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Umwandlung der Organismen läßt sich mit der Entwicklung eines Baums vergleichen; die Urformen bilden den Stamm, die Ordnungen, Gattungen und Arten die Äste und Zweige, und ein natürliches System kann daher nicht anders als in Form eines Stammbaums dargestellt werden. Dieser Baum erstreckt sich gleichzeitig durch alle Gebirgsformationen aus der Tiefe herauf, mit bald einfachern, bald vielverzweigten, hier abgestorbenen, dort ausdauernden Ästen. Da dieser Stamm aber bereits in der Silurzeit in viele Äste auseinander läuft, so muß der Urstamm in noch viel ältern und tiefern Schichten stecken, welche man noch nicht entdeckt hat.
Die hier skizzierte Lehre [* 2] hat Charles Rob. Darwin zuerst veröffentlicht 1859 in seinem Werke «On the origin of species by means of natural selection» (Lond. 1859). Dies Buch ist die Frucht zwanzigjähriger, der Erforschung der Natur wie der Litteratur gewidmeter Studien und enthält eine staunenerregende Fülle feinster Beobachtungen und Schlußfolgerungen sowie eine strenge Selbstkritik hinsichtlich der in ihm aufgestellten Sätze. Die Darwinsche Lehre ist aber keineswegs ihrem ganzen Inhalte nach neu. Die Lehre, daß die unendliche Mannigfaltigkeit organischer Formen sich aus einer spärlichen Anzahl ursprünglicher Typen herausgebildet habe, wurde bereits von Kasp. Friedr. Wolf in seiner Dissertation «Theoria generationis» (Halle [* 3] 1759; neue Aufl. 1774) und in der «Theorie der Generationen» (Berl. 1764) aufgestellt. Im Gegensatz zu Linné, welcher mit der Mosaischen Lehre annahm, daß alle einzelnen Tier- und Pflanzenarten von Anfang an von Gott erschaffen seien, und entgegen seinem großen Zeitgenossen Cuvier, welcher die Arten unabhängig voneinander in verschiedenen Epochen entstehen ließ und an der absoluten Unveränderlichkeit derselben festhielt, erklärte Jean Lamarck die Arten, die Gattungen, Ordnungen u. s. w. für willkürliche Bezeichnungen und ward durch sein Werk: «Philosophie zoologique» (2 Bde., Par. 1809), ein Hauptbegründer der Descendenztheorie oder des Lamarckismus.
Bereits nach Lamarcks Meinung sind die höhern Tierformen durch allmähliche Umbildung aus niedersten und einfachsten, durch Urzeugung entstandenen Formen hervorgegangen, innerhalb welcher Entwicklung der Mensch zunächst von einem affenartigen Säugetiere abstammt. Das Umbildende, Varietäten und Arten Schaffende ist für Lamarck neben der Verschiedenheit der äußern Lebensbedingungen wesentlich der Gebrauch und der Nichtgebrauch der Organe (die Anpassung).
Geoffroy St. Hilaire suchte die Ursache der auch von ihm angenommenen Umbildung der Arten in Veränderungen der Außenwelt, namentlich der Atmosphäre. Aus den eidechsenartigen Reptilien wurden Vögel [* 4] durch den infolge des verminderten Kohlensäuregehalts der Luft gesteigerten Atmungsprozeß. Die Hypothesen dieser Forscher waren ohne nachhaltige Wirkung, da ihnen die empirische Begründung fehlte und überdies die Autorität Cuviers entgegenstand. Erst durch Darwins Werk gewann die von seinen Vorgängern im Princip ausgesprochene Descendenztheorie, indem er dieselbe nach allen Seiten tiefer begründete und in dem Kampfe ums Dasein das wichtigste Mittel kennen lehrte, dessen die Natur sich zur Steigerung und Fixierung der auftretenden Variationen bedient, ihre mechan. Basis und einen mächtigen Einfluß auf die gesamte Naturwissenschaft. Ein naturphilos. Vorläufer Darwins ist Oken, der in den Infusorien die Urform alles Lebens sah, und teilweise Goethe, der eine ursprüngliche Gemeinschaft aller Organisation und eine fortschreitende Umbildung annahm. Übrigens ist in dem Suchen nach Vorläufern Darwins viel Schiefes und Schielendes behauptet worden. Was Darwin so groß und seinen Namen zum Träger [* 5] einer ganz besondern Richtung gemacht hat, ist durchaus sein eigen.
