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sauberlichen, antikisierenden Odendichter Ramler, der mit wahrer Monomanie die Verse seiner sämtlichen Freunde durchkorrigierte, außer der trivialen Poetasterin, der Karschin, besaß Berlin [* 2] namentlich zwei charakteristische Autoren, den braven aber unbedeutenden jüd. Popularphilosophen Moses Mendelssohn, einen Anhänger Shaftesburys, und vor allem den vielgeschäftigen, berlinisch absprechenden Typus platter Aufklärung, den Buchhändler Nicolai, der mit sicherm Instinkt alle genialen und ungewöhnlichen Erscheinungen unserer Poesie von Goethes «Werther» bis zu Fichte [* 3] einer trivialen Kritik in Form von Recensionen, Satiren und Romanen unterwarf. In diese Gesellschaft nun trat der Mann herein, der uns als der vollendetste litterar.
Typus der Fridericianischen Zeit gelten muß, der sächs. Litterat Gotthold Ephraim Lessing (1729-81). Mann und Charakter vom Wirbel bis zur Zehe, hat dieser größte deutsche Journalist die Waffe schneidiger Kritik zu schwingen gewußt wie kein zweiter; ein erfrischendes Frühlingsgewitter reinigt er die Luft von veralteten Vorurteilen und Irrtümern, dabei doch stets künstlerisch und sittlich maßvoll. Er schafft eine Prosa, leuchtend klar, dramatisch belebt, knapp und scharf und treffend, wie sie nie zuvor erklang.
Seine Kritik zerstört nicht, sie baut auf. Gleich Winckelmann beugt er sich bewundernd vor den Alten und erkennt sie als einen Höhepunkt aller Kunst an; fehlt ihm jener histor. Blick, der Winckelmanns «Geschichte der Kunst des Altertums» (1764) an die Spitze der gesamten Kunstgeschichte stellt, so besitzt er dafür die Gabe scharfer und doch fruchtbarer Definition. Ihm geht es im «Laokoon» (1766) auf, daß die Poesie nicht Zustände, sondern nur Handlungen darstellen soll, und er leitet daraus ihre Gesetze her; er erweist in der «Hamburgischen Dramaturgie» (1767), wie schlimm die Franzosen und ihre Nachtreter des Aristoteles Theorie der Tragödie mißverstanden haben, und schafft sich durch richtige Deutung das Recht, Shakespeare neben die großen Tragöden Athens zu stellen. In grenzenlosem Wahrheitstriebe nimmt er auch für die Theologie die Pflicht der freien Forschung in Anspruch. Es weht ein urgesunder Hauch rücksichtsloser Ehrlichkeit, siegender Kampfesfreude durch sein Wirken, vor dem das Weichliche und Halbe nicht Stich hält: die unverwüstliche Nährkraft der Antike offenbart sich wunderbar an diesem großen Humanisten.
Und der größte deutsche Prosaiker neben Goethe ist auch Dichter, Dramatiker. Mit «Miß Sara Sampson» (1755) bricht er der bürgerlichen Tragödie in Deutschland [* 4] eine Bahn, die unendlich viel betreten, von Gemmingens «Deutschem Hausvater» (1780),
von Friedr. L. Schröder bis zu Iffland und Kotzebue führt. In seiner «Minna von Barnhelm» (1767) hat er das beste lebensvollste deutsche Lustspiel geschaffen, den Stoff unbefangen aus den bewegenden Fragen der Gegenwart schöpfend. In der «Emilia Galotti» (1772) giebt er ein Meisterwerk dramat. Komposition, in das zugleich die fernen Wetter [* 5] polit.-socialer Unruhe hineindröhnen. Mit «Nathan dem Weisen» (1779), dem etwas einseitigen hohen Liede der Toleranz, eröffnet er das Jambendrama hohen Stils.
