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schließliche Sammlung solcher Lieder und ihre Um- gestaltung zu einem einheitlichen und Poet. Ganzen (was nur durch Hinzudichtung von Übergängen und Bindegliedern, durch Aus- und Angleichung wider- strebender Teile, durch Wandlung des Gesanges in einfache Recitation geschehen kann) entsteht dann das Volksepos. Die berühmtesten Volksepen der gesam- ten Weltlitteratur sind die «Ilias» und die «Odyssee», letztere an Poet. Wert ihre ältere Schwester über- ragend. (S. Homer.) Als analog entstanden sind anzusehen die ind. Epen «NaKadiiarNtii» und «Na- ma^Hna,», das pers. «8c1i3.1i'^aN6li» des Firdusi, die franz. «OtiaiiLoii äs K0I3.ua», das sinn. Epos «Kalewala»; die german. Epen «Beowulf», «Nibe- lungenlied», «Gudrun» verdanken ihren Zusammen- schluß aus Liedern Zum Epos jedenfalls direkt oder mittelbar Einflüssen fremder Kunstpoesie. In der nordischen «Edda» und dem span. «Cid», auch in den serö. Gesängen vom Helden Marko u. a. liegen die Volkslieder noch im lockern Zustande, unver- mittelt und durch keine ordnende, fügende Künstler- hand verschmolzen vor. Das eigentliche Epos findet sich nur in der arischen Völkerfamilie; das Schi-king der Chinesen, das ägypt. Heldenbuch vom großen Ramses, die zwölf zusammenhängenden Abenteuer der Simsonsage (ursprünglicher Sonnenmythus?), das Siegeslied der Deborah und ähnliche Erzeugnisse der hebr. Litteratur entsprechen nur höchst unvollkommen den Kunstgesetzen der Gattung. Die epische Volksdichtung ist eine aus dem gan- zen Volt entspringende und dem ganzen Volk an- gehörige, durch den lebendigen Gesang mitteilbare Darstellung einzelner Mythen und Sagen (Märchen und Tiersagen). Die einzelnen Lieder, welche das Epos nach und nach bilden (indem sie um einen her- vorragenden Punkt, der zum Mittelpunkt wird, sich gruppieren), pflanzen sich, wie sie aus dem Munde des Volks hervorgingen, so im Munde desselben Volks durch Generationen und Jahrhunderte fort, sie kommen bei allen Anlässen der gesteigerten Le- bensthätigkeit und Empfindung (Mahl, Gelage, Tanz, Krieg, Fest u. s. w.) zum Vortrag und er- leiden im Laufe der Zeit durch die halb bewußte, halb unbewußte Mitwirkung der Zuhörer allerlei Veränderungen durch Zu- und Umdichten, aber auch durch Weglassung und Kürzung. Es ist ein Läute- rungsprozeß, der sich nach und nach vollzieht, bis die ganze Volksseele (Empfinden und Denken, Wün- schen und Wollen, Glauben und Hoffen) ihr Bild in diesen Liedern sich abspiegeln steht. Es kann je nach der Stimmung ein ernstes oder heiteres oder ein aus beiden Stimmungen gemischtes Bild sein, es kann auch wechseln, je nach den Idealen, welche das sittliche Leben des Menschen beherrschen (vgl. auf der einen Seite «Ilias» und «Nibelungen», auf der andern «Odyssee» und «Gudrun»; dort Heldenmut und Heldenkraft, hier Klugheit und Ausdauer, dort das tobende Schlachtgewühl, hier das rauschende Meer). Da aber das Altertum jedes seiner Ideale in irgend einer Gottheit verkörpert sieht, so ist kein Epos denkbar, in welchem nicht der göttlichen Ein- und Mitwirkung ein breiter Raum gegönnt wäre. Die Einheit des Epos muß aus dem Kern herauswachsen, um welchen sich nach und nach die Lieder angesammelt haben, in ihr muh sich das Ideal verkörpern; dies kann aber nur in einer kon- kreten Gestalt, dem Helden, in die Erscheinung treten. Da aber in den ursprünglichen verschiedenen Liedern