Es ist eine Konsequenz von Darwins Lehre, daß die wenigen niedern Formen, aus welchen die höhern hervorgingen, selbst wieder einer niedrigsten und ursprünglichen Lebensform, etwa einer Zelle [* 6] oder einem belebten Klümpchen Eiweiß entstammten, wie dies auch Nachfolger Darwins mit Bestimmtheit ausgesprochen haben. Eine fernere Konsequenz, welche Darwin in seiner ersten Schrift, um die gegen seine Lehre sich erhebenden Vorurteile nicht noch weiter zu vermehren, nicht ziehen mochte, läßt auch den Menschen als ein Glied [* 7] der angenommenen Entwicklungsreihe erscheinen, ja eine oberflächliche Beurteilung hat in der angeblich behaupteten Abstammung des Menschen von den Affen [* 8] den Kern der Darwinschen Lehre gesucht. Nachdem zuerst Haeckel die Ahnenreihe des Menschen, mit einem niedersten, gehirnlosen, fischartigen Wirbeltiere der Antesilurzeit beginnend, bis zu dem Menschen und seinen Seitenlinien: Schimpanse und Gorilla, entworfen, hat sich später auch Darwin («The descent of man and selection in relation to sex», Lond. 1871) für den Ursprung des Menschen von den katarrhinen (schmalnasigen oder echten) Affen erklärt. Über die spätern Schriften Darwins, welche für weitere Begründung und Ausbau der Selektionstheorie wichtig sind, s. Darwin, Charles Robert.
Die Darwinsche Lehre, über deren Wert die Meinungen berufener Sachverständiger weit auseinandergehen, ist für die Wissenschaften, welche sich mit dem Studium der organischen Welt befassen, namentlich für die Tierkunde zu einer großartigen Untersuchungshypothese geworden, deren Einfluß die Wissenschaft nicht nur eine Reihe der wichtigsten Entdeckungen verdankt, sondern die auch zuerst gezeigt hat, nicht bloß wie die untersuchten Organismen beschaffen sind, sondern warum sie mit logischer Notwendigkeit gerade so beschaffen sein müssen, wie sie sind. So haben Ausgangspunkte und Ziele in der Wissenschaft unter ihrem Einflüsse eine ganz andere Gestalt gewonnen. An Stelle der teleolog. und vitalistischen Beurteilung, welche die Erscheinungen durch Annahme eines Zweckmäßigkeitsbestrebens der Natur zu erklären suchte, führte Darwins System sämtliche biolog.
Vorgänge auf mechanisch wirkende Ursachen, auf Kräfte zurück, welche der Materie selbst eingeprägt sind, womit der alte Streit über den Wert und die Berechtigung der Teleologie von selbst zusammenfällt. Der große Reiz, welchen das Studium der Entwicklungsgeschichte gewährt, verbreitet sich unter diesen Gesichtspunkten auch auf die beschreibende Naturwissenschaft; die verwandten Tiere sind verwandt im eigentlichen Sinne des Wortes, und statt einer bloßen Beschreibung und Erforschung einzelner Tiergattungen hat man es mit der Entwicklungsgeschichte der ganzen Tier- und Pflanzenwelt zu thun. Die Vorgänge dort des Verschwindens von Lebensformen, hier die Vervollkommnung und ¶
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Vervielfältigung derselben, treten unter bestimmte Gesichtspunkte, und es wird dem Forscher möglich, in denselben Regeln und Gesetze zu finden.
