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nicht. Der großartige wissenschaftliche Aufschwung, der die ital. Renaissance ausmacht, wirkte immer erschütternder nach Deutschland [* 2] herüber. Die Philologie wird auch hier die Königin der Wissenschaften; sie erklärt allem verrotteten Schlendrian den Krieg. Sie führte über Tacitus' «Germania» [* 3] zu einem starken nationalen Bewußtsein, über Aristoteles, Hippokrates und Ptolemäus zu gesundem, empirischem Betrieb der Naturwissenschaft und Medizin; sie weist die Theologen auf das philol.
Quellenstudium der Bibel [* 4] hin. So bekamen die poetae, d. h. die humanistischen Philologen, etwas kritisch Revolutionäres, das verzagte Naturen erschreckte und sich namentlich offenbarte, als sich die ganze Schar der jüngern Humanisten kampflustig um den charakterfesten Philologen Reuchlin scharte, den großen Kenner der drei heiligen Sprachen, der die hebr. Litteratur gegen die Zerstörungswut der obskurantischen Kölner [* 5] Theologen verteidigte (1510). Damals entstanden in dem Erfurter Dichter- und Gelehrtenkreise, der sich um den Gothaer Kanonikus Mutianus Rufus schloß, die «Epistolae obscurorum virorum», die feinste mimische Satire, die Deutschland je hervorbrachte (1515). In dem patriotischen Wunsche, ihr Vaterland auf die geistige Höhe des bewunderten Italiens [* 6] zu heben, huldigen die Humanisten fast alle der lat. Poesie; voran der geniale Konrad Celtis, der erste poeta laureatus Deutschlands, [* 7] in seinen glühend sinnlichen Elegien (1502) und Oden, dann der vielseitige elegante Versifex Eoban Hessus, der scharfe Epigrammatiker Euricius Cordus, der Hymniker Jakob Locher u. s. w. Das Drama freilich kam in ihren Händen über Fest- und Schulspiele nicht weit hinaus; nur Reuchlin hat in seinem «Henno» (1497), Terenz nachahmend, das wirkungsvolle Vorbild eines Lustspiels von wechselvoller und doch geschlossener Handlung gegeben. Wohl möglich, daß diese ruhige begeisterte Pflege schöner Form und Bildung schließlich auch der deutschen Dichtung genutzt hätte; da trat die Kirchenreformation dazwischen, alle ruhige Entwicklung zerreißend.
Auch Luther stand im Bannkreise des Humanismus. Ihm dankte er die Erkenntnis, daß die Bibel die einzige berechtigte Quelle [* 8] des Glaubens sei, ihm die patriotisch-german. Tendenz gegen das welsche Rom. [* 9] Aber den Bildungsstolz der Humanisten, ihren griech. Schönheitssinn, ihre heidnisch-ästhetische Weltanschauung teilte der Volksmann Luther nicht, und er verletzte sie bitter und oft durch sein rücksichtslos derbes Auftreten in der Polemik. So begrüßten sie ihn mit Jubel, wandten sich aber je länger je entschiedener von ihm ab; nur der feurige fränk. Ritter Ulrich von Hutten (gest. 1523) focht unerschütterlich mit der scharfen Waffe seiner trefflichen lat. Dialoge an Luthers Seite.
Luthers Auftreten ist der alles beherrschende Höhepunkt der Epoche. Seitdem er das Wort genommen, verdrängt die Theologie jahrzehntelang alles andere litterar. Interesse. Seine Bibelübersetzung, nicht die erste, aber die beste, die es gab, führte der Menge eine Fülle wertvollen Stoffes zu; sie und seine durch den Buchdruck in ganz Deutschland verbreiteten Flugschriften förderten am stärksten die sprachgeschichtliche Bewegung, die schließlich abermals eine über den Mundarten stehende Schriftsprache erzeugte. Er erhöhte das Verständnis für sittliche Probleme dadurch, daß er von jedem Einzelnen volle und alleinige Verantwortung für sein Thun, Denken und Glauben verlangte, die Hilfe der Jungfrau Maria und der Heiligen beseitigte. Er förderte die elementare Schulbildung und schuf das evang. Pfarrhaus. Er begünstigte das Drama, das er auch als Mittel der Polemik und Lehre [* 10] schätzte, pflegte, ein warmer Freund der Musik, den Gesang und beförderte, selbst ein trefflicher Kirchenliederdichter, das Gedeihen dieser lyrischen Gattung gegenüber dem weltlichen Volkslied. Und sein Vorbild war entscheidend, wenigstens für das prot. Deutschland, das für die Litteratur zunächst fast allein in Betracht kommt. Schade, daß ihn in seiner wundervoll volkstümlichen, bilderreichen, temperament- und nachdrucksvollen Prosa kein sicherer Takt vor Geschmacklosigkeiten schützte; so trug er bedeutende Mitschuld an dem widerwärtigen Grobianismus (s. Grobianus), an dem dieses reiche Jahrhundert leidet.
