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Mit der wichtigste Teil der Eisenbahnpolitik ist die Ermitte- lung der Preise für die von den Eisenbahnen geleisteten Transporte, also die Feststellung der Tarife (s. Eisenbahntarife). Die Ware der Eisen- bahnverwaltungen ist die Transportlcistung, dcr Preis für diefe Leistung kann nicht unter die Selbst- kosten fallen; soll bei dem Unternehmen etwas ver- dient werden, so muh der Preis die Selbstkosten um etwas übersteigen. Auf die Selbstkosten des Trans- ports wirken aber wesentlich ein: die Verschieden- artigkeit der zum Transport kommenden Gegen- stände, die Verschiedenheit der Entfernungen, aus welche die Gegenstände befördert werden, die Men- gen, in welchen die Gegenstände zur Versendung kommen, und noch viele andere weniger bedeu- tende Umstände.
Eine unentbehrliche Hilfswissenschaft der Eisenbahnpolitik ist die Eisenbahnstatistit (s. d.), durch wclchc die Er- scheinungen des Eisenbahnwesens, insbesondere des Verkehrs, ermittelt und ziffernmäßig zur Darstel- lung gebracht werden. Die statist. Aufnahmen bilden die Hauptgrundlage für die Beurteilung des Ein- flusses der Eifenbahnen auf die wirtschaftliche Ent- wicklung eines Landes; sie allein gewähren einen zuverlässigen Anhalt bei Entscheidung der Frage, wie der Privatwirtschaftsbetrieb der Eisenbahnen im In- teresse der Gemeinwirtschaft einzurichten fei.
Den statist. Aufzeichnungen verdanken wir, um nur einige Beispiele anzuführen, nachstehende interessante Zah- lenangaben über die E n t w i cklu n g d er E i f e n b a h - nen auf der Erde und ihre wirtfchaftlichen Leistungen. 1875 waren auf den 143187 km langen Eifenbahnen Europas 42000 Lokomotiven, 90000 Personen- und 1 Mill. Güterwagen, auf den 296000 km langen Eisenbahnen der ganzen Erde 62000 Lokomotiven, 112000 Personen- und 1465000 Güterwagen vor- handen. Mit diesen Betriebsmitteln wurden damals jährlich in Enropa 1140 Mill. Personen und 540 Mill. t Güter, auf der ganzen Erde aber 1550 Mill. Personen und 800,5 Mill. t Güter befördert, sodaß im Durchschnitt täglich mehr als 4 Mill. Personen auf allen Schicnenstraßen der Erde verkehrten und ungefähr 2,2 Mill. t Güter an ihren Bestimmungs- ort gebracht wurden.
Zehn Jahre später, 1885, waren in Europa auf den 195 665 km langen Bah- nen bereits über 56 550 Lokomotiven, 116500 Per- sonen- und 1360000 Güterwagen, auf der ganzen Erde aber bei einer Eisenbahnlänge von 486188 km ungefähr 94000 Lokomotiven, 141600 Personen- und 2436000 Güterwagen im Betrieb. Hiermit wurden gefahren in Europa: über 1500 Mill. Per- sonen und 781 Mill. t Güter, auf der ganzen Erde: über 2030 Mill. Personen und nahezu 1262 Mill. t Güter. Am Schlüsse des I. 1888, als die Länge der Eisenbahnen der Erde bereits auf 572 570 kin ge- stiegen war, finden sich schon 105000 Stück Loko- motiven.
Wird die Leistungsfähigkeit einer Loko- motive durchschnittlich zu 300 Pferdestärken an- genommen und erwogen, daß ein Pferd auf der glatten ^chienenbahn etwa 7-10mal so viel Last fortbewegen kann, als auf der befestigten Straße, so ergiebt sich eine Gesamtkraft von etwa 250 Mill. Pferdestärken, welche durch die Eifenbahnen und die auf ihnen fahrenden Lokomotiven für die Gcmein- wirtschaft dienstbar gemacht ist. In dcm im franz. Ministerium der öffentlichen Arbeiten herausgege- benen «^.Idum äs 8tgti8tiqno FVHpliitiue cl6 1888» wird ein interessantes Beispiel aufgeführt, in welchem Umfange durch die Eisenbahnen die Reise- zeit abgekürzt und die Reisekosten vermindert worden sind.
