Wahl und die Befugnisse des Senats kam es endlich zur Entscheidung, indem das rechte und das linke Centrum der Nationalversammlung sich vereinigten und beiden Gesetzen in einer von der Regierungsvorlage abweichenden Fassung Febr. 1875 zur Annahme verhalfen. Das eine dieser Gesetze bestimmte das Verhältnis des Präsidenten der Republik, der auf sieben Jahre gewählt werden und wieder wählbar sein sollte, zum Senat und zur Abgeordnetenkammer; das andere setzte die Zahl der Senatoren auf 300 fest, wovon 75 von der Nationalversammlung auf Lebenszeit (und bei Todesfällen deren Nachfolger durch Kooptation vom Senat), 225 von den Departements und Kolonien durch deren Abgeordnete, General- und Arrondissementsräte und Gemeindevertreter auf neun Jahre gewählt werden sollten.
Auf diese Beschlüsse hin, die nicht zum Geringsten auch durch die Mäßigung der fortgeschrittenen Republikaner unter Gambetta ermöglicht worden waren, trat das Ministerium Cissey ab, und 11. März bildete Buffet, der seit Präsident der Nationalversammlung gewesen war, ein neues Kabinett. Darauf folgte 16. Juli die Annahme des Gesetzes über die Rechte der Kammern und des Präsidenten, 2. Aug. die des Wahlgesetzes für den Senat und 30. Nov. die des Gesetzes über die durch Arrondissementsabstimmung (nicht nach Listen) vorzunehmende Wahl der Abgeordneten. Die Wahl der von der Nationalversammlung zu erwählenden 75 Senatoren wurde vom 9. bis 21. Dez. in elf Abstimmungen vollzogen und hatte einen Sieg der Linken, also eine gänzliche Niederlage des Ministeriums Buffet zum Resultat.
Alles hing nun zunächst von den Neuwahlen in den Senat und die Abgeordnetenkammer ab. Sie fielen großenteils im Sinne der neuen Verfassung aus, sodaß von den 532 Abgeordneten etwa 360 als Republikaner, 170 als Monarchisten, darunter 80 als Bonapartisten galten. Im Senat hatten allerdings die Republikaner nicht die Mehrheit (149 von 300 Stimmen); aber auch die monarchistische Opposition hatte sie nicht (139), sodaß einer Gruppe des rechten Centrums die jeweilige Entscheidung zufiel.
Jedenfalls bedeuteten die Wahlen eine vollständige Niederlage der Reaktionäre, am allermeisten der Klerikalen und Buffets, der selbst in keine der beiden Kammern gewählt wurde. Er gab seine Entlassung ein, und 9. März wurde ein großenteils aus Männern des linken Centrums gebildetes Ministerium ernannt, dessen Chef Dufaure war. Am 7. März fand die Eröffnung der neuen Session statt, und am 13. wurden die definitiven Vorstände der beiden Kammern gewählt; im Senat Audiffret-Pasquier, in der Abgeordnetenkammer Grévy.
Die Republikaner verlangten von der Regierung zunächst Entlassung aller legitimistisch oder bonapartistisch gesinnten Präfekten und Aufhebung des neuen Mairegesetzes und des Belagerungszustandes. Die Erfüllung des ersten Punktes scheiterte an dem Widerstreben Mac-Mahons; der Belagerungszustand wurde, einem in beiden Kammern angenommenen Antrag entsprechend, von der Regierung aufgehoben, sowie auch einige von Buffet willkürlich eingeführte Beschränkungen des Preßgesetzes abgeschafft.
Ein von Victor Hugo und von Raspail gestellter Antrag auf Erlaß einer allgemeinen Amnestie für politische und Preßvergehen wurde mit großer Mehrheit verworfen. Das von dem Unterrichtsminister Waddington vorgelegte Gesetz, wonach das 1875 angenommene Unterrichtsgesetz dahin abgeändert werden sollte, daß künftig die Verleihung der akademischen Grade nur dem Staate zustehen solle, wurde von der Abgeordnetenkammer 7. Juni bestätigt, aber vom Senat 11. Aug. abgelehnt.
Das Mairegesetz von 1874 ward von den Abgeordneten am 11. Juli aufgehoben und die Wahl der Bürgermeister wieder den Gemeinden überlassen mit Ausnahme der Hauptorte der Arrondissements und Kantone, in denen sie von der Regierung abhängig blieb. Zugleich sollte vor der Wahl der Bürgermeister eine Neuwahl sämtlicher Gemeinderäte vorgenommen werden. Der Senat genehmigte 11. Aug. das von der Abgeordnetenkammer beschlossene Bürgermeistergesetz, lehnte aber den letzten Zusatz ab. Die Neuwahlen der Bürgermeister wurden 8. Okt. in 33000 Gemeinden vollzogen und fielen meist in republikanischem Sinne aus. Da war es für die Regierung verhängnisvoll, daß sie eben jetzt den Rittern der Ehrenlegion, deren Beerdigung ohne kirchliche Feier erfolgte, auf Drängen der Klerikalen die Erweisung militär. Ehren
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versagte. Um sich aus der Verlegenheit zu helfen, legte sie einen Gesetzentwurf vor, wonach die militär. Ehren nur den aktiven Militärs erwiesen werden sollten. Diese offenkundige Hinneigung zu klerikalen Tendenzen erregte einen solchen Sturm, daß das Kabinett Dufaure 2. Dez. den Gesetzentwurf zurückziehen und einer Tagesordnung zustimmen mußte, die bei der künftigen Anwendung des Bestattungsreglements die beiden Grundsätze der Gewissensfreiheit und der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz aufrecht erhalten wissen wollte. Da das Kabinett nunmehr weder im Senat, dem es zu liberal, noch in der Abgeordnetenkammer, der es zu klerikal war, eine Mehrheit hatte, so nahm es seine Entlassung. Nach langen Verhandlungen kam dann 12. Dez. ein neues Ministerium zu stande, in dem Jules Simon, Mitglied der gemäßigten Linken, die Präsidentschaft und das Portefeuille des Innern übernahm, Martel die der Justiz und des Kultus, alle andern Portefeuilles in den Händen ihrer bisherigen Inhaber blieben.
Auf die Agitation der Klerikalen, die von Mac-Mahon verlangten, er solle alle Mittel anwenden, um der Unabhängigkeit des Papstes Achtung zu verschaffen, kennzeichnete Simon angesichts der ital. Garantiegesetze die Reden von einer Gefangenschaft des Papstes als Übertreibungen. Darauf beklagte sich der Papst öffentlich darüber, daß der franz. Ministerpräsident ihn als einen Lügner bezeichnet habe. Dies hielten die Ratgeber Mac-Mahons für einen günstigen Anlaß, um mit der parlamentarischen Herrschaft aufzuräumen.
Infolge eines Schreibens des Marschalls an Simon, worin jener seinen Zweifel ausdrückte, ob das Ministerium noch genug Einfluß in der Kammer habe, reichte das Kabinett 16. Mai seine Entlassung ein, worauf 17. Mai ein aus Legitimisten, klerikalen Orleanisten und Bonapartisten zusammengesetztes Ministerium gebildet wurde, worin der Herzog von Broglie das Präsidium und die Justiz, Fourtou das Innere übernahm. Am 23. Juni erteilte der Senat die von der Regierung verlangte Zustimmung zur Auflösung der Kammer, die 25. Juni erfolgte.
Das Resultat der von Gambettas Agitation beeinflußten Neuwahlen vom 14. und 28. Okt. war, daß etwa 320 Republikaner und 210 Monarchisten, darunter 112 Bonapartisten, gewählt wurden. Da das Ministerium mit einer republikanischen Kammermehrheit von 110 Stimmen nicht verhandeln konnte und überdies am 4. Nov. auch die Generalrats- und Bezirkswahlen vorwiegend republikanisch ausfielen, so gab es 20. Nov. seine Entlassung ein, und 23. Nov. wurde ein reines Geschäftsministerium ernannt, an dessen Spitze der General de la Rochebouet stand.
