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versammelte und dem alle tendenziösen Zeitinteressen glücklich fern lagen. Neben Geibel dichtete da Friedr. Bodenstedt (1819-92), der als «Mirza Schaffy» (1851) an Goethes «Diwan» und an echte orient. Muster zugleich lebenslustig und lehrhaft anknüpfte und an dem sinnvoll sinnlichen Daumer, dem beschaulichen Hammer [* 2] Stilgenossen hatte; ferner der mecklenb. Graf Schack, der nachbildend und neubildend orient. und antiken Anregungen in hoher Formvollendung nachgab, der Dichter der «Völkerwanderung» (1866), Herm. Lingg, der Nachdichter Gottfrieds von Straßburg [* 3] und anderer mittelhochdeutscher Epiker, Wilh.
Hertz, der Philosoph M. Meyr, Verfasser guter Dorfgeschichten, der anmutige Kulturnovellist Riehl, der poet. Erzähler Jul. Grosse, endlich, nicht zuletzt, der erfolgreichste Novellist der Epoche, Paul Heyse (geb. 1830), ein Künstler von wohlthuend klarem Blick und durchsichtiger Form, der in seinen kleinen Liebesgeschichten ebenso die südl. Glut Italiens [* 4] wie die innige Wärme [* 5] Deutschlands [* 6] darzustellen weiß und dem auch edle antikisierende Dramen, flüssige poet. Erzählungen, charakteristische patriotische Schauspiele gelingen, während ihm die leidige Tendenz die Romane verdirbt.
Im Roman, der mit dieser Epoche mehr als je in den Vordergrund tritt, offenbart sich eine jene romantischen Nachwirkungen ablösende immer wachsende Neigung zum Realismus. Er findet einen sehr erfreulichen Vertreter an Gust. Freytag (geb. 1816), dessen feine und reiche Begabung aber nicht durch seine modern realistischen Romane («Soll und Haben», 1855, «Die verlorene Handschrift», 1865) erschöpft wird, dem wir eine Neubelebung des histor. Romans («Die Ahnen», 1872 fg.) und vor allem das beste moderne Lustspiel («Die Journalisten», 1854) verdanken.
Mehr an Gutzkow als an ihn schließen sich Spielhagens oft sehr tendenziöse sociale Romane an; Hackländer, der mit humoristischen Soldatengeschichten begann, wie sie Wickede und Winterfeld vorwiegend pflegten, ging später zu Gesellschaftsromanen über, die er allzu flüchtig und schnell hinschrieb. Den kulturhistor. Roman vertritt Scheffel in seinem ausgezeichneten, poetisch wertvollen «Ekkehard» (1855), dem speciell preußischen Hesekiel und Hiltl, freilich keine ebenbürtigen Nachfolger von Alexis;
humoristisch archaisiert Trautmann;
realistische Darstellungen aus dem jüd. Leben bringen Kompert und Franzos;
einen köstlichen Humor entfaltet der Mecklenburger Fritz Reuter in seinen plattdeutschen Romanen (besonders «Ut mine Stromtid», 1861).
Das Glück des Kinder- und Familienlebens schildern der sentimentale Bog. Goltz und der gesund heitere Rud. Reichenau; fromme Volkserzählungen schreiben Horn und Frommet, fromme Romane die liebenswürdige Marie Nathusius, Kindergeschichten, die freilich etwas hausbacken geraten, Ottilie Wildermuth. Die Novelle hat neben Heyse an dem oft schwermütig düstern, aber ungemein feinfühligen und stimmungsvollen Erzähler Storm (1817-88) einen hervorragenden Vertreter.