Die Reise von Straßburg nach Paris dauerte 1650 218 Stunden 1782108 " 1814 70 » 1834 47 " 1845 10 » 40 Minuten 1887 8 « 49 » Die Beförderungskosten betrugen 1798(Diligence II. Klasse» 73 Frs., 1887 (Eisenbahn II. Klasse) 44 Frs. Die wissenschaftliche Behandlung der Eisen- bahnen in ihren wirtschaftlichen Beziehungen ist erst in neuerer Zeit gepflegt und gefördert worden, ins- besondere durch Sax, Cohn und Wagner. Litteratur. Sax, Die Ökonomik der Eisenbah- nen (Wien 1871);
ders., Die Verkehrsmittel in Volks- und Staatswirtschast, Bd. 2: Die Eisenbahnen (ebd. 1879);
ders., Das Transport- und Kommuni- kationswesen (in Schönbergs «Handbuch der polit. Ökonomie», 3. Aufl., Tüb. 1890; Bd. 1, in Verbin- dung mit von Scheel: «Die Erwerbseinkünfte als Art der Staatseinnahmen, insbesondere die Eisen- bahnen»; Bd. 3, ebd. 1891);
Schima, Studien und Erfahrungen im Eisenbahnwesen, Teil 2: über die Ausgaben des Eisenbahnbetriebes (Prag 1881); Cohn, System der Nationalökonomie, Bd. 1 u. 2 (Stuttg. 1885 u. 1889);
A. Wagner, Das Eisenbahn- wesen als Glied des Verkehrswesens, insbesondere der Staatsbahnen (in dessen «Finanzwissenschaft», 3. Aufl., Lpz. 1883);
Lannhardt, Theorie der Tarif- bildung der Eisenbahnen (Berl. 1890);
Ulrich, Eisen- bahntariswcsen (ebd. 1886; sranzösisch ergänzte Aus- gabe, Par. und Verl. 1890);
Neumann-Spallart, Übersichten der Weltwirtschaft (Stuttg. 1881,1887; Fortsetzung von Franz von Iuraschek, Verl. 1885 -89); Wilczek, Gedanken über die Sicherheit und Ökonomie des Eisenbahnbetriebs (Wien 1893). Gifenbahnperfonenbeförderung, inter - nationale, s. Eiscnbahnrecht (S. 881 d). Gisenbahnpolitik, der Inbegriff derjenigen Grundfätze, nach denen feitens einer Staatsregie- rung das Eisenbahnwesen behandelt wird; sie ist in den verschiedenen Ländern sehr verschieden. In Be- ziehung auf das Verhältnis des Besitzes und Be- triebes der Eisenbahnen zum Staate treten die nachstehenden Erscheinungsformen auf:
1) Privat- eigentum und Privatbetrieb der Eifenbahnen, 2) Staatseigentum und Privatbetrieb der Eifen- bahnen, 3) Privateigentum und Staatsbetrieb der Eisenbahnen, 4) Staatseigentum und Staatsbetrieb der Eisenbahnen. Bei den beiden ersten Formen ist die Fürsorge des Staates für die Erreichung feiner Zwecke eine mittelbare, indem die Aufsicht des Staates über dic Privatthätigkeit die letztere regelt und beschränkt. Die Aufsicht des Staates in dem erstm Fall ist lediglich die auf Gesetz und Konzession (s. Eisenbahn!onzession) beruhende, während sie in dem zweiten Fall verstärkt wird durch die Vorbehalte des Eigentümers.
