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sowie zur Deckung der vermehrten Heereskosten aus eigenen Einnahmen des Reichs wurde eine Erhöhung der bestehenden und Einführung neuer Reichsstempelabgaben, eine Tabakfabrikatsteuer und eine Weinsteuer in Aussicht genommen. Entsprechende Vorlagen gingen dem am 16. Nov. wieder eröffneten Reichstag zu.
Neben dieser Finanzreform war die wichtigste Aufgabe des Reichstags, sich über die Fortführung der Handelsvertragspolitik zu entscheiden. Es lagen weitere Verträge mit Spanien, [* 2] Rumänien [* 3] und Serbien vor, die eine lebhafte Opposition fanden. Während die frühern Verträge mit Österreich, [* 4] Italien, [* 5] Belgien [* 6] und der Schweiz [* 7] eine große Majorität gefunden hatten, wurden bei der inzwischen entfalteten agrarischen Agitation diese sog. «kleinen» Handelsverträge 15. Dez. in dritter Lesung mit nur geringen Mehrheiten angenommen.
Die Opposition galt weniger diesen Verträgen selbst als der ganzen Wirtschaftspolitik und sollte eine Kraftprobe für den erwarteten russ. Handelsvertrag abgeben. Namentlich die deutschkonservative Partei trat jetzt geschlossen gegen die Handelsverträge auf, nachdem auf dem Tivoliparteitag die extreme, durch die «Kreuzzeitung» vertretene, der Regierung des «neuen Kurses» und besonders dem Reichskanzler Caprivi wenig freundliche Richtung völlig die Oberhand gewonnen hatte.
Die mit Rußland eingeleiteten Verhandlungen hatten sich sehr in die Länge gezogen, und es war schließlich ein förmlicher Zollkrieg ausgebrochen. Rußland hatte die differentielle Zollbehandlung, die sein Getreide [* 8] gegenüber dem der Vertragsstaaten und besonders Österreich-Ungarns in Deutschland [* 9] erfuhr, im Juni 1892 durch Aufstellung eines seine bisher schon hohen Zölle bedeutend erhöhenden und sogleich auf Deutschland angewendeten Maximaltarifs beantwortet, Deutschland darauf die für Rußland in Betracht kommenden Produkte noch mit einem Zollzuschlag von 50 Proz. belegt.
Endlich kam der Abschluß eines Vertrags auf 10 Jahre (bis Ende 1903) zu stande, der auch Rußland den Getreidezoll von 35 M. für die Tonne gewährte, wogegen dieses wesentliche Ermäßigungen seiner Industriezölle zugestand. Gegen diesen Vertrag richtete sich noch einmal die volle Kraft [* 10] der agrarischen Opposition. Andererseits wurden alle Hebel [* 11] für den Vertrag in Bewegung gesetzt. Es wurde namentlich geltend gemacht, daß er lediglich die letzte, selbstverständliche Konsequenz der voraufgegangenen Handelsverträge und gar nicht die Landwirtschaft besonders zu schädigen geeignet fei, daß für diese auf andern Wegen eine erhöhte Fürsorge eintreten müsse. Es geschahen auch schon Schritte in dieser Richtung. Um den Grundbesitzern des Ostens gegenüber der Konkurrenz des russ. Roggens einen erleichterten Export ihrer Produkte zu eröffnen, wurde der Identitätsnachweis (s. d.) für die Getreideausfuhr abgeschafft (Gesetz vom Im Zusammenhang damit wurde die demnächstige Aufhebung der von den Landwirten des südwestl.
Deutschlands [* 12] als Schädigung beklagten für Getreide und Mühlenfabrikate bestehenden Staffeltarife der preuß. Staatsbahnen [* 13] zugesichert. Dem preuß. Abgeordnetenhaus war auch bereits ein Gesetzentwurf über die Errichtung von Landwirtschaftskammern zugegangen und eine Reichskommission war berufen worden und 22. Febr. zusammengetreten, um Maßregeln zur Hebung [* 14] des Silberwertes zu erörtern, schließlich trat der Kaiser selbst im gelegentlichen Gespräch mit der ganzen ihm eigenen Energie für den Vertrag mit Rußland ein, indem er namentlich die hochpolit.
