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des Individuums aufgedrückt, das sich vom alten Zustande der Dinge losreißt, ohne zur Gestaltung eines neuen Ideals zu gelangen. Er steht damit im Banne derselben Bewegung, die ein halbes Jahrhundert früher die westeurop. Bildungswelt aufgerüttelt hatte (vgl. O. Schmidt, Rousseau und Byron, Oppeln [* 2] 1890). Gewaltig im lyrischen Ausdruck des Lebensüberdrusses und des Menschenhasses, der glühenden Begeisterung für die Herrlichkeit der Vorwelt und eines gigantischen Trotzes auf eigene Kraft, [* 3] war in der Schilderung von Charakteren weniger glücklich.
Seine Helden sind fast alle nach einem Schnitt. Mit der Gesellschaft zerfallen, bewegen sie sich meist auf der Grenze von Sitte und Willkür. Er stellt sie vorwiegend durch Beschreibung und Reflexion [* 4] dar, läßt sie zu wenig handeln und mischt seine Gefühle und seinen Glauben in ihr Leben und handeln wie in ihre Reden. Wie bei ihm selbst wechselt bei ihnen Fausts und Don Juans Wesen ab. Auch B.s Meisterwerk, das unvollendete großartige epische Gedicht «Don Juan» (vgl. Colton, The tendencies of Don Juan, 1826) macht hierin keine Ausnahme.
Andererseits entfaltet sich B.s reichbegabte Natur in keinem andern Werk in so glänzender Mannigfaltigkeit, keins offenbart in gleicher Weise seine erstaunliche Leichtigkeit des Schaffens und Sprachgewalt. «Don Juan» ist das Epos der modernen Gesellschaft, zugleich das Werk, das in lyrischem Erguß wie in dramatisch lebendiger Darstellung von Welt und Menschen den vollständigsten Eindruck von B.s Persönlichkeit hinterläßt (vgl. Hel. Druskowitz, B.s Don Juan, 1879). Seine Heldinnen sind im ganzen noch schwächer, haltloser und, trotz breiter romantischer Schilderungen, einförmiger als seine Helden. B.s Stil ist glänzend, obschon ihm mitunter Malerei und Deklamation mehr Dienste [* 5] leisten, als die echte Poesie erheischt. Oft aber drückt er in schlagender Kürze Gedanken und Gefühle aus. Manche seiner Lieder gehören zu den schwungvollsten und innigsten der engl. Poesie. Seine Dramen (vgl. von Westenholz, Über B.s histor. Dramen, Stuttg. 1890) sind allzu reichlich mit Beschreibungen und Betrachtungen ausgeschmückt, weshalb sie sich, obgleich gelegentlich aufgeführt, nie auf den Bühnen behaupteten.
Eine höchst wertvolle Bereicherung der Kenntnis von B.s Charakter bietet der von seinem Freunde Th. Moore in die Darstellung von B.s Leben verwobene Briefwechsel desselben («Letters and journals of Lord Byron with notices of his life», 2 Bde., Lond. 1830; neueste Ausg. 1875; deutsch, 4 Bde., Braunschw. 1831‒33),
der ihn als gewandten, geistreichen Prosaisten zeigt. B.s «Poetical works» erschienen in zahlreichen Ausgaben (zuerst 6 Bde., Lond. 1815; Ausg. von Murray 1828; vollständiger als «Life and Works of Byron», 1832‒35; zuletzt in Routledges «Popular Library», 1890, und bei Griffith Farran u. Co., Lond. 1891) und wurden in fast alle lebenden Sprachen übersetzt, deutsch von Böttger (Lpz. 1840; in 8 Bdn., 6. Aufl., ebd. 1864) und am vorzüglichsten von O. Gildemeister (6 Bde., Berl. 1864; 4. Aufl. 1888); die «Erzählenden Dichtungen» übersetzte Strodtmann (Hildburgh. 1862),
die «Dramen und epischen Dichtungen» Schröter (4 Bde., Stuttg. 1885‒86).
Vgl. die bibliogr. Übersicht Flaischlens, in Deutschland [* 6] im «Centralblatt für Bibliothekswesen», Ⅶ. Die Memoiren B.s wurden durch den Erben dieser Papiere, Moore, aus Rücksicht auf die Familie vernichtet.
Aus damaliger Zeit sind zu erwähnen: Lady Blessington, Conversations with Lord Byron (1832 u. 1834); Galt, Life of Lord Byron (1831); von den vielen neuern biogr. Beiträgen: Eberty, Lord Byron, eine Biographie (2. Aufl., 2 Bde., Lpz. 1879);
Elze, Lord Byron (3. Aufl., Berl. 1886; ins Englische [* 7] übers. 1872);
Gräfin Guiccioli, Lord Byron jugé par les témoins de sa vie (2 Bde., Par. 1868);
Engel, Lord Byron. Eine Autobiographie nach Tagebüchern und Briefen (3. Aufl., Mind. 1884);
Gottschall, Lord Byron, im «Neuen Plutarch», Bd. 4 (Lpz. 1876);
J. C. Jeaffreson, The real Lord Byron (Lond. 1883), der den Verdächtigungen gegenüber mit Erfolg eine Ehrenrettung auf Grund zuverlässigen und teilweise neuen Materials anstrebt; Weddigen, Lord B.s Einfluß auf die europ. Litteraturen der Neuzeit (1884);
J. Schmidt, Byron im Lichte unserer Zeit (Hamb. 1888);
R. Byron W. Noel, Life of Lord Byron (ebd. 1890);
Durdik, über B.s Poesie und Charakter (czechisch, 2. Aufl., Prag [* 8] 1890);
Dallois, Études morales et littéraires à propos de Lord Byron (Par. 1891).