Brachte so Klopstock unserer Poesie Schwung, Gefühl und Würde, Lessing ihr Klarheit, Strenge und Kraft, [* 6] so war es dem wenig jüngern Schwaben Christoph Martin Wieland (1733-1813) vorbehalten, ihr leichte Anmut, heitere Eleganz, behagliche Fülle der Rede zu gewähren, Eigenschaften, vor allen geeignet, ihr die Gunst des Adels und der guten Gesellschaft neu zu erwerben. Die griech. Philosophen und der Spötter Lucian stehen Pate bei der munter sinnlichen Lebensmoral, in der Wieland aus der schwärmerischen Verstiegenheit seiner Jugend landet; in zweiter Linie Voltaire und Cervantes. Im Bildungs- und Erziehungsroman («Agathon», 1766),
im satir. Roman («Abderiten», 1774),
in der Versnovelle («Musarion», 1768),
im romantischen Epos («Oberon», 1780) entfaltet er seine üppige farbenreiche Phantasie, seine liebenswürdige Erzählergabe, leider zuweilen in allzu geschwätziger Leichtigkeit. Als Dramatiker unbedeutend, hat er durch seine Shakespeare-Übersetzung den gewaltigen Engländer in Deutschland heimisch machen geholfen. Für die schöne Sprache [* 7] der sanft bewegten Seele stehen ihm Töne zur Verfügung wie keinem seiner Vorläufer. Merkwürdig, daß seine milde, auf ein angenehmes Mittelmaß gestimmte Schriftstellerei nicht mehr Schule gemacht hat.
Das romantische Epos findet in Alringer einen unbedeutenden Vertreter; auch ein Parodist wie Blumauer, der Verfasser der «Travestierten Äneis» (1783),
knüpft an Wieland an, während Kortums derbkomische «Jobsiade» (1784) nichts mit ihm zu schaffen hat. Im Roman hat der glänzende Stilist Aug. von Thümmel, der Autor der «Wilhelmine» (1764),
von ihm gelernt, ebenso Aug. Gottl. Meißner in seinen «Skizzen» (1778 fg.),
seinem «Alcibiades»; und in Heinses wilder Erotik klingen durch allen Sturm und Drang Wielandsche Töne durch. Aber das sind nur vereinzelte Erscheinungen. Es dominiert im Roman von Gellerts «Schwedischer Gräfin» (1747) bis zu der «Geschichte des Fräuleins von Sternheim» (1771) von Wielands Jugendfreundin Sophie La Roche und darüber hinaus maßgebend der Einfluß der breitspurig moralischen Briefromane des Engländers Richardson, versetzt allerdings mit kräftigen Dosen aus der realistischen Komik seines Widerparts Fielding und mit Würzen aus der deutschen Aufklärungswitzelei: dahin gehören die Romane von Hermes [* 8] und Knigge, von Schummel und Musäus, der sich durch seine, leider auch aufklärerisch versalzenen «Volksmärchen» (1782) einen bessern Namen gemacht hat.
Lessing und Wieland wurzeln immerhin noch im Boden der Aufklärung, so hoch ihr nahes Verhältnis zur Antike und ihr origineller Geistestrieb sie darüber emporwachsen läßt. Breit und aufdringlich dagegen macht sie sich geltend bei den Kleinern: bei dem Lessing Wiens, dem getauften Juden Joseph von Sonnenfels, dem Faktotum der Josephinischen Aufklärung;
bei den kritischen Popularphilosophen im Stile des Wolfenbüttler Ungenannten Herm. Sam. Reimarus und des berüchtigten Bahrdt;
bei den mehr praktisch-moralischen Utilitariern wie Garve, J. J. Engel, Schlosser;
bei den Kanzelrednern Mosheim, Spalding, Jerusalem; [* 9]
bei dem Politiker Schlözer, den Pädagogen Basedow und Campe u. s. w. Nur selten bricht bei diesen rationalistischen Weisen eine tiefere Beteiligung von Geist und Phantasie durch, wie etwa bei dem Schweizer Zimmermann, oder gar ein histor.
Sinn, wie bei dem trefflichen Niedersachsen Justus Möser, dem Verfasser der «Patriotischen Phantasien» (1774), dem seine Liebe zur Vergangenheit die Regungen der aufklärenden Gegenwart verdächtig machte.