Aber die Kammer erklärte am Tage darauf, daß sie zu einem Ministerium, das die Verneinung der Volksrechte und der parlamentarischen Rechte sei, nicht in Beziehung treten könne, und die Budgetkommission weigerte sich, der Kammer die Bewilligung der direkten Steuern vorzuschlagen. Darauf wurde Dufaure vom Marschall mit Bildung eines neuen Kabinetts beauftragt, das zu stande kam und worin er die Justiz, Waddington das Auswärtige, Say die Finanzen, Freycinet die öffentlichen Arbeiten übernahm. Sämtliche neue Minister gehörten der republikanischen Partei an, und fünf von ihnen waren Protestanten.
In der Session von 1878 bewilligte die Kammer das Amnestiegesetz für alle Preßvergehen des J. 1877 und für alle Vergehen gegen das Vereinsgesetz. Durch das Dekret des Präsidenten vom 26. Juni wurden etwa 1300 Teilnehmer am Communeaufstand begnadigt, nachdem schon vorher 890 amnestiert worden waren. Die Weltausstellung in Paris wurde 1. Mai eröffnet, die Enthüllung der Statue der Republik auf dem Marsfeld 30. Juni als nationaler Festtag gefeiert. Bei den vorgenommenen Senatorenwahlen wurden 60 Republikaner und 15 Monarchisten gewählt, während 56 Monarchisten und 19 Republikaner ausgetreten waren.
Dadurch erhielten die Republikaner, und zwar die gemäßigten, auch im Senat eine Mehrheit von 58 Stimmen. Freilich war damit auch Mac-Mahons Stellung wankend geworden. Die Republikaner verlangten die Absetzung der bonapartistisch gesinnten Generale und ihre Ersetzung durch jüngere, von Gambetta begünstigte. Da Mac-Mahon die Unterzeichnung der hierauf bezüglichen Dekrete verweigerte, bot das Ministerium seine Entlassung an. Aber ein Ministerium, das ihm nicht die nämlichen Dekrete vorgelegt hätte, zusammenzubringen war ihm unmöglich, daher er selbst Dufaure die Niederlegung seines Amtes ankündigte.
17) Unter der Präsidentschaft Grévys (1879-87). Sofort traten Senat und Kammer zum Kongreß zusammen und wählten den Präsidenten der Kammer, Jules Grévy, mit 563 von 713 Stimmen zum Präsidenten von Frankreich, worauf die Kammer 31. Jan. mit 314 gegen 91 Stimmen Gambetta zu ihrem Vorsitzenden wählte. Nun konnte sich aber auch das Ministerium Dufaure nicht mehr halten, und 4. Febr. bildete Waddington ein neues Kabinett, in dem er neben dem Präsidium das Auswärtige, Ferry das Unterrichtsministerium übernahm, Say und Freycinet ihre Posten behielten.
Das linke Centrum, die gemäßigte Linke und die sog. republikanische Union waren in diesem Kabinett vertreten. Die Veränderungen in den Militärkommandos erfolgten jetzt ohne Widerstand. Ein radikaler Antrag auf Erlassung einer allgemeinen Amnestie wurde zwar von beiden Kammern abgelehnt, dagegen aber ein von der Regierung vorgelegtes Amnestiegesetz angenommen, das die wegen Verbrechens gegen das gemeine Recht Verurteilten ausschloß und den Amnestierten nicht zugleich auch die bürgerlichen Rechte zurückgab. Im Sinne der vorwaltenden liberalen Strömung wurde auch die Zurückverlegung der beiden Kammern von Versailles nach Paris beschlossen und als Termin hierfür der 1. Nov. festgesetzt.
Die von dem Unterrichtsminister Ferry vorgelegten Gesetzentwürfe, von denen der eine den Kongregationen das Recht, höhere Schulen und Pensionate zu unterhalten, entziehen, der andere den übermächtigen Einfluß der Geistlichkeit auf das Unterrichtswesen beseitigen und einen aus Laien zusammengesetzten obersten Unterrichtsrat dem Minister zur Seite stellen wollte, wurden von der Kammer 9. und 18. Juli genehmigt. Bald war den Republikanern auch das Ministerium Waddington nicht mehr genehm, da es ihnen nicht energisch genug gegen bonapartistische Beamte verfuhr. Von den vier Fraktionen der Republikaner: linkes Centrum, republikanische Linke, republikanische Union, äußerste Linke (Radikale), arbeiteten hauptsächlich die zwei mittlern an dem Sturz des Kabinetts, und da dieses unter solchen Umständen die Kammermehrheit nicht für sich hatte, so gab es seine Entlassung ein, worauf der Bautenminister Freycinet ein
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neues Ministerium bildete, worin er neben dem Präsidium das Auswärtige übernahm, Ferry das Unterrichtsministerium behielt.
In der Session von 1880 lagen die Ferryschen Unterrichtsgesetze dem Senat zur Beratung vor. Er genehmigte sie, lehnte aber den wichtigsten Artikel (VII), wodurch den Mitgliedern der vom Staate nicht anerkannten Kongregationen verboten war, eine öffentliche oder private Unterrichtsanstalt zu leiten oder daran Unterricht zu erteilen, mit 149 gegen 132 Stimmen ab. Da dieser Artikel den Schwerpunkt des ganzen Gesetzes ausmachte, so hatte letzteres ohne jenen keinen Wert.
Daher verlangten die Republikaner, daß die Regierung nach den Gesetzen von 1790, 1792 und 1804 gegen die Kongregationen verfahren solle. Ein solches Eingreifen war um so mehr geboten, da in Frankreich 500 vom Staat nicht ermächtigte Kongregationen mit 22000 Mitgliedern, darunter mehr als 7000 männlichen, bestanden, die Jesuiten 74 Lehranstalten und ein Personal von 1011 Mitgliedern hatten, die Zahl der von Ordensmitgliedern unterrichteten Schüler etwa 20000 betrug, wovon die Hälfte in Jesuitenanstalten war.
Daher erließ auf Grund dieser Gesetze der Präsident Grévy zwei Dekrete, von denen das erste den Jesuiten befahl, binnen 3 Monaten ihre gesellschaftliche Verbindung aufzulösen und ihre Anstalten in Frankreich zu räumen; das zweite alle nicht anerkannten Kongregationen aufforderte, binnen 3 Monaten bei der Regierung um die Prüfung und Genehmigung ihrer Statuten und Reglements und um die gesetzliche Anerkennung für jede einzelne ihrer bisher nur thatsächlich bestehenden Anstalten nachzusuchen. Da sämtliche Bischöfe Protestschreiben gegen diese Märzdekrete erließen und die Obern der Kongregationen in einer Versammlung vom 2. April beschlossen, die Statuten nicht mitzuteilen und die Autorisation nicht nachzusuchen, so entstand auch in Frankreich ein «Kulturkampf». Zunächst wurden die Ordenshäuser der Jesuiten und ihre Lehranstalten geschlossen. Wegen der übrigen Kongregationen wurde mit dem päpstl. Stuhl unterhandelt. Die Kongregationen übersandten darauf der Regierung eine Erklärung, worin sie zwar ihre Achtung und Unterwerfung gegenüber den gegenwärtigen Staatseinrichtungen beteuerten, aber weder ihre Statuten vorlegten noch die staatliche Anerkennung nachsuchten.
Diesem Gebaren gegenüber ließ es die Regierung an dem nötigen Nachdruck fehlen und bedrohte damit selbst ihre Stellung. Andere Ereignisse schärften den Konflikt. Nachdem von beiden Kammern 9. Juli eine bedingungslose Amnestie bewilligt war, kehrten die Kommunarden und ihre Führer nach Frankreich zurück, um den Kampf gegen die staatliche Ordnung von neuem zu beginnen. Der 14. Juli, der Tag der Erstürmung der Bastille, wurde in ganz Frankreich als republikanisches Nationalfest gefeiert, und Gambetta, der sich mit Grévy und den Ministern nach Cherbourg zur Flotteninspizierung begeben hatte, hielt dort 9. Aug. eine scharfe Revancherede. Um dem Auslande gegenüber nicht in Verlegenheit zu geraten, stellten Grévy und Freycinet Gambettas Rede als den Ausdruck seiner persönlichen Ansichten dar, und Freycinet sprach sogar von einer «Abenteurerpolitik».