Seine Gattin, Anna Isabella Milbanke, Lady Byron, einzige Tochter und Erbin Sir Ralph Milbankes und Lady Judith Noels, geb. in London, [* 9] ward durch ihre Mutter, Schwester Thomas Noels, Viscounts Wentworth, Erbin von Wentworth. Sie besaß vielseitige, sorgfältig entwickelte Talente und eine ungewöhnliche Entschiedenheit und war äußerlich graziös und angenehm. Mit Lord Byron wurde sie während der Saison von 1813 bekannt bei ihrer Tante Lady Melbourne, [* 10] seiner Gönnerin, die seine Ehe mit ihr wünschte.
Ihr einfach edles Wesen schildert Lord Byron später in einem der anziehendsten Frauencharaktere des «Don Juan», Aurora Raby. Auch sie faßte eine tiefe Neigung für ihn, wies jedoch, an der Möglichkeit eines Ausgleichs der großen Verschiedenheiten ihrer Naturen zweifelnd, seinen Heiratsantrag Nov. 1813 zurück. Einen zweiten, nach einem längern Briefwechsel im Sept. 1814 gestellten nahm sie an und die Vermählung wurde vollzogen. Das Eheband widerstrebte seinem unsteten Sinne, und eine Frau von vorwiegend praktischem Wesen, strengen Grundsätzen und Selbstbewußtsein wie Lady Byron konnte trotz der reinsten Absichten das leidenschaftliche, cholerisch-melancholische Temperament eines Dichters vom Schlage B.s nicht verstehen oder gar leiten. Dazu entsprangen seiner verschwenderischen Lebensweise häusliche Verlegenheiten; so lag eine stürmische Zeit hinter dem Paare, als die Tochter Augusta Ada geboren wurde. Am verließ Lady Byron London und begab sich mit ihrer Tochter nach Kirkby-Mallory in Leicestershire, dem Landsitze ihres Vaters.
Sie schrieb noch mehrere heitere, freundliche Briefe an Lord Byron; ihre Mutter lud sogar ein, sodaß dieser höchst überrascht war, als ihm kurz darauf (2. Febr.) sein Schwiegervater den Entschluß der Lady Byron ankündete, sich auf immer von ihm zu trennen. Diese Kunde rief das größte Aufsehen hervor. Man nahm fast allgemein für Lady Byron Partei, und ein plötzlicher Sturm des öffentlichen Unwillens trieb Lord in die Fremde. Als jedoch Moores Biographie Lord B.s erschien, war schon ein entschiedener Rückschlag eingetreten. Sein heldenhafter Tod in Griechenland [* 11] hatte diesen verstärkt; Moore änderte das Urteil zu seinen Gunsten. Lady Byron brachte den Rest ihres langen Lebens mit Werken der Wohlthätigkeit, ¶
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so gut wie verschollen, zu. Die Kunde ihres Todes frischte die Erinnerung auf. Während der letzten Lebensjahre hatte sie Freunden vertrauliche Mitteilungen über die angebliche Ursache ihrer Ehescheidung gemacht, auch Papiere über den Gegenstand hinterlassen, aber keine Veröffentlichung angeordnet. Unter jenen Personen befand sich Mrs. Beecher-Stowe. Als dann 1868 das Buch der Gräfin Guiccioli über Lord Byron erschien, hielt sich Mrs. Stowe verpflichtet, durch die «Wahre Geschichte von Lady B.s Leben» Lord B.s Gattin gegen dessen Geliebte zu rechtfertigen.
Ihre Erzählung in «Macmillan’s Magazine» (Sept. 1869), die wahrscheinlich auf den bei Byron beliebten, affektierten Selbstanschuldigungen beruhte, behauptete nun, daß Lady Byron ihren Gemahl der Blutschande mit seiner verheirateten Schwester angeklagt und dieses Verhältnis als Ursache der Trennung bezeichnet habe. Bald erhoben sich gewichtige Stimmen gegen die Glaubwürdigkeit dieser mit umständlichster Breite [* 13] gemachten Enthüllung, z. B. «The true story of Lord and Lady as told by the Countess of Blessington, in answer to Mrs Byron Stowe» (1869). Zahlreiche innere Widersprüche wurden nachgewiesen; urkundliche Gegenbeweise kamen von den verschiedensten Seiten hinzu, sodaß die Unwahrheit der Anklage völlig erwiesen ist. Unglück und Auflösung der Ehe waren wohl einfach in der entschiedenen Unverträglichkeit der Naturen beider Gatten begründet.
Beider einzige Tochter, Ada, heiratete 1835 William Graf Lovelace und starb Sie hinterließ zwei Söhne und eine Tochter. Der ältere Sohn, Byron Noel, geb. trat in die Marine, diente nur kurze Zeit und starb, nachdem er beim Tode seiner Großmutter Lady Byron die Baronie Wentworth geerbt, nach einem wilden Leben als Arbeiter in einem Londoner Dock [* 14] Der zweite Sohn, Ralph Gordon Noel Milbanke, geb. folgte seinem Bruder bei dessen Tode als Lord Wentworth.
Den Lordtitel erbte B.s Vetter, George Anson Byron (geb. der sich als brit. Marinekapitän durch eine Südseereise bekannt machte, 1862 Admiral wurde und starb. Ihm folgte sein ältester Sohn, George Anson Byron, geb. und diesem, der kinderlos starb, sein Neffe, George Frederick William Byron, geb. 1855, jetziger Lord Byron.