Bedeutung des Vertrags mit Rücksicht auf die Herstellung eines freundlichern Verhältnisses zu Rußland überhaupt betonte. So kam es, daß bei der entscheidenden Abstimmung in der zweiten Beratung 10. März sich für den Vertrag die immerhin ansehnliche Mehrheit von 200 Stimmen gegen 146 fand. Dagegen stimmten die Deutschkonservativen, der größere Teil der Reichspartei, etwa das halbe Centrum und die antisemitische Reformpartei. In dritter Lesung wurde der Vertrag 16. März ohne namentliche Abstimmung mit ähnlicher Mehrheit angenommen. Er trat bereits 20. März in Kraft.
Zu diesem bedeutenden Erfolg behilflich war der Regierung auch der Umstand, daß inzwischen durch das ganz spontane Entgegenkommen des Kaisers zwischen ihm und Bismarck ein freundlicheres Verhältnis hergestellt und dadurch doch dessen, Kritik der Regierungspolitik eine gewisse Schranke gezogen war. Bereits bei der Erkrankung Bismarcks im Sommer 1893 in Kissingen [* 15] hatte der Kaiser seine besondere Teilnahme dem Fürsten direkt zu erkennen gegeben; ein ähnlicher Vorgang ereignete sich bei gleicher Gelegenheit im Jan. 1894 und veranlaßte Bismarck, am Vorabend des kaiserl. Geburtstags, 26. Jan., zur Gratulation in Berlin [* 16] zu erscheinen, wo er vom Kaiser mit den höchsten Ehren empfangen, vom Publikum mit Jubel begrüßt wurde. Der Kaiser erwiderte den Besuch auf der Durchreise nach Wilhelmshaven [* 17] 19. Febr. in Friedrichsruh. Diese endliche Wiederherstellung freundlicher Beziehungen zwischen dem Begründer des deutschen Kaiserthrones und seinem gegenwärtigen Inhaber wurde von dem größten Teil der Nation mit aufrichtiger Genugthuung begrüßt, blieb aber zunächst auf das rein persönliche Verhältnis beschränkt und ohne weitere polit. Folge.
War durch die Annahme der Handelsverträge die eine Hauptaufgabe der Reichstagssession zu einem für die Regierung erfolgreichen Abschluß gelangt, so zeigte bei der andern, der Finanzreform, der Reichstag zur Zeit wenig Neigung, auf die weit ausgreifenden Pläne der Regierung einzugehen. Alle drei Steuervorlagen sowie auch der allgemeine Reformplan waren einer und derselben Kommission überwiesen worden, infolgedessen die Beratung, die entgegen den Wünschen der Regierung mit den Steuervorlagen begann, sich weit hinausschob.
Bloß das Gesetz über die Stempelabgaben wurde vollständig durchberaten und hier nur der Erhöhung der Börsensteuer und der Steuer auf die Lotterielose zugestimmt, die Besteuerung der Quittungen, Checks, Giroanweisungen und Frachtpapiere aber rundweg abgelehnt. In dieser Form wurde der Entwurf im Reichstag 19. April in dritter Lesung angenommen (Gesetz vom und trat schon 1. Mai in Kraft. Beim Tabaksteuergesetz wurde der grundlegende §. 4, der die Einführung der Fabrikatsteuer aussprach, 18. April in der Kommission verworfen und darauf die Weiterberatung vertagt. Die Weinsteuer war ganz aussichtslos, besonders seitdem sich der württemb. Minister von Mittnacht schon bei der ersten Lesung im Reichstag in einer Aufsehen erregenden Rede gegen sie ausgesprochen hatte. Inzwischen war dem Reichshaushaltsetat im Reichstag durch starke Abstriche in den Ausgaben, namentlich des Marineetats, und ¶
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durch die Höhereinstellung einer Reihe von Einnahmeposten eine rechnerisch bessere Gestalt gegeben worden, sodaß die Mehreinnahme ans der Börsensteuer und dem Lotteriestempel genügte, um die Mehrkosten der Heeresverstärkung für 1894-95 zu decken und die Überweisungen so ziemlich mit den Matrikularbeiträgen ins Gleichgewicht [* 19] zu bringen. Angesichts dieser ungünstigen Aussichten für ihre Finanzreformvorschläge hielten es die verbündeten Regierungen für geratener, zur Zeit auf deren völlige Erledigung zu verzichten und den Reichstag alsbald zu schließen.
