mehr
selbst in allen Teilen hervorgetreten, noch in ihren einzelnen Teilen den Zweifeln alter und neuer Kritik entzogen geblieben. Die ersten Christen kannten nur das Alte Testament als Offenbarungsurkunde, zu welcher frühzeitig «die Sprüche des Herrn» in verschiedenen Fassungen und Sammlungen hinzutreten. Daneben finden sich bis in die Mitte des 2. Jahrh. nur sehr selten sichere Beziehungen auf apostolische (namentlich Paulinische) Briefe. Noch unsicherer aber sind, trotz zahlreicher Citate von «Sprüchen des Herrn», die Beziehungen auf unsere vier Evangelien, neben denen noch lange Zeit Evangelienschriften (wie das Hebräerevangelium, das Ägypterevangelium) in Gebrauch waren, die später als apokryphisch ausgeschieden wurden.
Erst in der zweiten Hälfte des 2. Jahrh. treten allmählich bestimmtere Anführungen der Evangelien (namentlich auch des Johannesevangeliums) und der meisten neutestamentlichen Briefe hervor. Die früheste Spur einer Sammlung neutestamentlicher Schriften findet sich um die Mitte des 2. Jahrh. bei Marcion (s. d.), der das Evangelium des Lukas und zehn Paulinische Briefe (das sog. Apostolikon, s. d.) in der Absicht, die urchristl. Lehre [* 2] wiederherzustellen, bearbeitet und verstümmelt hat.
Die neuerdings versuchte Scheidung eines judenchristlichen und eines paulinischen Kanons läßt sich nicht durchführen. Zu Marcions Zeiten haben vielleicht noch nicht einmal alle Schriften des heutigen Kanons existiert oder kamen, wie das Evangelium Johannis, ziemlich spät, und nur in einzelnen Kreisen in Ansehen. Die Notwendigkeit, einen neutestamentlichen Kanon zusammenzustellen, ergab sich aus dem Bedürfnis der werdenden kath. Kirche, eine Sammlung echt apostolischer Lehrschriften (als Urkunden des echt apostolischen, in allen Kirchen der Welt übereinstimmend festgehaltenen Glaubens) der Berufung der Gnostiker auf eine angebliche apostolische Geheimlehre gegenüberzustellen. So begann man zu Ende des 2. Jahrh. aus der Menge in kirchlichem Gebrauche befindlicher Schriften einen festen Kern kanonischer und für inspiriert geachteter Bücher auszuscheiden.
Abgesehen von den Evangelien, die als Sammlung «der Worte des Herrn» besonderes Ansehen genossen, galt als Kriterium für die Aufnahme in den Kanon lediglich die apostolische Verfasserschaft. In dieser Sammlung unterschied man zwei Bestandteile: das instrumentum evangelicum (grch. euangelion), die vier Evangelien umfassend;
das instrumentum apostolicum (grch. apostolos) mit den Paulinischen und übrigen Briefen. Um 180 stand dem Irenäus die Vierzahl der Evangelien bereits fest.
Von den Briefen waren zu Ende des 2. Jahrh. 13 Paulinische, der erste Brief Petri und der erste des Johannes allgemein anerkannt. Hierzu kam noch die mit dem Lukasevangelium als ein Werk zusammengefaßte Apostelgeschichte. Dagegen blieb hinsichtlich einer Reihe anderer Schriften das Urteil der Kirche über ihre apostolische Echtheit schwankend. So bezweifelt noch Origenes den Brief an die Hebräer, den Brief Jakobi, Judä, den zweiten Brief Petri, den zweiten und dritten Brief des Johannes.
Der Brief an die Hebräer wurde im Abendlande bis ins 4. Jahrh. als nichtpaulinisch vom Kanon ausgeschlossen; umgekehrt wurde im Morgenlande die Apokalypse aus dogmatischen Gründen bis in das 7. Jahrh. hinein in Zweifel gestellt. Außer den eigentlich kanonischen Schriften bildeten bis ins 4. Jahrh. hinein eine Anzahl anderer Schriftdenkmäler der Urzeit, die von Propheten oder Apostelschülern verfaßt sein sollten, eine Art Nebenkanon, von dem man einen wenn auch beschränkten kirchlichen Gebrauch machte.