dieser nicht durchweg der Mittelpunkt war, und bei derVerschlnelzung nicht alle Teile, die sich nicht unmittelbar auf ihn bezogen, wegfallen durften, ohne daß das Ganze an Schönheit, Fülle und Mannig- faltigkeit fchwere Einbuße erlitten hätte, so traten diese Teile als Episoden in den Rahmen des Epos hinein. Daher die behagliche Breite des Epos, seine Ausbiegungen nach links und rechts, nach vorwärts und zurück, seine Nebenfiguren, die in den ursprüng- lichen Liedern wohl die Rolle der Hauptfiguren ge- spielt hatten. Die Komposition des Epos ist darum lockerer, nicht so knapp und geschlossen wie beim Drama, dessen auf ein Ziel gerichtete Handlung kein Verweilen bei Episoden (s. d.) duldet. Diese (für das Epos charakteristischen) Episoden gehören zwar vor- zugsweise, aber nicht ausnahmslos, einem und demselben Sagenkreise an; schon in der «Ilias» fin- den sich deutliche Fäden aus andern Kre'lM in den troischen Sagenstofs hineingewoben, und mit der Ausgestaltung des Epos durch die sog. Cyklischen Dichter (s. d.) vermehren sich diese Ausnahmen, das Epos selber wird cyklisch, d. h. es hat die Tendenz, den Stoff (nicht zum Vorteil der Kunst) aus ver- schiedenen lokalen Sagenkreisen zusammenzuhäufen, ohne ihn zur Einheit zu verfchmelzen. Hiermit beginnt das Gebiet des Kunstepos. Der Haupt- und Grundunterschied, der es in Gegen- satz zu der Volksdichtung stellt, ist der, daß es die Schöpfung eines einzelnen Dichters ist. Ein zweiter, zwar nicht notwendig, aber gewöhnlich vor- handener, ist der Bruch mit dem Glauben an My- thus und Sage, der dritte, der die Art des Vor- trags betrifft (ob recitierend oder mit Gesang oder gar nicht für Vortrag berechnet), ist nebensächlich und durch keine feste Norm bestimmbar. Virgil hat die «Sage», auf welcher seine «Äneide» beruht, zum großen Teil selber erfunden, von einem naiven Glauben an feine Götterwesen kann also keine Rede sein; noch weniger bei Ovid in seinen phantastischen «Metamorphosen» (in denen sonst alle nur denk- baren Arten des Epos vertreten sind), und später bei den Romantikern, einem Camoes (in den"Lusia- den"), Ariost (im «Nasenden Roland»), Tasso («Be- freites Ierufalem») u. a. Das Götter- und Fabel- wesen wird hier zum üppigen, reizenden Spiel, an welchem Gemüt und Glaube keinen Anteil rnehr haben, um so größern die Phantasie. In diese Ka- tegorie gehören auch die Ritterepen des Chre^tien de Troyes und in Deutschland die der Pfaffen Konrad und Lamprecht, Hartmanns von Aue, Gottfrieds von Straßburg und Wolframs von Eschenbach. Immerhin lebte zu ihrer Zeit noch in manchen Kreisen ein Nachhall heidnischer (vornehmlich ger- man.) Mythologie, der Glaube an Nixen, Elfen u. s. w., fort, während dann Wieland im «Oberon» die Märchen- und Zauberwelt seiner Elfen u. s. w. mitten in eine kühle glaubensleere Gegenwart hineinstellte und nur durch Anregung der Phantasie oder gar durch auflösende Ironie genießbar machte. Man sah sich also, wenn man überhaupt noch ein ernstes Epos schaffen wollte, genötigt, den Nnter- und Hintergrund der Sage zu verlassen oder ihn wenigstens in den (christl.) Legenden zu suchen' dies thun im religiösen Epos Milton im «Verlorenen Paradies» und Klopstock im «Messias», der zu dem großen Thema zurückkehrt, das einst der altsächs. «Heliand» und Otfrids «Evangelienharmonie» ge- staltet hatte. Das christl. Dogma, nicht bloß die Legende, kennt aber das Wunder, und auf diesem