Zur Annahme gekommen waren im Reichstag noch eine Reform des Unterstützungswohnsitzgesetzes, Novellen zum Viehseuchengesetz und zur Konkursordnung, Gesetze über die Abzahlungsgeschäfte (vom und den Schutz der Warenbezeichnungen (vom Ferner wurden die Initiativanträge des Centrums und der Freisinnigen, die die Geheimhaltung der Abstimmung bei den Reichstagswahlen besser zu sichern bezweckte, angenommen. Auch der seit Jahren vorliegende Antrag auf Aufhebung des Jesuitengesetzes, dessen Zeit das Centrum nun endlich gekommen glaubte, gelangte, nachdem er schon in zweiter Lesung durchgegangen war, 16. April trotz aller aus dem Lande dagegen erhobenen Proteste in dritter Lesung mit 168 gegen 145 Stimmen zur Annahme.
Dagegen war ein Antrag des Grafen Kanitz, den Handel mit ausländischem Getreide zu verstaatlichen und Minimalverkaufspreise für die einzelnen Getreidearten festzusetzen, 14. April mit großer Mehrheit abgelehnt worden, da nicht einmal die Deutschkonservativen geschlossen dafür eintraten. Ein Antrag des Abgeordneten von Plötz auf Einführung eines Wollzolles kam nicht mehr zur Beratung. Am 19. April wurde der Reichstag geschlossen, nachdem der Reichskanzler zuvor eine Erklärung verlesen hatte, daß die verbündeten Regierungen an der von ihnen vorgeschlagenen Finanzreform festhielten und in der nächsten Session von neuem mit entsprechenden Vorschlägen hervortreten würden.
Auf die auswärtige Lage scheint in der That die Politik der Handelsverträge von günstigem Einfluß zu sein. Die Erwiderung des franz. Flottenbesuches in Kronstadt [* 20] durch die aus Amerika [* 21] heimkehrenden russ. Kriegsschiffe in Toulon [* 22] im Okt. 1893 war in Frankreich mit der größten Begeisterung aufgenommen worden und hatte eine weitere Annäherung Rußlands an Frankreich in deutschfeindlichem Sinne angebahnt. Infolge des Abschlusses des russ.-deutschen Handelsvertrags aber, an dessen Zustandekommen der russ. Kaiser persönlich ein lebhaftes Interesse nahm, hat in Rußland eine freundlichere Stimmung gegen Deutschland Platz gegriffen.
Ein Symptom dafür war die Verlobung des russ. Thronfolgers mit der Prinzessin Alix von Hessen [* 23] (April 1894). Daß das Verhältnis Deutschlands zu den verbündeten Mächten ungetrübt geblieben ist, zeigten die wiederholten gegenseitigen Besuche des Deutschen Kaisers und der Monarchen der beiden andern Staaten. Mit England und Frankreich machten sich bei der fortschreitenden Erschließung des kolonialen Hinterlandes in Afrika [* 24] weitere Abmachungen über die Abgrenzung der Interessensphären nötig.