Alle aber überragt der Züricher Gottfried Keller, die kräftigste Dichtergestalt unserer modernen Litteratur, im «Grünen Heinrich» (1853) ein Meister des psychol. Romans, in seinen Novellen, zumal in den «Leuten von Seldwyla» (1856),
auch dem «Sinngedicht» (1881), ein sinnlich packender, scharf schauender und charakterisierender Darsteller des umgebenden Lebens, dem doch die weichsten und süßesten Töne gelingen und der selbst die häßliche Wirklichkeit durch einen überlegenen, oft herzgewinnend übermütigen Humor verklärt. In unserer gesamten Novellistik kommen ihm immer noch am nächsten zwei kleine, früher wenig beachtete Arbeiten («Die Heiterethei», «Zwischen Himmel [* 7] und Erde») des Thüringers Otto Ludwig (1813-65),
eines genialen, leider früh krankenden Mannes, dessen Lieblingsgebiet freilich das Drama war. Seine knorrigen, herben Schöpfungen, die an Hebbel erinnern («Der Erbförster», «Die Makkabäer»),
stehen im ernsten Drama allein;
weder Freytags Sittenschauspiele, noch die preisgekrönten Versuche Lindners und Nissels, noch gar die routinierten Bühnenstücke Mosenthals und Brachvogels reichen entfernt an sie heran;
Richard Wagners geniale Operndichtungen nehmen im dramat. Aufbau einen sehr hohen Rang ein, verraten aber in der Detailausführung zu sehr ihre Bestimmung. Im Lustspiel erzielen Putlitz, Wehl, Feldmann vorübergehende Erfolge;
die Possen Kalischs und Räders sind ohne litterar.
Ansprüche doch immerhin so lustig gewesen, daß sie zum Teil bis heute noch ihr Leben fristen. Von Lyrikern haben zwei ihrer Zeit wenig beachtete, der Schweizer Leuthold (1827-79), eine herbe und wüste, aber geniale und überraschend formstrenge Dichterkraft, und der melancholisch innige Tiroler Herm. von Gilm (1812-64), dem die geistige Enge in seinem geliebten Vaterlande die Flügel lähmte, neuerdings verspätetes Interesse gefunden. Der «Quickborn» (1852) des Holsteiners Klaus Groth spiegelt den spröden, aber echten treuen Charakter des Volksstammes wider, in dessen Mundart er gedichtet ist. Anregungen moderner Wissenschaft zeigt ernsthaft die pessimistische Lyrik Hier. Lorms, in lustiger Parodie die ausgelassen burschikosen Lieder, in denen Scheffel («Gaudeamus», 1867) naturwissenschaftliche und philol. Fragen behandelt.
Die in den Tagen der Romantik aufgeblühte Wissenschaft hatte inzwischen ihr Antlitz nicht wenig verändert. Als die Alleinherrschaft der Hegelschen Philosophie, die noch in Vischers trefflicher «Ästhetik» (1848) eine späte Blüte [* 8] trieb, gebrochen war, wirkte auf weite Kreise [* 9] der Pessimismus des früher wenig beachteten Schopenhauer (1788-1860), eines glänzenden und klaren Schriftstellers, dessen nie versagende scharfe Deutlichkeit sehr wohlthuend abstach von Hegels schwerfälliger Kunstsprache.
Die histor. und philol. Wissenschaften bauten auf den von der Romantik gelegten Grundlagen mit immer sichererer methodischer Technik, immer ausgedehnterem Wissen fort; auch die schriftstellerische Kunst hat sich mehr und mehr gehoben; Männer wie der große Historiker Leopold von Ranke, wie Mommsen, Sybel und Döllinger, vor allem der gestaltungskräftige Heinrich von Treitschke gehören auch der deutschen Litteraturgeschichte an. Über die weitere wissenschaftliche Litteratur vgl. die Artikel der einzelnen Wissenschaften, insbesondere Deutsche Mundarten, [* 10] Deutsche Philologie, Deutsche Philosophie, Deutsche Sprache.
An der Gründung des Deutschen Reichs (1871) waren in erster Linie zwei Meister deutscher Prosa beteiligt: die Reden des Fürsten Bismarck atmen in jedem Satze ursprüngliche schöpferische Sprachgewalt, die Schriften des Grafen Moltke suchen in ruhiger und schöner Klarheit der Rede ihresgleichen. Man kann nicht sagen, daß sonst das neue ¶
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Reich unserer Litteratur starke Förderung gebracht hätte. Die stets anwachsende Unruhe, die unsere komplizierten polit. und socialen Verhältnisse mit sich bringen, sind der stillen Sammlung, aus der die Dichtung emporblüht, ebenso ungünstig wie das Überwuchern der materiellen Interessen; zumal die Lyrik leidet darunter. Die Reichshauptstadt Berlin, [* 12] die zuweilen Ansprüche auf eine in Kritik und Produktion ähnlich führende Stellung erhebt, wie Paris [* 13] und London [* 14] sie haben, hat sich bisher dieser Rolle nicht gewachsen gezeigt und wird sie, dank der erfreulichen Vielheit unserer geistigen Centren, nie erreichen.