Bei den beiden letzten (dritten und vierten) Gestaltungsformen ist die Fürsorge des Staates eine unmittelbare, indem an die Stelle der Privatthätigkeit die Thätigkeit des Staates tritt. Die letztere ist in dem dritten Falle beschränkt durch die Vorbehalte des Privateigentümers, in dem vierten Fall dagegen unbeschränkt. In England und m den Vereinigten Staaten von Amerika ist Bau und Be- trieb ausschließlich der Privatthätigkeit überlassen, in den meisten andern Ländern findet sich ein
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mischtes Privat- und Staatsbahnsystem. Die Staa- ten haben dabei die Privatbauthätigkeit vielfach unterstützt durch Zuschüsse zu den Baukapitalien, durch Übernahme von Zinsgarantien für die zum Bau verwendeten Kapitalien, durch unentgeltliche Überlassung von im Staatsbesitz befindlichen Flächen, Gewährung von Steuerfreiheit u. s. w. Die Ver- bindung von Staatseigentum und Privatbetrieb der Eisenbahnen ist in der Form der Verpachtung von Staatseisenbahnen an Privatunternehmer zur Anwendung gebracht, wie z. B. in Holland (s. Nieder- ländische Eisenbahnen) und in Italien (s. Italieni- sche Eisenbahnen).
Vgl. Denkschrift zu dem ersten Verstaatlichungsgesetz in Preusicn vom (Drucksachen des Hauses der Abgeordneten 1879/80, Nr. 5).
Die Frage, ob Privat- oder Staatsbahnen vor- zuziehen seien, ist bestritten. Die Gegner der Staats- bahnen berufen sich auf die allgemeinen Nachteile staatlicher Aetrieve und behaupten, der Staat baue und verwalte teurer als Privatunternehmer. Durch die Vereinigung der Eisenbahnen in der Hand des Staates würde die belebende Privatthätigkeit lahm gelegt und die Macht des Staates bedenklich er- weitert; es liege die Gefahr vor, dah die wichtigsten Verkehrsfragen nicht im allgemein wirtschaftlichen Interesse des Landes, sondern nach einseitigen bu- reaukratischen Rücksichten entschieden würden.
Auch erscheine der Staatskredit gefährdet, wenn von dem Staate solch ungeheure Summen, wie sie Bau und Betrieb von Eisenbahnen erforderten, aufgewendet würden und das Gleichgewicht des Staatshaushalts von den schwankenden Vcrkchrseinnahmen der Eisen- bahnen abhängig sei. Demgegenüber wird von den Verteidigern der Staatsbahnen darauf hingewie- sen, daß eine wirtschaftliche Verwendung des Na- tionalvermögens, das durch die Anlaye und den Betrieb von Eisenbahnen in so großartigem Maße in Anspruch genommen werde, nur bei dem Staats- eisenbahnsystem möglich sei.
Die Verwaltung der Eisenbahnen, deren gewinnwirtschaftliche Inter- essen mit den Interessen der Gemeinwirtschaft viel- fach, insbesondere auf dein wichtigen Gebiete des Tarifwesens, in Widerspruch ständen, könne nie- mals von auf Erwerb bedachten Privatgefellschaf- ten, sondern nur allein vom Staate in einer dem Gemeinwohl entsprechenden Weise geleitet werden. Auch ließe sich die einheitliche staatliche Betriebs- verwaltung dilliger gestalten, als dies bei der großen Wenn gleichwohl die in den Kammerucrhand- lungen und in der Presse hervortretenden Meinun- gen über die Vorzüge des Privat- und des Etaats- bahnsystems immer noch geteilt sind, so gewinnt doch bei den maßgebenden Stellen aller Kultur- länder immer mehr die Ansicht die Oberhand, daß es dem öffentlichen Interesse am besten entspricht, wenn der Staat mindestens alle wichtigern Bahnen selbst besitzt und auch selbst betreibt.
Soweit die be- sondern Verhältnisse der einzelnen Länder es aus- führbar erscheinen lassen, wird deshalb auch überall an die Verwirklichung der Idee, den Bau und Be- trieb der Eisenbahnen dem Staat zu übertragen, geschritten. Am entschiedensten sind in dieser Be- ziehung die deutschen Staaten vorgegangen. Der Versuch, an Stelle der Einzelstaaten das Deutsche Reich als solches zum Träger der Eisenbahnpolitik zu machen und es zunächst in den Besitz eines einflußreichen Eisen- bahnnetzes, der preuh.