Dies konnte ihm Gambetta nicht verzeihen, und namentlich sein Werk war die kurz darauf wegen Ausführung der Märzdekrete eintretende Ministerkrisis. Das Kabinett Freycinet nahm seine Entlassung, worauf Ferry, der das Unterrichtsministerium beibehielt, die Präsidentschaft übernahm, während Barthélemy Saint-Hilaire Minister des Auswärtigen wurde und sechs Mitglieder des vorigen Ministeriums in das neue eintraten. Unter der Ministerpräsidentschaft Ferrys nahm der Vollzug der Märzdekrete einen raschern Verlauf.
Die nicht autorisierten Kongregationen wurden aus ihren Klöstern ausgewiesen und diese geschlossen, wozu an manchen Orten Militär aufgeboten werden mußte. Immer mehr zeigte sich die Macht der «anonymen Regierung» Gambettas. Als Führer der zahlreichsten Fraktion, der Republikanischen Union, beherrschte er nicht bloß die Kammer, sondern durch diese auch das Ministerium und nötigte jedes Kabinett, das ihm nicht zu Willen war, zum Rücktritt. Sein Streben galt aber der Erringung des Postens eines Ministerpräsidenten und eines Präsidenten der Republik. Um für diesen Fall eine ihm ganz unterwürfige, von Monarchisten und Radikalen möglichst gesäuberte Kammer zu schaffen, wünschte er die Abschaffung der Arrondissementswahlen und die Einführung der Listenwahlen für die Abgeordnetenkammer.
Während nach dem bisherigen Wahlgesetz jedes Arrondissement einen Abgeordneten wählte, sollten von nun an die Wähler eines ganzen Departements eine auf einer Liste verzeichnete Anzahl von Kandidaten auf einmal wählen. Da die Republikaner in den meisten Departements die Mehrheit hatten, so war sicher, daß durch die Listenwahl eine überwältigende Mehrheit von Republikanern gewählt werden würde, und die Anfertigung dieser Listen lag in der Hand Gambettas und seiner Anhänger.
Der Abgeordnete Bardoux stellte also im Namen Gambettas den Antrag auf Wiederherstellung der Listenwahl, die schon in den J. 1848 und 1871 angewandt worden war, und die Kammer genehmigte denselben mit geringer Majorität, dagegen beschloß der Senat mit 148 gegen 114 Stimmen, in die Beratung der einzelnen Artikel des Antrags nicht einzutreten. Gambetta gab nun die Parole der teilweisen Verfassungsrevision aus, die sowohl die Listenwahl als auch eine Reform des Senats in sich schloß, obgleich der letztere in vielen wichtigen Dingen, wie in Vereins- und Preßangelegenheiten, in der Zollpolitik und in Budgetfragen in liberaler Weise mit der Kammer übereingestimmt hatte.
Inzwischen hatte Frankreich auf dem Gebiete der äußern Politik einen Erfolg erzielt. Schon seit längerer Zeit hatte man in Frankreich die Besetzung von Tunis ins Auge gefaßt, und April 1881 nahm Frankreich die Einfälle des räuberischen Grenzstammes der Khrumir in Algerien zum Vorwand dafür. Etwa 30000 Mann rückten von Algerien aus in Tunis (s. d.) ein. Eine andere franz. Kolonne landete in Biserta, und General Bréard, der mit 4000 Mann vor dem Bardo des Bei erschien, zwang letztern 12. Mai, den Vertrag von Bardo zu unterschreiben, wonach er alle wichtigen Plätze den Franzosen übergab, die Verwaltung seines Landes durch franz. Beamte zuließ und dem franz. Ministerresidenten Roustan die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten der Regentschaft überließ. Um die Proteste der Pforte, die sich auf ihre Oberhoheitsrechte über Tunis berief, kümmerte sich Frankreich nicht. Deutschland, Österreich und Rußland erkannten das Protektorat an; aber in England erwachte die maritime Eifersucht in voller Stärke, und Italien, in dessen Händen fast der
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ganze tunesische Handel lag, sah sich in seiner Hoffnung, das gegenüberliegende Land selbst in Besitz zu nehmen, getäuscht. Die Erbitterung der Italiener stieg zu so hohem Grade, daß blutige Auftritte zwischen Franzosen und Italienern in Marseille stattfanden und Demonstrationen in den größern ital. Städten veranstaltet wurden. Der engere Anschluß Italiens an Deutschland und Österreich, der sich später zu einem förmlichen Defensivbündnis gestaltete, war die nächste Folge dieses Schrittes.
Doch war mit dem Einmarsch der Franzosen das Land noch nicht erobert. Kaum war ein Teil ihrer Truppen nach Frankreich zurückgekehrt, so erhoben sich die tunesischen Stämme neuerdings in einem Aufstand, der auch nach Algerien hinübergriff, weshalb größere Truppenmassen nach Afrika geschickt werden mußten. Sie nahmen die Städte Sfaks, Gabes, Dscherba, Susa und zogen 26. Okt. in die vom Feinde verlassene heilige Stadt Kairuan ein. Der 1882 zwischen Frankreich und dem Bei abgeschlossene neue Vertrag verwandelte das Protektorat in eine Annexion. Diesem gemäß übernahm Frankreich die tunesische Schuld, stellte, unter Aufhebung der Kapitulationen, ein neues Gericht her, das alle Prozesse zu erledigen hatte, und erhielt das Recht, das Staatseigentum zu überwachen und die Steuern im Namen des Bei einzutreiben.
Inzwischen hatten die Abgeordnetenwahlen vom einen entschiedenen Sieg Gambettas dargethan. Gewählt wurden mehr als 450 Republikaner, 57 Bonapartisten und 41 Orleanisten und Legitimisten. Von den vier republikanischen Fraktionen hatte die Union, deren Führer Gambetta war, die meisten (206) Mitglieder, und da er außerdem in Verbindung mit Ferry auch noch die «republikanische Linke» für sich hatte, so gebot er über eine Kammermehrheit von 374 Stimmen.
Nachdem die Kammer 28. Okt. Brisson zu ihrem Präsidenten gewählt und das Ministerium Ferry, dessen Stellung durch die Debatte über die tunesische Frage unsicher geworden war, seine Entlassung eingereicht hatte, übernahm Gambetta 14. Nov. die Präsidentschaft und das Auswärtige in dem «großen Ministerium». Daß von den bedeutendern Staatsmännern (Freycinet, Say, Ferry) kein einziger in dieses Kabinett eintrat und Gambetta lauter Männer zweiten und dritten Ranges (Waldeck-Rousseau, Paul Bert, Campenon, Allain-Targé, Cazot u. a.) aufnehmen mußte, gab seinen Gegnern Anlaß, von einem Ministerium der «Enttäuschungen», ja von einem «Bedientenministerium» zu sprechen. Gambetta suchte zunächst seine Stellung durch einen neuen Erfolg nach außen hin zu kräftigen. Er eröffnete, da ein Revanchekrieg gegen Deutschland zur Stunde keine Aussicht auf Erfolg bot, eine diplomat. Korrespondenz mit dem engl. Kabinett, um dieses zu einer gemeinschaftlichen Besetzung Ägyptens, wo die nationale Partei unter Arabi dem übermächtigen franz.-engl. Einfluß ein Ende machen wollte, zu bewegen.
Bevor aber diese Verhandlungen zu einem Resultat führten, scheiterte Gambetta an seiner innern Politik. Nach dem Wiederzusammentritt der Kammer legte er seinen Entwurf einer beschränkten Verfassungsrevision vor. Diesem gemäß sollten für die Kammer die Arrondissementswahlen abgeschafft und die Listenwahlen eingeführt werden, für den Senat eine Änderung des Wahlgesetzes und eine Beschränkung seiner finanziellen Befugnisse stattfinden. Dem Antrage auf beschränkte Verfassungsrevision stellte die äußerste Linke den einer unbeschränkten Verfassungsrevision gegenüber, wonach nicht dem Ministerium oder einer einzelnen Kammer, sondern den zum Kongreß vereinigten Kammern das Recht zustehen sollte, den Umfang und Charakter der Verfassungsrevision zu bestimmen.
Diesen Antrag, der die Verfassung von 1875 in radikalem Sinne umgestalten, die Befugnisse der Kammern erweitern, die des Präsidenten und des Ministeriums beschränken wollte, verwarf Gambetta. Auch die Kommission verwarf ihn und sprach sich für die Verfassungsrevision und für Einberufung des hierin souveränen Kongresses aus, wünschte jedoch, daß die Revision auf gewisse Punkte beschränkt werde, zu denen aber gerade die Listenwahl nicht gehören sollte. Der Antrag auf Einführung der Listenwahl wurde dann, trotz Gambettas beredter Fürsprache, 26. Jan. mit 305 gegen 117 Stimmen abgelehnt, der Kommissionsantrag dagegen mit 262 gegen 91 Stimmen genehmigt.