Der Einfluß des besiegten Frankreichs war während der ganzen Zeit seit 1870 ungewöhnlich groß, nicht immer segensreich. Von den polit. Tendenzen hat der «Kulturkampf» zeitweilig mehr Staub aufgewirbelt; er kommt oft zur Sprache [* 15] in den wenig wertvollen Frauenromanen der «Gartenlaube» (Marlitt, E. Werner u. a.); aber auch in Anzengrubers Volksstücken, in Wilh. Buschs komischen Epen und sonst brechen verwandte Tendenzen durch, während auf kath. Seite Konr. von Bolanden umfängliche, etwas plumpe Romane ins Feuer sandte.
Der Roman, an dem sich Frauen durchweg stark beteiligen, steht dauernd im Vordergrunde. Die bedeutendste Gestalt des Zeitabschnitts ist unzweifelhaft der Märker Theodor Fontane (geb. 1819), längst durch treffliche Balladen und liebenswürdig anschauliche Schilderungen seiner märkischen Heimat bekannt, der neuerdings in einer Anzahl von Berliner [* 16] Romanen überraschende Schärfe und Realistik der Detaildarstellung an den Tag gelegt hat; neben ihm treten die schwülen Gesellschafts- und Künstlerromane der Ossip Schubin, die pessimistisch unruhigen Erzählungen Wilh.
Jensens zurück, während die vornehme, maßvolle, des Humors nicht unfähige Darstellungskunst der Baronin Marie von Ebner-Eschenbach keinen Vergleich zu scheuen braucht. Der geschichtliche und archäol. Roman gedieh namentlich in Professorenhänden und genoß lange eine künstlerisch kaum gerechtfertigte Beliebtheit, so die Romane von Dahn, Ebers, Hausrath, zu denen der Romancier Ostpreußens, Ernst Wichert, dessen «Ein Schritt vom Wege» zu unsern besten neuern Lustspielen zählt, treten mag.
Der moderne Geschichtsroman ist von Gregor Samarow mit den rohesten Effekten ausgestattet worden. Die histor. Novelle hat Konr. Ferd. Meyer mit Geist und glänzender Gestaltungskraft herausgearbeitet; auch Ludwig Laistner fühlt sich im Mittelalter besonders wohl. Während uns Sacher-Masoch, Vacano, Lindau [* 17] und zumal die zahlreichen Autoren von Kriminalgeschichten mit Vorliebe in die schwüle Atmosphäre moderner Großstadtsitten hineinführen, betont Jul. Stinde die fast kleinstädtisch behaglichen Seiten Berliner Familienlebens und weiß Heinr. Seidel mitten in Spreebabel sich einen Poetenwinkel stillvergnügter, natursinniger Genügsamkeit zurechtzumachen.
Dieselbe Neigung zur Weltflucht kennzeichnet den hochbegabten, im Grunde melancholischen Humoristen Wilh. Raabe (geb. 1831); der derbere Humor Fr. Th. Vischers schreckt in dem Romane «Auch Einer» auch vor den grellsten tragischen Farben nicht zurück. Als glücklicher, humorvoller Novellist von vielseitigen Vorzügen, vortrefflich in der Naturschilderung, in der histor. Färbung, in der heitern Auffassung des Kleinstadtlebens hat sich neuerdings Hans Hoffmann erwiesen.