Die Reformationskämpfe zeitigten eine zum Teil ausgezeichnete Litteratur von Prosapasquillen und Prosadialogen, die sich in drastischer Einkleidung und packender Beweisführung überboten. Alles übertrafen in vollendeter Prosarede die schlichten milden Dialoge des friedfertigen Nürnberger Dichters Hans Sachs. Auch sonst erweiterte die Prosa in diesem Jahrhundert wieder ihr Feld. Die Geschichtschreibung, deren Meister Aventin ist, gehört ihr schon ganz.
Nach dem
Muster der lat. Facetiensammlungen Poggios und
Bebels entstehen namentlich im Elsaß zahlreiche oft recht anstößige
prosaische
Schwankbücher (s. d.) von Pauli, Wickram, Kirchhoff
u. a. Die
Übersetzungen franz. Prosaromane werden, zumal beim
Adel, immer beliebter, bis diese Liebhaberei in den Bändereihen
des
«Amadis» (seit 1569) ihre höchste Befriedigung findet. Der schüchterne Versuch des Colmarer Stadtschreibers
Jörg Wickram, sie durch moralisch-bürgerliche Familienromane eigener Erfindung zu ersetzen, scheiterte vollkommen.
Erfolgreicher konkurrierten mit jenen
Übersetzungen die autochthonen
Volksbücher (s. d.) vom Eulenspiegel,
Dr.
Faust, den
Schildbürgern, Fortunat
u. ähnl., die fast alle einen
Kern goldener Lebensweisheit und köstlicher Einfälle
in wertloser Schale bargen.
Im Mittelalter wäre all das in Reimpaaren vorgetragen worden. Sie haben im 16. Jahrh. sehr an Boden verloren. Unbestritten gehört ihnen außer dem Drama noch die mannigfaltige Didaktik, die, wie im 14. und 15. Jahrh., gern in der Form der Allegorie auftritt; auf fliegenden Blättern illustriert verbreitet, fanden kurze allegorische «Sprüche» ein großes Publikum (so Hans Sachs' «Wittenbergisch Nachtigall»); aber auch größere Lehrgedichte, zum Teil reformatorischer Tendenz, wurden unternommen von Ringwaldt u. a. Eine ironische Abart repräsentiert Kasp.
Scheidts «Grobianus», eine umgekehrte Sittenlehre. Auch die Fabel zieht, obgleich Luther selbst Prosafabeln schrieb, noch die Versart vor, in der erst vor wenigen Jahrzehnten das beste deutsche Tiergedicht, der «Reinke de Vos», seinen sieghaften Einzug in Niederdeutschland gehalten hatte (1498). Sowohl die Sammlungen kleiner Fabeln von Alberus und Waldis, wie Rollenhagens reformatorisches Tierepos «Der Froschmäuseler» (1595) und Fischarts und Wolfh. Spangenbergs mehr lustige als lehrhafte Tierdichtungen sind gereimt. Ebenso endlich die kleine ernst- und scherzhafte Erzählung. Der Meister aller dieser kürzern Reimgedichte ist zweifellos Hans Sachs (gest. 1576), der in kleinerm Rahmen mit unfehlbarer Sicherheit stets den rechten Ton humoristischen ¶
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Behagens und gemütlicher Innigkeit zu treffen weiß, ein Mahner und Erzähler von liebenswürdigster Anmut und Laune.