Dahin gehören außer der prophetischen Schrift des Hermas die Briefe des Barnabas und Clemens Romanus. (S. diese Artikel und Apostolische Väter.) Der Kirchenhistoriker Eusebius unterscheidet im 4. Jahrh. drei Klassen neutestamentlicher Bücher:
1) allgemein anerkannte Schriften (homologumena), die vier Evangelien, die Apostelgeschichte, 14 Paulinische Briefe (einschließlich des Hebräerbriefs), den ersten Brief des Johannes und Petrus;
2) nicht allgemein anerkannte Schriften (antilegomena oder notha), darunter die Briefe Jakobi, Judä, den zweiten Brief Petri, den zweiten und dritten Brief des Johannes, sowie die Apokalypse, aber auch in zweiter Linie die später völlig verworfenen «Thaten des Paulus», das Buch des Hirten (Hermas), die Offenbarung Petri, den Brief des Barnabas, die Lehren [* 3] der Apostel und das Evangelium der Hebräer;
3) ungereimte und gottlose (ketzerische) Schriften. Gegen Ende des 4. Jahrh. verstummten allmählich im Orient die kritischen Zweifel an der apostolischen Echtheit der bisher angezweifelten Katholischen Briefe (s. d.), während die Apokalypse noch auf dem Konzil zu Laodicea (zwischen 360-364) ausgeschlossen wurde und auch in der Folgezeit nur sehr allmählich zur kirchlichen Anerkennung gelangte.
Schneller als der Orient entschloß sich der konservativere Occident zu einem kirchlichen Abschlusse. Die Synoden zu Hippo regius (393), zu Karthago [* 4] (397), der röm. Bischof Innocenz I. im Anfange des 5. Jahrh. und das Concilium Romanum unter Gelasius I. (494) erkannten den gesamten gegenwärtigen Kanon des Neuen Testaments an. Nur vereinzelt regten sich später noch bescheidene Zweifel. Erst die Reformation brachte die alten Zweifel bezüglich einiger erst später in den Kanon aufgenommenen Bücher von neuem zum Vorschein.
Luther verwies die Antilegomena der alten Kirche in seiner Bibelübersetzung in den Anhang und bezeichnete den Hebräerbrief und die Apokalypse als Apokryphen. Die ältere luth. Dogmatik ließ die sieben Antilegomena der alten Kirche (2 Petri, 2 und 3 Johannis, Jakobi, Judä, Hebräer und Apokalypse) nur als «deuterokanonische» Schriften gelten. Indes ließ die Richtung der prot. Kirche seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrh. bis zu der Mitte des 18. Jahrh. eine freie wissenschaftliche Bibelforschung nicht aufkommen.
Ein freisinniger Katholik, Richard Simon (s. d.), machte zuerst die Idee einer das Alte und Neue Testament auseinanderhaltenden «historisch-kritischen Einleitung» in die Bibel [* 5] geltend. Erst der Rationalismus, der den Inspirationsglauben durchbrach, eröffnete der prot. Theologie die Möglichkeit einer unbefangenen Schriftkritik. Nachdem schon Herder die Bibel von ihrer menschlich-ästhetischen Seite aufzufassen gelehrt hatte, begannen mit Semler, Griesbach, Michaelis und Eichhorn, darauf durch de Wette, Credner (s. die einzelnen Artikel) u. a. die umfassendsten und eindringendsten kritischen Untersuchungen über Echtheit, Integrität und Glaubwürdigkeit der biblischen Schriften. Nachdem man zuerst die Zweifel an den Antilegomena der alten Kirche wieder aufgenommen und namentlich die apostolische Abfassung des zweiten Briefs Petri, des Hebräerbriefs und der Apokalypse bestritten hatte, begann man auch die Homologumena in den Kreis [* 6] der kritischen Forschung zu ziehen und gegen die aposto- ¶
mehr
lische Verfasserschaft des Matthäusevangeliums, des Epheserbriefs, der Briefe an Timotheus und Titus und des ersten Petrusbriefs Bedenken zu äußern. Als anerkanntes Ergebnis dieser Forschungen darf der nichtapostolische Ursprung des Hebräerbriefs und des zweiten Briefs Petri und die Verschiedenheit der Verfasser der nach Johannes benannten Schriften betrachtet werden. Die Arbeiten F. Chr. Baurs (s. d.) und der Tübinger Schule begründeten eine neue Epoche.