Auf diese Abstimmung folgte sofort der Rücktritt des Ministeriums Gambetta, worauf Freycinet ein neues Kabinett bildete, worin er das Präsidium und das Auswärtige, Say die Finanzen, Ferry den Unterricht übernahm. Die Abstimmung vom 26. Jan. wurde in ganz Europa als Friedenskundgebung der Kammer gegenüber den Kriegs- und Revancheplänen des gestürzten Ministerpräsidenten angesehen. Das Ministerium Freycinet erklärte sich im Einverständnis mit den Kammern für eine Vertagung der Verfassungsrevision.
Der Gesetzentwurf über Reform der Gemeindeordnung, wonach nicht bloß, wie bisher, in den 33000 kleinern, sondern auch in den 3000 großen Gemeinden, d. h. in allen Gemeinden, außer in Paris, die Gemeinderäte das Recht der Bürgermeisterwahl haben sollten, wurde von der Kammer 4. März, das Unterrichtsgesetz vom Senat, der den Art. VII 1880 verworfen hatte, 23. März genehmigt. Das Gesetz über Wiedereinführung der Ehescheidung wurde 7. Mai, das über Abschaffung des religiösen Eides vor Gericht 29. Juni von der Kammer angenommen, letzteres vom Senat abgelehnt. Waren dies Erfolge des neuen Kabinetts, so konnte es doch seine größern Entwürfe: Decentralisation der Verwaltung und Ordnung der arg geschädigten Staatsfinanzen, nicht durchführen.
In der ägypt. Krisis sträubte sich Freycinet, die Wege Gambettas zu wandeln, ja, um die Politik seines Vorgängers, der ihn 1880 gestürzt hatte, zu diskreditieren, veröffentlichte er im Juni 1882 das franz. Gelbbuch, das Gambettas diplomat. Korrespondenz über die geplante westmächtliche Aktion in Ägypten enthielt. Freycinet, der jede militär. Aktion F.s vermeiden wollte, glaubte zunächst durch eine westmächtliche Flottendemonstration vor Alexandria die Machthaber in Ägypten in Schranken halten zu können, und beantragte, als er die Wirkungslosigkeit dieser Demonstration erkannte, die Einberufung einer Botschafterkonferenz, die in Konstantinopel 23. Juni eröffnet wurde. Er hatte dabei den Zweck, an die Stelle einer westmächtlichen Intervention eine europäische zu setzen und unter gewissen Bedingungen und Beschränkungen sogar eine Intervention der Pforte, die ein europ. Mandat erhielte und unter europ. Kontrolle aufträte, zuzulassen. Dagegen wandte sich Gambetta, der in der Kammer noch immer seine Partei hinter sich hatte.
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Als dann noch im Juni Englands Absicht auf ein bewaffnetes Einschreiten immer deutlicher wurde, Freycinet aber nur zu einer gemeinsamen Besetzung des Sueskanals, nicht aber zu Operationen gegen Arabi bereit war, befriedigte er damit niemanden in Frankreich, und der von ihm für jene Teilmaßregel verlangte Kredit von 10 Mill. Frs. wurde in der Kammer mit 450 gegen 75 Stimmen abgelehnt. Darauf reichte das Kabinett Freycinet sein Entlassungsgesuch ein, und Senator Duclerc bildete 7. Aug. ein neues Ministerium, worin er das Präsidium und das Auswärtige, Fallières das Innere, Tirard die Finanzen übernahm.
Dieses Ministerium, das keine einzige Persönlichkeit von hervorragender Bedeutung, aber vier ausgesprochene Anhänger Gambettas in sich schloß, wurde nur als ein «Verlegenheitsministerium» bezeichnet. Natürlich hatte die franz. Politik der Enthaltsamkeit nur dahin geführt, daß England nun die Lösung der ägypt. Krisis allein in die Hand nahm und nach dem raschen Siege bei Tel el-Kebir sich zum alleinigen Herrn Ägyptens machte. Lord Granville erklärte, daß England künftig die Finanzkontrolle in Ägypten allein zu führen gedenke und machte Frankreich nur das Zugeständnis des Vorsitzes in der Staatsschuldenkommission.
Duclerc nahm dies nicht an und bestand auf dem vertragsmäßigen Recht F.s auf Fortdauer der gemeinsamen Kontrolle. Aber Englands Entschluß war unwiderruflich, und zu spät erkannte Frankreich, daß es durch seine Nichtteilnahme an der ägypt. Expedition sich selbst eine Niederlage bereitet habe. Einen Ersatz hierfür suchte Frankreich durch Expeditionen nach fernen Weltteilen sich zu verschaffen. Es beanspruchte das Protektorat über einen Teil der Insel Madagaskar, wobei es England und die Vereinigten Staaten von Amerika zu Gegnern hatte; es rüstete sich zu einer Expedition nach Tongking, obgleich es dadurch in einen Konflikt mit China kommen mußte; es wollte, auf den von dem franz. Afrikareisenden de Brazza mit einigen Häuptlingen abgeschlossenen Vertrag sich stützend, am Kongo weite Gebiete in Besitz nehmen und beeinträchtigte dadurch die Hoheitsrechte Portugals.
Da starb Gambetta und mit ihm schwand dem Ministerium Duclerc der Boden unter den Füßen. Welche außerordentliche Bedeutung Gambetta in Frankreich gehabt hatte, zeigte sich alsbald darin, daß mit seinem Tode die Feinde der Republik ihre Zeit gekommen glaubten. Schon im Sept. 1882 hatten anarchistische Unruhen in Monceau und Lyon stattgefunden, und beim Leichenbegängnis Louis Blancs, der 6. Dez. gestorben war, war es auch in Paris zu ähnlichen Demonstrationen gekommen.
Zwei Wochen nach dem Tode Gambettas brachte der Prinz Jérôme Napoleon, der, nachdem Prinz Louis Napoleon in Afrika gefallen war, der Träger der napoleonischen Ansprüche war, durch Plakate, die er in der Nacht zum an den Mauerecken von Paris anschlagen ließ, den Bonapartismus als den einzigen Retter des Staates und der Gesellschaft in Erinnerung. Da die Regierung in diesem Plakat eine Aufforderung zum Umsturz der Verfassung erblickte, ließ sie den Prinzen 16. Jan. verhaften, doch wurde er infolge eines Ausspruchs der Anklagekammer 9. Febr. freigelassen.
Gleichzeitig mit dieser bonapartistischen Kundgebung fanden im südlichen Frankreich legitimistische Bankette statt, und die Orleanisten wiesen auf den Herzog von Aumale als den künftigen Präsidenten der Republik hin, der dem Grafen von Paris die Bahn zum Throne ebnen sollte. Die Republik schien bedroht, schien die Beute desjenigen zu sein, der rasch zugriff. Diese Prätendentenfurcht verursachte in der Kammer einen Antrag Floquets, der sämtliche Prinzen früher in Frankreich regierender Dynastien ohne Unterschied aus Frankreich, Algerien und den Kolonien verbannen wollte. Da eine Kabinettskrisis darüber auszubrechen drohte, so setzte die Kommission an Stelle des Floquetschen Antrags den Antrag Favre, der nur verlangte, daß die Ausweisung der als staatsgefährlich angesehenen Prätendenten dem freien Ermessen der Regierung anheimgestellt werden, alle andern Mitglieder der Familien aber, die früher in Frankreich regiert hatten, weder Wahlrechte ausüben noch eine Stellung im Civil- und Militärdienst bekleiden sollten.
Da in dieser Frage keine Einigkeit im Ministerrat herrschte, so erfolgte der Rücktritt des Ministeriums Duclerc, worauf der Gambettist Fallières ein neues provisorisches Kabinett bildete, worin später General Thibaudin, der in der deutschen Kriegsgefangenschaft von 1870 sein Ehrenwort gebrochen hatte, das Kriegsministerium übernahm. Aber auch dieses Ministerium war der kritischen Lage nicht gewachsen, und die Prätendentenfrage brachte es schon 18. Febr. zu Fall. Ein Ministerium trat 19. Febr. an seine Stelle, das größtenteils aus Gambettisten bestand und worin Ferry das Präsidium und den Unterricht, Challemel-Lacour das Auswärtige, Waldeck-Rousseau das Innere, Raynal die öffentlichen Arbeiten übernahm, während Thibaudin das Kriegsministerium behielt.