Nachdem mit England bereits ein Abkommen über die genauere Grenzfestsetzung am Kilima-Ndscharo getroffen worden war, kam 15. Nov. auch ein Vertrag über die westafrik. Schutzgebiete zu stande, durch den Deutschland der Zugang zum Tsadsee und das ganze Flußgebiet des Schari überlassen wurde. Gegen diese weite Ausdehnung [* 25] nach Osten erhob alsbald Frankreich Einspruch, indem es sich auf die durch franz. Expeditionen in jenen Gegenden geschlossenen Verträge berief. Da Deutschland dem gegenüber keine Resultate seiner Forschungsreisenden aufzuweisen vermochte, wurde nach langen Verhandlungen ein für Deutschland wenig günstiges, am unterzeichnetes Abkommen geschlossen, worin Frankreich das rechte Schari-Ufer am Tsadsee überlassen und ein Zugang zum Mayo Kebbi und dadurch zum Binue eingeräumt wurde, wogegen Deutschland ein Zugang zum Canga (Kongo) eröffnet wurde.
Auch in den westafrik. Kolonien selbst waren wenig erfreuliche Ereignisse zu verzeichnen. In Kamerun brach eine durch Mißgriffe von Beamten hervorgerufene Meuterei von Polizeisoldaten aus. Sie bemächtigten sich des Regierungsgebäudes, wurden aber durch Mannschaften des Kreuzers Hyäne schon 21. Dez. daraus vertrieben und darauf zur Unterwerfung gebracht, sodaß ein von Deutschland alsbald abgeschicktes Detachement von Seesoldaten gar nicht in Wirksamkeit zu treten brauchte.
Gegen die schuldigen Beamten wurde die Disciplinaruntersuchung eingeleitet. Das südwestafrik. Schutzgebiet wurde durch die Raubzüge des Häuptlings Witboi unsicher gemacht, und Major von François vermochte ihn auch nach der Erstürmung seiner Feste Hoornkrans und trotz mehrmaliger Verstärkung [* 26] der Schutztruppe nicht unschädlich zu machen. Zur Begutachtung der Lage wurde daher Major Leutwein in das Schutzgebiet entsendet und dort im März 1894 zu dessen Landeshauptmann ernannt. Eine weitere Verstärkung der Schutztruppe soll demnächst erfolgen. Günstiger waren die Verhältnisse in Ostafrika, wo nach Vernichtung des unbotmäßigen Häuptlings Sikki in Tabora (10. bis und nach Besiegung des Sultans Meli in Moschi im allgemeinen friedliche Zustände herrschten und der seit Sept. 1893 an Stelle des Freiherrn von Soden getretene Gouverneur Oberst von Scheele durch Bereisung (1894) des südl. Teils des Schutzgebietes bis zum Nyassasee, auf den Wißmann inzwischen im Auftrage des Deutschen Antisklavereikomitees einen Dampfer gebracht hatte, das deutsche Ansehen dort hob, Bundesgenossen zu einem spätern Kriegszug gegen die räuberischen Wahehe warb und wichtige Beiträge zur genauern Kenntnis des Landes lieferte.
Litteratur zur deutschen Geschichte. Quellenkunde. Die frühesten Nachrichten über Deutschland und die Deutschen finden sich vereinzelt bei Cäsar, Vellejus, Dio Cassius, sodann umfassender in Tacitus' Germania, [* 27] in des Jordanes Geschichte der Goten, Gregors von Tours [* 28] Geschichte der Franken und des Paulus Diakonus Geschichte der Langobarden. Die Reihe der eigentlichen deutschen Quellenschriftsteller beginnt unter Karl d. Gr. In den Geschichtswerken dieser Zeit bis herab zum 10. Jahrh. treten vornehmlich zwei Richtungen, die annalistische (s. Annalen) und die biographische, in den Vordergrund. Das Bedeutendste in dieser Art sind die Annalen, welche wohl mit Unrecht Einhard zugeschrieben werden, der in seinem Leben Karls d. Gr. der biogr. Darstellung ein erstes frühes Vorbild geliefert hat. Im allgemeinen teilte sich die biogr. ¶