Bei Musterung der sehr ausgedehnten Kritik, welche Darwins Lehre gefunden hat, scheint es nützlich, von jenen principiellen Gegnern und Verteidigern derselben abzusehen, welche, meist ohne der Sache selbst näher getreten zu sein, Partei ergriffen, weil die neue Lehre ihrem religiösen Standpunkte zuwider oder weil sie der materialistischen Auffassung bequem schien. Was die Stimmen der Naturforscher anlangt, so stehen diejenigen Anatomen, Zoologen und Botaniker, welche im Sinne der modernen Wissenschaft ihre Studien betreiben, jetzt wohl alle auf seiten Darwins; geteilter sind die Ansichten der Geologen, unter welchen als Darwin zuneigend Lyell («Principles of geology», 12. Aufl., Lond. 1876) zu nennen ist.
Einer der bedeutendsten Anhänger, wenn auch in einzelnen Fragen von Darwin abweichend, ist Huxley. Nach der Meinung des ältern Milne-Edwards ist die Descendenztheorie jeder sonstigen einschlagenden Hypothese vorzuziehen. Doch steht Milne-Edwards an, alle Umänderungen mit Darwin durch die unter den gegenwärtigen Lebensbedingungen sich vollziehende natürliche Zuchtwahl erklären zu können. Auch Owen weicht darin ab, daß er die neuen Arten nicht durch Häufung kleiner Abänderungen und in unmerklichen Übergängen, sondern plötzlich und sprungweise sich bilden läßt. Von deutschen Anhängern ist vor allen Haeckel zu nennen, welcher Darwins Lehre durch zwei umfängliche Werke («Generelle Morphologie der Organismen», 2 Bde., Berl. 1866, und «Natürliche Schöpfungsgeschichte», 8. Aufl., ebd. 1889) näher zu begründen suchte und insbesondere auch den monophyletischen Stammbaum der Pflanzen, Protisten und Tiere von den paläontol.
Zeiten bis zur Gegenwart im einzelnen entworfen hat. Viel beanstandet ist die neuerdings von Haeckel aufgestellte Gasträatheorie, die eine durchgreifende Homologie der Keimblätter durch die ganze Tierreihe und eine gemeinsame Abstammung aller mehrzelligen Tiere von einer einzigen unbekannten Stammform (Gasträa) annimmt, einem einfachen, aus zwei Zellschichten (Blättern) gebildeten magenartigen Tierkörper, entsprechend der Gastrulaform, die als Jugendzustand zahlreicher Wirbellosen sowie eines Wirbeltiers, des Amphioxus, vorkommt.
Mit großer Entschiedenheit und umfangreichem Wissen ist K. Vogt für die Darwinsche Lehre und ihre letzten Konsequenzen aufgetreten, in den Mikrokephalen (einer pathol. Menschenform, welche er als Affenmenschen bezeichnet und deren Bildung er als atavistischen Rückschlag auffaßt) ein Zwischenglied zwischen dem Menschen und seinen tierischen Ahnen suchend. Von den zahlreichen Autoren, welche die Darwinsche Lehre durch theoretische Erörterungen, wie durch Forschungen gestützt haben, im einzelnen von Darwin mehr oder weniger abweichend, sind ferner hervorzuheben: Karl Ernst von Baer, Rudolf Leuckart, Virchow, Kölliker, Gegenbaur, M. Wagner («Die Entstehung der Arten durch räumliche Sonderung», 1889),
Fritz Müller, Claus, Seidlitz, Weismann, die Gebrüder Hertwig u. a. m. Ein beachtenswerter Vertreter der Descendenzlehre war auch Oskar Schmidt, der in einer vorzüglichen Darstellung («Descendenzlehre und Darwinismus», 3. Aufl., Lpz. 1884, Bd. 2 der «Internationalen wissenschaftlichen Bibliothek») nachweist, daß die Thatsachen des biogenetischen Grundgesetzes sowie die geogr. Verbreitung der Organismen durchaus mit der durch die Descendenztheorie geforderten Anordnung übereinstimmen.