Darauf wurden 24. Febr. Dekrete des Präsidenten Grévy veröffentlicht, die, auf Grund der Gesetze vom vom vom den Divisionsgeneral Herzog von Aumale, den Oberst Herzog von Chartres und den Artilleriehauptmann Herzog von Alençon in Disponibilität versetzten, weil die Grundsätze der militär. Unterordnung und einheitlichen Disciplin geschwächt erscheinen könnten durch das Verbleiben dieser Offiziere an der Spitze der Armee, denen bereits durch ihre Geburt eine Ausnahmestellung eingeräumt sei.
Die von der äußersten Linken beantragte Verfassungsrevision auf die Tagesordnung zu stellen, lehnte Ferry ab und setzte es durch, daß die Kammer den Antrag, die Revisionsanträge in Erwägung zu ziehen, nicht annahm und dem Ministerium ein Vertrauensvotum beschloß. Da der fortwährende Ministerwechsel die Autorität der Republik in Frage stellen mußte, so einten sich jetzt die Fraktionen der Republikaner im Vertrauen auf Ferry, der nun über 2 Jahre lang das Staatssteuer in Händen zu halten vermochte.
Dies ermöglichte die Durchführung einer Anzahl neuer Gesetze. Zunächst wurde eine Justizreform in Angriff genommen. In den ersten Junitagen 1883 nahm die Kammer einen Entwurf an, der zwar nicht geradezu die Aufhebung der Unabsetzbarkeit der Richter enthielt, wohl aber einen Artikel (XII), wonach der Justizminister die Befugnis haben sollte, 3 Monate nach der Bekanntmachung des Gesetzes zur Reorganisierung sämtlicher Gerichte zu schreiten, d. h. innerhalb dieser Zeit in seinem Departement frei zu schalten, Richter abzusetzen und zu ernennen. Der Minister hatte damit Gelegenheit, den Richterstand von so manchen antirepublikanischen
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Elementen zu säubern. Am 25. Juli genehmigte der Senat das Gesetz mit geringen Modifikationen, denen die Kammer am 31. zustimmte. In demselben demokratischen Zuge bewegten sich auch die andern Reformen im Innern: die Abschaffung des religiösen Eides bei Gericht und die Wiedereinführung der Ehescheidung. Ferner die längst verlangte Verfassungsänderung, die Ferry 1884 nicht mehr umgehen konnte. Er unternahm sie vornehmlich im Sinne einer Reorganisation des Senats, indem er 24. Mai eine Vorlage einbrachte, die ein Vierfaches bezweckte: einmal, daß keine Revision sich auf die Abschaffung der Republik ausdehnen dürfe, zweitens die Abänderung des Senatswahlgesetzes, drittens die Beseitigung der lebenslänglichen Senatoren, und endlich die Beschränkung des Budgetrechts des Senats.
Der letzte Punkt war beim Senat nicht durchzusetzen, und man ließ ihn fallen. Dagegen ward erreicht, daß an die Stelle der 75 lebenslänglichen Senatoren solche traten, die nur auf 9 Jahre ernannt wurden, und zwar von beiden Kammern, während die übrigen von erweiterten Wahlkörpern, in die fortan die franz. Gemeinden je nach ihrer Größe einen oder mehrere (Paris 30) Wahlmänner senden, gewählt wurden Einige Monate vorher, hatte der nach Versailles berufene Kongreß als Staatsgrundgesetz erklärt, daß kein Mitglied der ehemaligen Regentenhäuser jemals zum Präsidenten der Republik gewählt werden dürfe, und daß die endgültige Regierungsform F.s die republikanische sei.
Während der Festigungsprozeß der Republik in dieser Weise fortschritt, verloren die Legitimisten in dem Grafen Chambord (Henri V.) ihren Thronprätendenten Nun wurde der Graf von Paris von Legitimisten und Orleanisten als legitimer Thronkandidat angesehen. Derselbe hielt sich aber zunächst von polit. Kundgebungen fern. Ebensowenig trat Prinz Napoleon, das Haupt der Bonapartisten, hervor, weil sich der konservativ-klerikale Teil seiner Anhänger von ihm ab und im Mai 1884 seinem Sohne Victor zuwandte.
Mit der Konsolidierung der Republik Hand in Hand ging der Fortschritt in Fragen der Kirche und Schule, woraus schon im April 1883 ein Zerwürfnis mit den ultramontanen Bischöfen zu entstehen drohte, die einige an Staatsschulen benutzte Lehrbücher in ihren Hirtenbriefen verboten. Die Regierung erklärte dies als Anmaßung und betonte ihr Recht, widerstrebenden Priestern den Gehalt zu verweigern. Sie entwarf ein Gesetz über die Bestrafung von Geistlichen, die dem Konkordat zuwiderhandelten, entfernte die Priester aus den Spitälern und brachte Febr. und März 1884 in der Kammer das Gesetz zur Annahme, daß Ordensleute (Kongregationisten) an öffentlichen Schulen nicht mehr unterrichten dürften. Diese Maßnahmen führten zu einer Beschwerde des Papstes, auf die Grévy versöhnlich erwiderte, wodurch ein offener Konflikt vermieden wurde.
Weit mehr Schwierigkeiten verursachte dem Ministerium Ferry die finanzielle Lage des Staates. Die Einnahmen waren seit 1874 um 4 Milliarden hinter den Ausgaben zurückgeblieben, die Steuereingänge nahmen von Monat zu Monat ab, die gesamte Wirtschaft des Landes war im Rückgänge, die Ausfuhr heimischer Fabrikate wurde geringer, und die Einfuhr fremder stieg stetig, sodaß in den ersten 6 Monaten 1883 der Export gegen den Import um 729 Mill. Frs. zurückblieb. Anarchistenprozesse (des Fürsten Krapotkin, der Louise Michel) zeugten für die wirtschaftlichen Mißstände laut genug.
Das Deficit war bisher durch Anleihen, Schatzscheine, Vorschüsse der Bank u. dgl. mühsam gedeckt worden. Diese Mittel reichten fürder nicht mehr aus, und Ferry mußte an entscheidendere Maßregeln denken. Es ergaben sich zunächst zwei:
1) die Umwandlung der 5prozentigen Rente in eine 4½prozentige, wodurch man jährlich 35 Mill. ersparte, und wozu die beiden Kammern im April 1883 ihre Zustimmung gaben, und 2) der Verzicht auf die Verstaatlichung der Eisenbahnen, indem man den Ausbau der Linien, der bisher das außerordentliche Budget mit einigen Hundert Millionen jährlich belastet hatte, den Privatgesellschaften vertragsmäßig überließ. Die Kammer genehmigte das Gesetz und die franz. Finanzen waren wieder, wenigstens annähernd, ins Gleichgewicht gebracht, ohne jedoch einer Anleihe vollständig entraten zu können.
Gleichzeitig dachte aber Ferry eine weitausgedehnte Kolonialpolitik durchzuführen, um den Export zu beleben. Man sprach von einem Sahara-Meer, von einer Eisenbahn an den Niger, von Massenkolonisationen. Dazu allerdings waren die Staatsmittel zu knapp. Aber diese Expansionspolitik führte Frankreich doch bis nach Madagaskar und Tongking, wo es Protektorate anstrebte. Der Erfolg der Expedition nach Madagaskar (s. d.) war gering. In dem Friedensschluß, der Dez. 1885 unter ital. Vermittelung zu stande kam, mußte Frankreich auf die Erwerbung Nordmadagaskars verzichten und behielt sich nur die Besetzung der an der Nordostspitze gelegenen Bucht Diego Suarez vor. Die Königin mußte 10 Mill. Frs. Kriegsentschädigung leisten, bis zu deren Bezahlung Frankreich den Hafen von Tamatave behielt.