Die Reimpaardichtung verdrängt bei ihm den strophischen Meistergesang, von dem er ausging. Durch ihn errang die Nürnberger Meisterschule einen Namen, der selbst die zu Augsburg [* 12] und Straßburg [* 13] in den Schatten [* 14] stellte. Aber er behandelte ohne sicheres Stilgefühl im Meisterlied dieselben Stoffe wie im Reimpaar, meist Erzählendes; mit Vorliebe versifizierte er darin Bibelpartien und trug so dazu bei, diese nur lyrisch brauchbare Form zu ruinieren; vergeblich bemühte sich sein Schüler Puschmann (gest. 1600), die erstorbene Form zu halten.
Auch das weltliche Volkslied ist im 16. Jahrh. nicht sehr produktiv, so sehr seine musikalische Ausbildung sich hebt, und wenn nicht die lat. Kunstlyrik einige namhafte Dichter aufzuweisen hätte (vor allen Petr. Lotichius Secundus), so wäre das Kirchenlied die einzige Gattung lyrischer Poesie, die in diesem unlyrischen Jahrhundert gedieh. Unglaublich viele luth. Pastoren fühlten sich zu ihr berufen, aber wenige waren auserwählt; neben Luthers männlichen Kern- und Kampfliedern und den kindlich innigen Versen des Joachimsthaler Kantors Nik. Hermann (gest. 1561) hat lediglich der streitbare Nik. Selnecker (gest. 1592) es verstanden, Dichtungen von bleibendem Wert zu schaffen; sonst drängt sich trockne Dogmatik, ja theol. Gezänk in unerträglich rauhen Versen störend hervor. Seine Blüte [* 15] erlebte das Kirchenlied erst im 17. Jahrh., als sich in Paul Gerhardt die mannhafte Kraft, [* 16] die typische Gemeingültigkeit des Lutherschen Liedes mit Formschönheit, Zartheit und individuellem Gefühlsleben vermählte.
Die höchste schöpferische Kraft bewährt das 16. Jahrh. im Drama. Es ist vielseitig in Stoffen, Gattungen und Technik. Die Bibel giebt freilich die immer wiederkehrenden Hauptthemata her, zumal Joseph in Ägypten, [* 17] den einzigen Stoff, in dem weibliche Liebesleidenschaft zu Worte kam, dann Susanne, Tobias und den verlorenen Sohn, ein Thema, das den Ausgangspunkt bildet für allerlei amüsante lat. Studentenkomödien. Daneben werden in kath. Gegenden Legenden, in den Fastnachtspielen Nürnbergs und Straßburgs Scenen aus dem täglichen Leben, ferner allegorische Moralitäten, Stoffe der alten Sage, der alten und sogar der neuesten Geschichte behandelt: Luther, ja die Bartholomäusnacht ging schon damals über die Bretter, und selbst grammatische Regeln hat man dramatisiert.
Einen starken Anstoß zu dieser plötzlichen fruchtbaren Entwicklung gab neben Plautus, Terenz und Reuchlin das humanistische Drama der Niederlande: [* 18] mehr als der ausgezeichnete Lustspieldichter Makropedius wirkte Gnapheus durch seinen «Acolastus», der das Lotterleben des verlorenen Sohns behaglich schilderte, Crocus mit seinem «Joseph» und Ischyrius mit seiner lat. Bearbeitung der tiefsinnigen niederländ. Moralität von «Elkerlijk» nach Deutschland herüber; in den Motiven und auch in der jetzt konzentriertern Technik folgen unzählige deutsche Dichter diesen niederländ. Vorbildern.
Übertroffen werden sie auch im lat. Drama von dem genialen Bayer Thomas Naogeorg, der in gewaltigen aristophanischen Komödien von herber rücksichtsloser Komik für Luthers Sache stritt (um 1540), und von dem glänzenden Witz Nikodemus Frischlins (gest. 1590), der in prächtigen satir. Lustspielen das Lob des Vaterlandes, des luth. Glaubens und des guten Lateins anstimmte. Aber mögen diese lat. Dramen auch an Schwung und Formvollendung das deutsche Drama weit hinter sich lassen, die Zukunft gehörte doch diesem. Es erscheint sehr vielgestaltig. In die Schweiz [* 19] hatte Pamphilus Gengenbach das Nürnberger Fastnachtspiel übertragen, der Berner Manuel (gest. 1536) es zu mächtiger demagogischer Wirkung im Dienste [* 20] Zwinglis gesteigert.