Der geschichtliche Sinn, zugleich das liebevolle Verständnis für die Geheimnisse der schlichten, ¶
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unaufgeklärten Volksseele, wie er in Hamann und Herder lebte, hat dem selbstgefälligen Treiben der Aufklärer zuerst einen Dämpfer [* 11] aufgesetzt. Beide Männer waren Ostpreußen. [* 12] Hamann (1730-88), der Magus des Nordens, war ein wunderlich fragmentarischer und paradoxer Schriftsteller, der sich in gesuchten Anspielungen, in mystisch unverständlicher barocker Schreibweise gefiel, der aber in seiner Weltanschauung starke Fermente besaß, höchst geeignet auf andere revolutionierend zu wirken. Er verachtet die Aufklärung, die Herrschaft des Verstandes in tiefster Seele: tausendmal mehr gilt ihm der Glaube, die Anschauung.
Alles Regelwerk ist ihm ein Greuel, zumal in der Poesie, die er als die Muttersprache des Menschengeschlechts liebt; nur das Genie, das keine Regel kennt, ist wahrhaft berufen. In der Überzeugung von der hohen Schönheit der Urpoesie als der Schöpfung der naiven unverbildeten Seele berührt er sich mit Rousseau, dessen Ideen noch fruchtbarer aufgingen in Hamanns großem Schüler Herder (1744-1803). Auch Herder war kein Dichter; er besaß poetisch nur die Gabe der Anempfindung, die seinen Übersetzungen (z. B. dem «Cid», erschienen 1805) zu gute kam.
Sie machte ihn zum ersten deutschen Litterarhistoriker: mit tiefem geschichtlichem Verständnis versenkt er sich ohne jeden Hochmut in die Dichtung aller Zeiten und Völker, in die Bibel [* 13] wie in die Lieder der Wilden. Da geht ihm die Erkenntnis auf von dem hohen erfrischenden Werte des Volksliedes, die ihn zu seiner schönen Sammlung «Volkslieder» (1778) veranlaßt und die er auf Goethe überträgt. Wie er forschend und vergleichend die Litteraturen möglichst vieler Völker überschaut, so hegt er das Idealbild einer Weltlitteratur, in der der Deutsche [* 14] zum Vermittler berufen sei.
Herder stellt mit sicherm Gefühl für das urwüchsige Geniale Shakespeare himmelhoch über die Franzosen. Sein Widerwille gegen die Aufklärung treibt ihn in der Theologie zeitweilig bis zu einer mystischen Symbolik, der gewaltige poet. Bilder entwachsen. Aber darüber kommt er hinaus, und seine geistige Höhe erreicht er in der grandiosen geschichtsphilos. Anschauung von der natürlich fortschreitenden histor. Kulturentwicklung der Menschheit, die er in seinen «Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit» (1784) niederlegte. An dieser Stelle traf er genau mit den evolutionistischen Überzeugungen zusammen, die sein größter Jünger Goethe längst auf die gesamte Natur angewendet hatte.
Es war ein folgenschwerer Zufall, der den Johannes des Sturms und Dranges, Herder, 1770 in Straßburg [* 15] mit dem jungen Goethe zusammenführte. Schon hatte dieser gelernt, in seiner anakreontischen Lyrik die Stimme des Herzens mit Wahrheit zum Ausdruck zu bringen. Jetzt weist ihn der ältere Freund nachdrücklich auf die Griechen, auf Shakespeare und Rousseau, auf das deutsche Volkslied und die deutsche Vergangenheit. Alle diese Saatkörner gehen auf und tragen üppige Frucht.
Die Anfänge des «Faust», der genialsten Goetheschen Conception, gelangen noch lange nicht auch nur zum vorläufigen Abschluß. Aber mit seinem shakespearisierenden Ritterdrama «Götz von Berlichingen» (1773), das nicht nur die strenge Dramenform revolutionär zersprengt, sondern auch in sich etwas vom gärenden Geiste polit.-socialer Unzufriedenheit enthält, erzielt er unerhörte Wirkung. Von ihm geht das überreiche patriotische und romantische Ritter- und Räuberdrama aus bis auf Kleists «Käthchen von Heilbronn» [* 16] und die Birchpfeiffer, bis auf Webers «Euryanthe» und «Preziosa», auf ihm beruht gar der Ritter- und Räuberroman von Spieß und Cramer; die Gestalten und Motive des «Götz» haben ein fast unabsehbares Fortleben gehabt.