Mehr Erfolg wies die Expedition nach Tongking (s. d.) auf. In Ostasien hatte Frankreich seit der Erwerbung von Saigon durch Napoleon III. (1862) bestimmte Interessen zu wahren. Häufige Reibungen blieben nicht aus, und als sich der Gouverneur von Cochinchina gegen die Überfälle von Seeräubern selbständig Genugthuung zu verschaffen suchte, kam es 1882 zu ernsten Feindseligkeiten zunächst mit Annam (s. d.), mit dem jedoch bald zu Huë ein Vertrag zu stande kam, der es in ähnliche Abhängigkeit von Frankreich brachte wie Tunis: die auswärtige Politik und die Zolleinnahmen gingen auf die franz. Regierung über, dem Kaiser der Annamiten blieb nur die innere Verwaltung und seine Civilliste Nun ging es gegen den Piratenstaat der «Schwarzflaggen», aber mit so empfindlichen Opfern und so wenig Erfolg, daß Ferry Unterhandlungen mit China anknüpfte, damit dieses seine Hilfstruppen, mit denen es die Schwarzflaggen unterstützte, zurückrufe.
Die Verhandlungen verliefen erfolglos, es kam zu einem förmlichen Kriege mit China, und erst als der franz. Konteradmiral Courbet die Außenwerke der Stadt Son-tai erstürmte und die Stadt besetzte, Bac-Ninh und 12. April Hung-hoa eroberte, brachten diese Erfolge zu Wege, daß sich China zu einem Abkommen bequemte. Am wurde in Tien-tsin ein Präliminarvertrag abgeschlossen, worin die Regierung zu Peking alle Rechte aus Annam und Tongking aufgab. Bald darauf, kam auch ein neuer Vertrag mit Annam zu stande, der die auswärtige Politik dieses Reichs vollständig unter den Willen des franz. Residenten stellte. Trotz dieser Verträge stellte sich aber doch noch lange
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nicht der Friede ein. Der Überfall einer franz. Kolonne durch die Chinesen 23. und bei Langson brachte den Krieg von neuem zum Ausbruch. Da derselbe in Frankreich sehr unbeliebt war, so scheute sich die Regierung, immer neue Kredite zur Ausrüstung von Verstärkungsmannschaften den Kammern abzuverlangen, und trat deshalb von Anfang an mit ungenügenden Streitkräften auf dem Kriegsschauplatze auf. Die Niederlage des Generals Negrier bei Langson machte in Frankreich den tiefsten Eindruck und brachte Veränderungen in der innern und auswärtigen Politik mit sich, die sich zunächst im Sturze des Ministeriums Ferry ausdrückten.
Die Kolonialpolitik hatte ihre hauptsächlichsten Gegner im Lande an denjenigen, die die erste Aufgabe F.s in dem Revanchekrieg gegen Deutschland sahen. Sie erklärten die Entsendung von namhaften Streitkräften für eine Schädigung dieses Zwecks und waren mächtig genug, um z. B. den König Alfons XII. von Spanien, als er im Sept. 1883 nach Paris kam, durch den Pöbel insultieren zu lassen, weil er in Straßburg die Uniform des ihm verliehenen deutschen Ulanenregiments getragen hatte.
Besonders erbitterte es die chauvinistischen Gegner Ferrys, daß er in der Kongofrage die Einladung Bismarcks zu einer Konferenz angenommen hatte (s. Kongostaat), und als nun im März 1885 jene Unfälle in Asien bekannt wurden und Ferry daraufhin größere Kredite (200 Mill.) beanspruchte, da brach der Sturm gegen ihn los: die Opposition unter der leidenschaftlichen Führung Clémenceaus warf ihm Verfassungsbruch vor, weil er ohne die Genehmigung der Deputierten Krieg mit China führe, und sogar Landesverrat, da er die Gefahr der Lage verschwiegen habe. Am wurde der Kredit mit 308 gegen 161 stimmen verweigert, und Ferry gab seine Entlassung. Der Dringlichkeitsantrag der Opposition, das Ministerium in Anklagezustand zu versetzen, wurde mit 304 gegen 161 Stimmen abgelehnt.
Der Nachfolger Ferrys, der Kammerpräsident Brisson, hatte insofern leichteres Spiel, als jener bereits den Frieden mit China angebahnt hatte und die Erfolge der franz. Flotte bei der Insel Formosa den Hof zu Peking nachgiebig machten. Am 4. April kam es in Paris zu Präliminarien, 9. Juni zum Definitivfrieden von Tien-tsin, worin sich China zur Räumung Tongkings und zur Verzichtleistung auf die Oberhoheit über Annam verstand, Frankreich dagegen auf Kriegskostenentschädigung keinen Anspruch erhob.
Nach der Beilegung dieses Streites konnte sich Brisson mit innern Fragen beschäftigen. Das wenige Tage vor Ferrys Sturz in der Kammer beschlossene Listenwahlgesetz wurde 23. Mai auch vom Senat genehmigt, nur mit der Einschränkung, daß in die der Wahl zu Grunde liegende Bevölkerungsziffern die Ausländer nicht einzurechnen und die Mitglieder der frühern Herrscherhäuser nicht wählbar seien. Die Kammer gab hierzu ihre Zustimmung, und 17. Juni wurde das neue Wahlgesetz verkündet, wonach die Kammer fortan 584 Mitglieder zählen sollte.
Brisson hatte die Annahme dieses Gesetzes betrieben in der Meinung, damit eine gesicherte republikanische Mehrheit zu erreichen, aber man erfuhr eine ungeheure Enttäuschung. Das neue Wahlgesetz verhalf bei den Wahlen einer großen Anzahl Monarchisten zu Mandaten. Freilich wurden dann bei den 270 Stichwahlen durch Kompromisse mit den Radikalen fast nur Republikaner gewählt, doch waren dadurch 115 Radikale in die Kammer gelangt, die mit den Gemäßigten gemeinsam allerdings die Mehrheit den 200 Monarchisten gegenüber bildeten, von denen aber doch fraglich war, ob sie stets bereit sein würden, das Ministerium zu unterstützen.
Die Lage war eine ganz veränderte. Dies bekam Brisson sofort zu empfinden, als er, um die Stellung F.s in Asien aufrecht zu halten, von der neuen Kammer einen Kredit von 70 Mill. forderte und diesen nur mit 274 gegen 270 Stimmen zugestanden erhielt. Auch Grévy erfuhr den Wechsel der Dinge, als sich bei seiner Neuwahl zum Präsidenten im Kongreß nur 457 Stimmen (15 über die absolute Majorität) auf ihn vereinigten. Brisson gab, da er nur jene geringe Mehrheit in der Kammer gefunden hatte, seine Entlassung, und trat Freycinet an seine Stelle, der aus Opportunisten und Radikalen ein neues Kabinett bildete. Sadi Carnot übernahm darin die Finanzen, Sarrien das Innere, Goblet den Unterricht, Baïhaut die Bauten, Lockroy den Handel, Demôle die Justiz, Develle den Ackerbau, Granet die Post, Aube die Marine und Boulanger, von Clémenceau protegiert, das Portefeuille des Krieges.
So hatten die letzten Abgeordnetenwahlen ergeben, daß das Ministerium sich nicht mehr auf eine einzige starke Partei in der Kammer stützen konnte, sondern jetzt auch die Hilfe der Radikalen durch allerlei Zugeständnisse erkaufen mußte. Dies zeigte sich gleich im Jan. 1886, als Rochefort den Antrag auf eine allgemeine Amnestie an Stelle der beschränkten, wie sie Grévy erlassen hatte, stellte und die Kammer 21. Jan. die Dringlichkeit mit 3 Stimmen Mehrheit votierte. Da machte die Regierung die Wahrnehmung, daß sogar eine Koalition der Monarchisten und der hartnäckigsten Republikaner möglich war.
Freilich zerfiel dieses unnatürliche Bündnis sofort, als es bald nachher bei Arbeiterunruhen in Decazeville zur Ermordung eines Beamten kam und man die Unruhen auf socialistische Umtriebe zurückführte. Jener Antrag Rocheforts fiel, aber immerhin zog Freycinet daraus die Lehre, daß er sich zu Konzessionen an die Radikalen werde herbeilassen müssen, wozu sich alsbald die Gelegenheit bot, als die Frage der Ausweisung der Prinzen zur Sprache kam. Denn namentlich ihrem Einflusse glaubte man die Wahl jener 200 Monarchisten im Oktober zuschreiben zu müssen.