Das Epos tritt dagegen ganz zurück, kaum minder die Lyrik. Jul. Wolffs äußerlich stilgemäße epische Erzählungen sind noch ein Nachklang des romantischen Epos in der Art des Scheffelschen Trompeters, wie Scheffels muntere Lieder in Baumbachs graziöser, aber nicht eben mannigfacher Spielmannspoesie fortwirken; origineller, ein leidenschaftlich und sinnlich vertiefter Nachklang Heines, ist Grisebachs Liedercyklus «Der neue Tannhäuser» (1869). Das Drama hat immer noch einige Jambendichter höhern Stils aufzuweisen, wie den eifrigen H. Kruse, Adolf Wilbrandt, Fitger, den Festspieldichter Hans Herrig u. a.; nachhaltiger drang nur Ernst von Wildenbruch (geb. 1845) durch. Ernste Volksstücke schrieb Anzengruber u. a., heitere l'Arronge, geistreiche Lustspiele Wilh. Jordan, moderne Sittenprobleme behandelte Rich. Voß; große Bühnenerfolge hatten Moser, Schönthan, Kadelburg, Blumenthal mit Lustspielen, Lindau mit Konversationsstücken und einigen ernsten Dramen.
Die jüngste Generation unserer Dichter huldigt unter dem starken Einfluß franz., skandinav. und russ. Vorbilder (Zola; Ibsen, Strindberg; Dostojewski, Tolstoi) mit kampfesmutigem Feuereifer einer scharf naturalistischen Richtung, die doch durch symbolistische Neigungen bei ihren bedeutendern Vertretern allmählich sich von selbst korrigiert. Noch haben sich unter unsern Jüngsten nicht viele aus der Periode trüber künstlerischer und socialer Gärung herausgearbeitet.
Immerhin hat sich Hermann Sudermann als bedeutender Romanschriftsteller («Frau Sorge», 1887) und erfolgreicher Bühnendichter bewährt; auf den Dramatiker Gerhart Hauptmann, der zwar hinreißender dramat. Kraft [* 18] noch entbehrt, aber für die Zeichnung von Personen und Situationen, für die Kunst, Stimmung zu schaffen, treffliche Gaben mitbringt, setzen viele große Erwartungen; die Lyrik von Detlev von Liliencron, Arno Holz [* 19] u. a. zeigt Frische und Klang. Auch der Novellisten Wolfgang Kirchbach und M. G. Conrad, des Romanschriftstellers Max Kretzer, des Tragikers Max Halbe sei gedacht. Die häßlichen Auswüchse, die gerade in Zeiten eines einseitigen Naturalismus sich lärmend und anspruchsvoll vorzudrängen pflegen, dürfen doch nicht verkennen lassen, daß die Dichtung unserer Tage ein frisches Leben besitzt.
Von den zahlreichen Hilfsmitteln für das Studium der Geschichte der Deutsche Litteratur seien hervorgehoben:
1) Gesamtdarstellungen. Das grundlegende Werk von Gervinus, «Geschichte der deutschen Dichtung» (5 Bde., Lpz. 1835-40; 5. Ausg., hg. von Bartsch, ebd. 1871-74),
ist trotz der oft einseitigen ästhetischen Beurteilung wegen seiner geistvollen und selbständigen Darstellung und Gruppierung noch heute unveraltet. Die gelehrten Arbeiten von Koberstein («Grundriß zur Geschichte der deutschen Nationallitteratur», Lpz. 1827; 5. Aufl., 5 Bde., hg. von Bartsch, ebd. 1872-74),
von Wackernagel («Geschichte der Deutsche Litteratur», Basel [* 20] 1848; 2. Aufl., 2 Bde., hg. von Martin, ebd. 1879-94),
von Goedeke («Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung», 3 Bde., Hannov. und Dresd. 1856-81; 2. Aufl., bis 1894 5 Bde., Dresd. 1884 fg.) legen mehr Wert aus gründliche Sammlung und Verarbeitung des Materials als auf fesselnde Darstellung, bilden aber die Grundlage jeder litterarhistor. Forschung. In Vilmars trefflich geschriebener «Geschichte der deutschen Nationallitteratur» (Marb. 1845; 23. Aufl. 1890) tritt der ausgesprochen protestantisch kirchliche, in Lindemanns «Geschichte der Deutsche Litteratur» ¶