Zu den heftigsten Gegnern Darwins zählte der ältere Agassiz («Essay on classification», Lond. 1859; «Der Schöpfungsplan», deutsch von Giebel, Lpz. 1875). Was Agassiz dagegen bietet, ist die Behauptung absoluter Unveränderlichkeit der Arten; jede Species ist ursprünglich und für sich erschaffen, doch nicht als reifes Tier, sondern als Ei. [* 10] Ein anderer Gegner, Nägeli («Entstehung und Begriff der naturhistor. Art», 2. Aufl., Münch. 1865, und «Mechan.-physiol. Theorie der Abstammungslehre», ebd. 1884), sucht an die stelle der Darwinschen Nützlichkeitstheorie eine Vervollkommnungstheorie zu setzen.
Auch Nägeli nimmt eine mehr sprungweise als unmerkliche Weiterentwicklung an und sucht das Fortbestehen niederer Arten neben höhern durch Annahme beständig stattfindender Urzeugung zu erklären. Das Nebeneinanderbestehen niederer und höherer Formen hat bei verschiedenen Forschern Bedenken erregt; Bischoff fragt geradezu, wie es komme, daß der Mensch, da alle frühern Organismen doch unvollkommener seien als er, im Kampfe um das Dasein nicht allein übriggeblieben sei? Aber sehr verschieden hoch organisierte Geschöpfe sind jedes für das ihm zugefallene Medium gleich hoch und gleich vollkommen organisiert, und auch noch aus dem scheinbar ganz gleichen Boden nehmen die verschiedenen Formen jede das für sich, was für sie paßt.
Auch hat Darwin nicht ein durchgreifendes Variieren aller Descendenten, sondern neben der Variationsfähigkeit das Beharrungsvermögen, die Erblichkeit, ausgesprochen, ja die Vererbung als die Regel bezeichnet. Man hat ferner eingeworfen, daß kultivierte Pflanzen, in die Wildnis zurückversetzt, ausarten und alsbald auf die ursprüngliche Form zurückfallen, die von der ursprünglichen Form ganz abweichenden Rassen der Haustaube nach wenigen verwilderten Generationen jener wieder völlig gleich werden, und hierdurch erweisen wollen, daß in der freien Natur alle Lebewesen unveränderlich, Abänderungen nur durch Menschenhand erzeugte Kunstprodukts seien, als ob irgend ein menschliches Thun und Lassen außerhalb der Natur stehen könnte und nicht von den allgemein gültigen Naturgesetzen beherrscht sein müßte.
Jene Rückbildung ist, soweit sie erfolgt, nur eine Konsequenz desselben Gesetzes, nach dem die Körperformen überhaupt bildsam sind und äußern Einwirkungen (gleichviel, ob diese durch den Willen des Menschen oder durch das Leben in der freien Natur gesetzt sind) sich anpassen müssen. Keineswegs in Widerspruch hiermit steht, daß wohlbefestigte Formen Jahrtausende hindurch sich unverändert erhalten können (Tier- und Pflanzenreste der Pfahlbauten), [* 11] eine Thatsache, durch welche man die Existenz jeder natürlichen Züchtung widerlegen wollte.
Allen Einwürfen, welche der Darwinschen Theorie gemacht worden sind, gegenüber wird man behaupten dürfen, daß, wenn auch noch keineswegs alle einzelnen Erscheinungen sich ungezwungen nach der Darwinschen Theorie sofort erklären lassen, ein eigentlicher Widerspruch doch nirgends vorhanden ist. Sieht man, daß Variationen der Tierkörper überhaupt vorkommen, ja daß innerhalb des sehr engen Kreises des bereits Beobachteten die Breite [* 12] ¶