Freycinet widerlegte diese Meinung, als der Radikale Daché den bezüglichen Ausweisungsantrag stellte, und es gelang ihm, noch 4. März denselben zu Fall zu bringen. Als dann aber das fast monarchische Auftreten des Grafen von Paris bei Gelegenheit der Vermählung seiner Tochter Amélie mit dem Kronprinzen Karl von Portugal neuerdings das Mißtrauen der Republikaner erregte, vereinigten sich beide Kammern über die Bestimmungen eines Gesetzes, das dem Antrage des Abgeordneten Brousse zufolge im Juni folgende Hauptpunkte festsetzte: die Häupter der franz. Regentenfamilien und deren nächstberechtigte Erben sind aus Frankreich verwiesen; die Regierung kann durch Dekret auch die andern Mitglieder verbannen; Übertretung dieses Verbotes wird mit Gefängnis von 2 bis 5 Jahren bestraft. Das Gesetz erschien im Amtsblatt, und schon am nächsten Tage begaben sich der Graf von Paris, sein Sohn Louis Philipp Robert, Prinz Jérôme Napoleon und sein ältester Sohn Victor ins Ausland; da das Gesetz aber auch die übrigen Prinzen von allen
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öffentlichen oder Wahlämtern ausschloß, so wurde auch der Herzog von Aumale, der, wie die Herzöge von Chartres und von Alençon, bereits durch das Dekret vom in den Stand der Nichtaktivität versetzt worden war, durch ein Dekret des Präsidenten Grévy vom seines Ranges als General entkleidet. Ebenso verloren die Herzöge von Chartres, von Alençon, von Nemours, von Penthièvre, der Prinz von Joinville, Roland Bonaparte, Murat und Sohn ihre Offiziersstellen.
Aumale wurde wegen eines hochmütigen, zurechtweisenden Briefs an Grévy verbannt. Die Seele dieser Maßregeln war Boulanger, der sich damit den Radikalen für ihre Protektion dankbar zu erweisen dachte. Um sich an ihm zu rächen, ließ Aumale einen Brief veröffentlichen, den jener 1880 an ihn geschrieben hatte und der die Versicherung enthielt, daß der Schreiber den Tag für gesegnet halten würde, der ihn unter das Kommando des Herzogs zurückriefe. Den üblen Eindruck, den diese Publikation machte, durch die er als charakterloser Streber entlarvt wurde, suchte der General durch maßlosen Chauvinismus wieder wett zu machen, sodaß Freycinet alle Mühe hatte, auf einer Rundreise im Sept. 1886 durch Betonung der Friedenspolitik den Eindruck abzuschwächen und die Mißstimmung in Berlin zu beschwichtigen.
Die gesetzgeberische Thätigkeit der Kammern, deren erste Session von 1886 am 15. Juli geschlossen wurde, hatte außer dem Ausweisungsgesetz und einem Spionagegesetz keine erwähnungswerten Leistungen aufzuweisen. Die neue Session, die eröffnet wurde, erledigte zunächst das Gesetz über die Organisation des Elementarunterrichts, das die Kammer in dem vom Senat 30. März beschlossenen Wortlaut 28. Okt. annahm. Der Kernpunkt lag im Art. 17, der bestimmte, daß in allen Gemeindeschulen F.s nur weltliche Elementarlehrer angestellt werden dürfen; die Emancipation dieser Schulen von der Herrschaft der Geistlichkeit war eine vollständige; der Religionsunterricht wurde aus der Schule verbannt.
Das Kabinett Freycinet scheiterte an den schlechten Finanzzuständen, denen die mit unzulänglicher Kraft ergriffene und auf halbem Wege abgebrochene Expansivpolitik in Hinterasien natürlich nicht aufgeholfen hatte, um so weniger, als das Armeebudget bis auf jährlich 833 Mill. anwuchs und Boulanger für Melinitbomben, Repetiergewehre, Baracken u. dgl. 360 Mill. forderte. Die Kammer rief nach Ersparungen, und die Radikalen wünschten diese am Bestand der Beamten zu machen. Einer der Ihrigen, Colfavru, beantragte die Streichung sämtlicher Unterpräfektenstellen, während die Regierung sich nur zu einer allmählichen Reduktion derselben bereit erklärte. Da traten die Monarchisten der äußersten Linken zur Seite, und als Freycinet aus diesem Anlaß die Vertrauensfrage stellte, wurde der radikale Antrag mit 262 gegen 247 Stimmen angenommen, und Freycinet gab seine Entlassung.
Die Unzuverläßigkeit der republikanischen Kammermehrheit machte es für Grévy schwierig, einen Nachfolger zu finden. In diesem Augenblicke ward eine Lösung der Krisis nur dadurch möglich, daß der bisherige Unterrichtsminister Goblet 10. Dez. ein neues Kabinett bildete, in dem acht Minister des vorigen blieben, darunter auch der Kriegsminister Boulanger. Der Vicepräsident des Staatsrates, Flourens, übernahm das Portefeuille des Auswärtigen, Dauphin die Finanzen, Berthelot den Unterricht.
Jedenfalls fehlte zunächst Freycinets mäßigende Hand, während Boulangers treibender Eifer freieres Spiel fand. Darum kündigte sich auch das J. 1887 sehr kriegerisch an. Zu den kriegerischen Symptomen gehörten außer Boulangers Militärvorlage, die wesentliche Reformen in der Armee einführen und diese um 44000 Mann vermehren wollte, auch die Rüstungen an der franz. Ostgrenze, wo die Garnisonen verstärkt und Baracken zur Aufnahme neuer Truppen gebaut wurden.
Dazu kamen die Aufreizungen der Patriotenliga und eines großen Teils der Pariser Presse gegen Deutschland, sowie die fortgesetzten, bisher vergeblichen Versuche, eine Allianz mit Rußland abzuschließen. Alles dies erregte nicht bloß in Deutschland, dem diese Kundgebungen zunächst galten, sondern in ganz Europa große Beunruhigung und veranlaßte alle Staaten zu militär. Rüstungen. Man glaubte den Ausbruch eines europ. Krieges für Beginn des Frühjahrs als sicher bezeichnen zu können.
Als aber die franz. Regierung die Entschlossenheit Deutschlands sah, die namentlich in den Reichstagswahlen im Februar zum Ausdruck kam, und wohl erkannte, daß dasselbe infolge der Einführung des Repetiergewehres einen Vorsprung in den Kriegsrüstungen hatte, ermäßigte sich ihr Kriegseifer. Sie sandte in offiziöser Eigenschaft den Grafen Lesseps nach Berlin, um den dortigen Regierungskreisen genaue Nachrichten von den friedlichen Absichten des franz. Ministeriums zu geben.
Die Stimmung wurde allmählich eine ruhigere, bis es Ende April 1887 zu einer neuen Aufwallung der kriegerischen Leidenschaften in Frankreich kam. Gegen den im Grenzdienst angestellten franz. Polizeikommissar Schnäbele war wegen Spionage in seinem Heimatlande Elsaß-Lothringen vom Reichsgericht in Leipzig ein Haftbefehl erlassen worden. Als nun Schnäbele 20. April behufs einer mit dem deutschen Polizeikommissar Gautsch verabredeten geschäftlichen Zusammenkunft die Grenze bei Novéant überschritten hatte, wurde er von zwei deutschen Kriminalbeamten verhaftet und nach Metz abgeführt.
Die franz. Presse, auf einige unzuverlässige Aussagen angeblicher Augenzeugen sich stützend, behauptete nun, daß die Verhaftung Schnäbeles auf franz. Boden erfolgt sei, worauf die Organe der Kriegspartei mit Leidenschaft den willkommenen Anlaß ergriffen. Im franz. Ministerrat wurde die Mobilmachung der Armee beantragt und nur mit 7 gegen 5 Stimmen unter dem mäßigenden Einfluß des Präsidenten Grévy abgelehnt. Selbst der Ministerpräsident Goblet war der populären Strömung unterlegen und hatte Krieg in Aussicht gestellt, wenn Schnäbele nicht ausgeliefert würde. Da kam Bismarck den Friedliebenden in Frankreich entgegen, denn obgleich eine genaue Untersuchung die Schuld Schnäbeles erwiesen hatte, wurde er doch 30. April in Freiheit gesetzt.