Staatsbahnen, zu setzen, mißglückte. Das preuß. Gesetz vom wegen Übertragung des Eigentums und sonstiger Rechte des Staates an Eisenbahnen auf das Deutsche Reich ist bisher, infolge des Widerspruchs der deutschen Mittelstaaten, nicht zur Ausführung ge- kommen. Preußen sah sich daher genötigt, allein vorzugehen. Seit 1879/80 ist das reine Staatsbahn- system durch den. inzwischen bewirkten Ankauf fast sämtlicher wichtigern Privatbahnen durch den Staat sichergestellt (s. Preußische Eisenbahnen): in Bayern, Sachsen, Württemberg und Baden gehören die vorhandenen Eisenbahnen fast aus- schließlich den betreffenden Staaten. Eisenbahnen.) Der österreichische Staat, der im Dränge der Finanznot in den fünfziger Jahren sei- nen Eisenbahnbesitz verkauft hatte, sucht wieder in den Besitz der Eisenbahnen zu kommen und hat be- reits eine Reihe wichtiger Linien angekauft und in Betrieb genommen.
Ungarn bedurfteeinerselbstän- digen nationalen Tarifpolitik für die Beförderung seiner landwirtschaftlichen Massenprodukte, und da eine solche mit den Privatbahnen nicht durchzuführen war, so wurden letztere für den Staat erworben und befindet sich dort jetzt der größte Teil der Eisenbahnen in den Händen des Staates. (S. Österreichisch-Un- garische Eisenbahnen.) In Dänemark sind nur noch wenige Bahnen im Privatbesitz. (S. Dänische Eisenbahnen.) In Norwegen sind die Bahnen von Anfang an fast nur vom Staat gebaut und be- trieben worden, und in Schweden gehört ein großer Teil der vorhandenen Eisenbahnen dem Staate. (S. Norwegische Eisenbahnen und schwedische Eisenbahnen.) In den Niederlanden sind die zum größten Teile dem Staate gehörenden Linien an zwei Privatgesellschaften, die Gesellschaft für den Betrieb Niederländischer Staatsbahnen und die Holländische Eisenbahngesellschaft, verpachtet.
Durch das Gesetz vom ist ferner die Verstaatlichung der niederländ. Rheinbahn geneh- ! migt, und neuen mit den Vetriebsgesellschaften ab- ! geschlossenen Verträgen, durch welche die Regierung sich weitgehende Befugnisse bezüglich der Einwir- kung auf die Gestaltung der Tarife und Fahrplüne vorbehalten hat, die Bestätigung erteilt worden. (S. Niederländische Eisendahnen.) Ebenso gehört in Belgien ein großer Teil des Eisenbahnnetzes dem Staat und wird von demselben betrieben. (S. Belgische Eisenbahnen.) In der Schweiz be- steht einstweilen noch das reine Privatbahnsystem, dessen Mängel sich aber im Laufe der Zeit fo fühl- bar gemacht haben, dah schon feit Jahren der Er- werb aller Bahnen für den Bund erörtert wird.
Nachdem der 1887 versuchte Ankauf der Nord- ostbahn vereitelt wurde, hat die Bundesregierung einen neuen Weg bcfchritten und die Aktien eini- ger größerer Privatbahnen (Iura-Simplon- und Centraldahn) erworben, um sich maßgebenden Ein- fluß in der Verwaltung dieser Bahnen zu sichern und den Erwerb derselben durch den Staat vor- zubereiten. (S. Schweizerische Eisenbahnen.) In Italien befindet sich die überwiegende Mehr- zahl der Bahnlinien im Besitz des Staates. Die- selben sind, wie schon bemerkt, in ähnlicher Weise, wie es in Holland geschehen, an Privatunternehmer verpachtet. (S. Italienische Eisenbahnen.) InNuß - land, wo für die Eisenbahnen im Privatbesitz vom Staat sehr hohe Beihilfen gezahlt werden müssen, wnrde in neuester Zeit ein ausgedehntes Netz von Privatbahnen für den Staat erworben, auch wurden