Daneben dominieren sonst in der Schweiz und im Elsaß breite biblische und histor. Stücke (Wilhelm Tell u. a.), die oft mehrere Abende und zahllose Personen brauchen, dialogisierte Epen; doch besaß das Elsaß an Thiebolt Gart einen Dichter von überraschender Sprachgewalt und Technik. In der Umgebung Luthers gedeiht ein tendenziös-reformatorisches Schuldrama, das in Magdeburg [* 21] der langweilige Gräff, in Zwickau [* 22] der formgewandte Paul Rebhun (gest. 1546) vertritt, dessen wechselnde Versformen sogar bedeutendere Dichter, wie Hayneccius, der Autor des köstlichen Lustspiels «Hans Pfriem», nachahmen.
In der Mark blühen namentlich Weihnachtsspiele, Barth. Krüger und Barth. Ringwaldt entwerfen aber auch ernsthafte dramat. Zeitbilder von eindringlicher Kraft. In Niederdeutschland, zumal in Lübeck, [* 23] Soest [* 24] und Hildesheim, [* 25] ist ein derbes Fastnachtspiel, das auch polit. Verhältnisse ergriff, zu Hause. Den Höhepunkt des deutschen Dramas bezeichnet wieder Nürnberg [* 26] und Hans Sachs. Der treffliche Meister kennt nicht die Grenzen [* 27] seiner Kraft: auch vor der Tragödie schreckt er nirgends zurück.
Aber wo er sich zu Hause fühlt, im städtischen oder bäurischen Genrebild, da zeigt sich die Lebensfülle, der keusche, innige Humor und die poet. Gestaltungskraft dieses echten Volksdichters im erfreulichsten Lichte: wie hoch erhebt er das Fastnachtspiel aus dem Schmutze heraus, in den es im 15. Jahrh. versunken war. Er wirkte fort in dem Augsburger und Straßburger Meistersängerdrama Wilds und Spangenbergs. Und zu all diesem Reichtum trat gegen Ende des Jahrhunderts der Einfluß wandernder englischer Komödianten, die das handlungsreiche engl. Drama der Vorgänger Shakespeares in Deutschland bekannt machten;
ihr Einfluß ist fühlbar in den zahllosen Stücken eines andern Nürnbergers, Jak. Ayrers (gest. 1605);
deutsche Fürsten, wie Heinr. Jul. von Braunschweig [* 28] und Moritz von Hessen, [* 29] haben dichtend und aufführend diese engl. Kunst gepflegt;
in den Spielen des Braunschweigers faßt die Prosa zuerst auch in einem deutschen Originaldrama Fuß.
Die Fortschritte der Technik sind im Laufe des Jahrhunderts auf dem ganzen Gebiete deutlich; eine vielversprechende Entwicklung, der vielleicht ein nationales Drama entwachsen wäre, schneidet der Dreißigjährige Krieg ab, allen friedlichen Fortschritt zerstörend und einen Überschwall fremder Einflüsse mit sich führend.
Zwischen der Reformation und diesem unheilvollen Kriege liegt das Treiben der jesuitischen Gegenreformation, das seit dem Trienter Konzil eine hüben und drüben grenzenlos gehässige Polemik hervorrief. Gegenüber dem tüchtigen kath. Streiter Joh. Nasus stand auf prot. Seite der genialste Publizist des Jahrhunderts, der calvinische Jurist Joh. Fischart (s. d.) aus Straßburg (gest. etwa 1590). In der überreichen vielseitigen Thätigkeit dieses Mannes, die in seiner grotesk aufschwellenden Bearbeitung von Rabelais' Gargantua-Roman gipfelt, sammeln sich noch einmal alle Stärken und Schwächen der Zeit wie in einem Brennpunkte: ihr ¶