Als leitenden Gesichtspunkt hierbei machte der Fürst geltend, daß Grenzüberschreitungen, die auf Grund dienstlicher Verabredungen erfolgen, als unter der Zusicherung freien Geleites stehend anzusehen seien. Und noch einmal im selben Jahre kam es zu einem ähnlichen Zwischenfall, als im September ein franz. Jagdtreiber, Brignon, durch einen deutschen Jäger im Grenzgebiet erschossen wurde. Wieder war es Deutschland, das nachgab und durch die Höhe der an die Witwe gezahlten Entschädigungssumme, 50000 Reichsmark, die erregten Geister beschwichtigte.
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In der innern Politik suchte Goblet den Radikalen dadurch genug zu thun, daß er eine größere Anzahl Unterpräfekturen zu streichen empfahl, was übrigens im Senat nicht durchdrang. Dann versuchte das Kabinett auch dem steten Rufe nach Ersparungen zu folgen, ohne freilich an das Heeres- und Marinebudget rühren zu dürfen. Am ward das im Vorjahre beschlossene Gesetz über den Verkauf der Kronjuwelen verkündet und alsbald mit diesem begonnen. Der Erlös betrug 7 Mill. Finanziell wichtiger war die Erhöhung der Getreidezölle (von 3 auf 5 Frs.) und der Viehzölle, wozu die Deputierten schon sehr widerwillig im März ihre Zustimmung gaben. Als Goblet für die Hilfsbeamten des Finanzministeriums einen Nachtragskredit begehrte, erhielt er nur mit Schwierigkeit eine Majorität. Am 17. Mai, bei der Debatte über das Finanzgesetz für 1888, wurde jedoch der Antrag Rouviers, der die vorgeschlagenen Ersparnisse für ungenügend erklärte, mit 312 gegen 143 Stimmen angenommen, und schon nach der ersten Abstimmung dimissionierte das gesamte Kabinett.
Die Bildung neuer Ministerien war in letzter Zeit immer schwieriger geworden; vollends jetzt, wo die Opportunisten in ein Kabinett mit Boulanger nicht eintreten wollten, die Radikalen für sich allein aber keins zu bilden vermochten. So gelang es erst 29. Mai dem Opportunisten Rouvier, ein solches zu bilden, ohne Boulanger, wie es Grévy gewünscht und bewirkt hatte, und vorwiegend gemäßigt. Es gelang der neuen Regierung, durch ein Programm, das weitgehende Sparsamkeit, Vereinfachung der Verwaltungsauslagen, ernste Verfolgung jeder Unredlichkeit bei Erhebung der Steuern und eine vorsichtige, aber feste Politik versprach, die Mehrheit in der Kammer für sich zu gewinnen, sodaß Mißtrauensanträge der Radikalen weit in der Minderheit blieben.
In der Zwischenzeit hatte die Kammer der Errichtung von 4 neuen Kavallerie- und 18 Infanterieregimentern und der Erhöhung der Compagniestärke zugestimmt; desgleichen wurde vom Kabinett für die Probemobilisierung eines Armeekorps ein Kredit von 7 Mill. angesprochen und von beiden Kammern bewilligt. Ein noch von Boulanger als Kriegsminister eingebrachtes neues Militärgesetz, das durchgehends dreijährige Dienstpflicht statt fünfjähriger einführte und das Institut der Einjährig-Freiwilligen abschaffte, wurde gleichfalls im Princip gutgeheißen, aber jetzt noch nicht zum Beschluß erhoben. Angesichts der bedrängten finanziellen Lage mußte allerdings auch Rouvier zur Steuervermehrung greifen: die Zuckersteuer wurde erhöht und desgleichen der Eingangszoll auf fremden Alkohol. Beide Kammern stimmten zu, und als der Finanzminister 5. Juli ein neues Budget für 1888 vorlegte, fand sich, daß dasselbe vor demjenigen Goblets eine Ersparnis von etwa 130 Mill. voraus hatte.
Alle diese Vorlagen wurden in der Kammer genehmigt, aber unter den erbittertsten Kämpfen mit den Radikalen. Und so unheilbar schien die Spaltung unter den Republikanern, daß der Graf von Paris den Zeitpunkt für günstig hielt, um «Weisungen an die Vertreter der monarchischen Partei» zu erlassen, in denen er auf die Unbeständigkeit des republikanischen Regiments hinwies, auf dessen Unfähigkeit, Ordnung in den Staatshaushalt zu bringen, und auf die Isolierung F.s in Europa.
Dazu kam nun noch, daß auch Präsident Grévy viel von seinem Ansehen verlor, als im Okt. 1887 ein Skandal enthüllt wurde, der seinen Schwiegersohn Wilson, den langjährigen Vorsitzenden der Budgetkommission, aufs ärgste kompromittiert erscheinen ließ. Der General Caffarel, Generalstabschef im Kriegsministerium, wurde 7. Okt. angeklagt, mit dem Kreuze der Ehrenlegion Handel getrieben zu haben. Er ward verhaftet, während sein Helfer, der Senator und General Graf d'Andlau, entfloh.
Mittelsperson war eine Frau Limousin, mit der auch Boulanger, Paul Grévy, der Bruder des Präsidenten, General Thibaudin, insbesondere aber Wilson in Beziehung gestanden hatten. Wilson hatte sich nicht nur zur Vermittelung von Orden, sondern auch von Ämtern, Konzessionen, Staatslieferungen u. dgl. gegen hohe Bestechungssummen hergegeben. Ganz besonders erschwerend aber wurde für ihn der Umstand, daß während der Untersuchung einzelne seiner Briefe an die Limousin, die besonders belastend waren, aus den Akten verschwanden und durch neugeschriebene ersetzt wurden, was kaum ohne behördliche Vorschubleistung möglich war.
Die Aufregung im Publikum erreichte den höchsten Grad; die Kammer genehmigte 17. Nov. die gerichtliche Verfolgung Wilsons mit 527 gegen 3 Stimmen, und man erwartete unter solchen Umständen Grévys Rücktritt; zunächst vergebens. Grévy fuhr fort, Wilson für unschuldig zu halten. Das war aber ein unhaltbarer Zustand, und das Ministerium entschloß sich, bei erster Gelegenheit zu dimissionieren, um dadurch Grévy, der sicher kein neues Kabinett fände, zur Abdankung zu nötigen.
Ein Anlaß fand sich, als 19. Nov. die Linke die Regierung über die Lage interpellierte. Rouvier antwortete mit dem Begehren, die Interpellation aufzuschieben, bis die schwebende Konversion der 4½prozentigen in eine 3prozentige Rente beendigt sei und stellte zugleich die Kabinettsfrage. Sein Antrag fiel mit 282 gegen 328 Stimmen, und das Ministerium gab seine Entlassung. Als nun Grévy in der That keine Regierung zu bilden vermochte, sah auch er sich zum Rücktritt genötigt und hatte schon der Kammer für den 1. Dez. eine bezügliche Botschaft in Aussicht gestellt, als er von einigen Radikalen, die ein Ministerium Ferry fürchteten, bewogen wurde, zu bleiben. Die Kammern bestanden jedoch auf seinem Abgang, indem sie 1. Dez. in Übereinstimmung beschlossen, sich nur für wenige Stunden zu vertagen und inzwischen die angekündigte Mitteilung des Präsidenten zu erwarten. Auf diese unzweideutige Aufforderung hin machte Grévy in einer Zuschrift die Kammer mit seinem Rücktritt bekannt.
18) Unter der Präsidentschaft Carnots (1887-94). Am 3. Dez. fand in Versailles der Kongreß der beiden Kammern statt. Die Wahl Ferrys wurde durch die Radikalen und die Anhänger Boulangers hintertrieben, die mit einem Volksaufstande drohten, wenn er durchdringen sollte. Ferry selbst lenkte die im ersten Wahlgang auf ihn gefallenen Stimmen auf Carnot, der im zweiten Wahlgange 616 von 827 erhielt. Daß Republikaner aller Schattierungen für ihn gestimmt hatten, festigte von vornherein sein Ansehen und seine Würde, der er bald auch äußern Glanz zu verleihen wußte. Diese Übereinstimmung der Fraktionen war aber nur von kurzer Dauer. Bald wurden die seit Jahren wiederholten Rufe der Radikalen nach Revision der Verfassung im Sinne einer Art Konventsherrschaft ohne Präsident und Senat, nach endgültiger