Und als Goethe im «Werther» (1774) an Stelle blasser Richardsonscher Tugendhelden einen wirklichen, lebensvollen, schwachen Menschen von Rousseauscher Gemütsweiche und zugleich von echt Goethescher Lebenswahrheit setzt, als er da für das Recht des guten zarten Herzens gegenüber der Konvention eintritt, da entfesselt er eine bis zur epidemischen Krankheit ausartende Empfindsamkeit, die weit über die Grenzen [* 17] Deutschlands [* 18] nach Italien [* 19] und Frankreich fortwirkte und Nachahmungen, wie Millers «Siegwart» (1776),
Foscolos «Ortis» u. a. hervorrief.
Die geistige Revolution, die nach dem Titel eines Klingerschen Dramas (1776) mit dem Stichwort Sturm und Drang benannt wird und als deren Oberhaupt Goethe seit dem «Götz» ziemlich unbestritten dasteht, zeigt zwei sehr verschiedene Seiten. Dem Kreise, [* 20] der in Straßburg und Frankfurt [* 21] sich zusammenfand und der wenigstens während des J. 1772 an den von dem kaustischen Darmstädter Merck redigierten «Frankfurter gelehrten Anzeigen» eine Art Organ besaß, kam es wesentlich an auf die litterar.
Befreiung des Individuums von formalem Zwang und gefühlertötender Konvention: immerhin konnte es nicht ausbleiben, daß sich revolutionäre Elemente anderer Art mit einschlichen. Zu den ältern, Merck, Herder, Goethe, tritt da eine Gruppe wüstnaturalistischer Dramatiker, wie der unglückliche Lenz, der kraftvolle, aber forcierte Klinger, der sich später dem polit. Lehrroman zuwandte, der rohe H. L. Wagner; mehr abseits steht der von der Idylle ausgegangene Maler Müller. Die letzten Ausläufer dieser Richtung bilden die ungestümen Jugenddramen (1781-84) des Schwaben Friedr. Schiller; der aus schwäb. Verhältnissen besonders erklärliche Tyrannenhaß dieser Dramen fand sein Gegenstück in der ebenso fürstenfeindlichen Lyrik seines Landsmannes Schubart (1739-91).
Aber wie der Sturm und Drang zum freien Herzen hält gegenüber den Schranken der Sitte, so bekennt er sich zum gläubigen Gemüt im Gegensatz zu der platten Verstandesherrschaft der Aufklärung. So zeigt er eine mystische Seite, die auch Herder und Goethe, zumal aber Hamann, wohl vertraut ist. Sie tritt hervor in den Selbstbekenntnissen (1777) eines der Stillen im Lande, des schlichten Jung-Stilling, in der unklaren, frommen Gefühlsphilosophie Friedr. Heinr. Jacobis, in dem anspruchsvollen, aber bestechenden Prophetentum Joh. Casp. Lavaters, und hat fortgewirkt bis in die Zeiten der Romantik, die in mancher Hinsicht das Erbe des Sturmes und Dranges antrat.
Ihr konnte nicht einmal die kritische Methode Immanuel Kants (1724-1804) etwas anhaben, da er Glauben und Verstand sorgfältig voneinander sonderte. Kant war sozusagen ein Spätling der Aufklärung, ihr letzter größter Jünger und ihr überzeugtester Anhänger. Aber gerade seine Kritik der Vernunft selbst half das seichte übertriebene Vernunftvertrauen untergraben, und der uneigennützig harte und konsequente Pflichtbegriff, den Kant vertrat, enthielt einen erziehlichen und sittlichen Schwung, der dem rechten Aufklärer immer unheimlich war. Und wenig ¶