Von der sog. äußern Kritik schritt Baur zu der innern fort, welche die einzelnen Schriftdenkmäler aus dem lebendigen Prozesse der Zeitgeschichte und deren einander teils befehdenden, teils neutralisierenden Gegensätzen zu begreifen suchte. Die Folge dieser Betrachtungsweise war, daß auch die Echtheit einer Reihe von bisher unbeanstandeten Schriften in Zweifel gezogen und, was namentlich die histor. Bücher betraf, Auswahl, Auffassung und Gestaltung des Stoffs als durch den bestimmten Standpunkt und Ideenkreis ihrer Verfasser beeinflußt erwiesen wurden.
Die fortschreitende Forschung hat diese Kritik vielfach ermäßigt und durch anderweite Erwägungen ergänzt, welche namentlich die von Baur vernachlässigte philol. Seite in Betracht zogen. Die Abfassungszeit der Evangelien und der meisten neutestamentlichen Briefe, die Baur und Schwegler (s. d.) großenteils in die zweite Hälfte des 2. Jahrh. verwiesen hatten, wurde wieder höher hinaufgerückt. Gegenwärtig kann als feststehend betrachtet werden, daß auf die Gestaltung der synoptischen Evangelien neben der allgemeinen Abhängigkeit des Schriftstellers von seiner Zeit auch der theol.
Unterschied des judenchristl. und des heidenchristl. Standpunktes, auf die Komposition der Apostelgeschichte das Streben nach möglichster Ausgleichung des Paulinischen und des Petrinischen Evangeliums, auf Stoff und Form des Johannesevangeliums der Geist einer den Ereignissen schon ferner stehenden Zeit und das theol. Bedürfnis, die äußere Geschichte Jesu im Lichte der Idee zu schauen, bestimmenden Einfluß geübt habe. Die nicht unmittelbar apostolische Abfassung des Matthäusevangeliums wenigstens in seiner heutigen Gestalt ist jetzt von den Kritikern allgemein, die des Johannesevangeliums auch außerhalb der strengen Tübinger Schule von vielen Autoritäten zugestanden. Hinsichtlich der Briefe ist wenigstens die «Unechtheit» der sog. Pastoralbriefe und des Epheserbriefs, sowie sämtlicher kath. Briefe (auch des Briefs des Jakobus, des ersten Briefs Petri und des ersten Briefs des Johannes) von den namhaftesten Vertretern der kritischen Richtung zugegeben. - Litteratur s. unter Kanon.
II. Bibelhandschriften und biblische Textgeschichte. Wie bei allen aus dem Altertume auf uns gekommenen Schriften kann auch bei der Bibel der von den Handschriften dargebotene und danach gedruckte Text nicht für identisch mit dem ursprünglichen gehalten werden. Auch er stellt vielmehr etwas im Laufe der Zeit allmählich Gewordenes dar: der Text hat seine Geschichte gehabt. Der Text war nicht nur zufälligen Änderungen und Beschädigungen ausgesetzt, sondern ebenso trugen auch bewußte Versuche, etwa eingerissene Schäden zu beseitigen, dazu bei, seine Gestalt von der ursprünglichen zu entfernen.
Religiöse Schriften aber sind noch dazu der Gefahr ausgesetzt, bewußte Abänderungen im dogmatischen Interesse zu erfahren. Eine Kanonisierung heiliger Schriften ist kaum denkbar, ohne daß auch eine gewisse Überarbeitung des Textes gleichzeitig eintritt oder doch nachfolgt. Wir können also bei der Bibel noch weniger als bei profanen Schriften erwarten, den ursprünglichen Text zu besitzen. Es ist daher, wie bei dem Studium der profanen Litteraturen, auch für eine theol.
Behandlung der Heiligen Schrift, welche die Gedanken der biblischen Schriftsteller zu erfahren wünscht, unerläßlich, den überlieferten Text von Verderbnissen zu säubern und soweit möglich den ursprünglichen herzustellen. Die Thätigkeit, die den überlieferten Bibeltext auf seine Richtigkeit zu prüfen und etwaige Schäden zu heilen sucht, pflegt man «niedere Kritik» zu nennen und von dieser die Arbeit der «höhern Kritik» zu unterscheiden, die sich mit Ermittelung der Herkunft und Abfassungszeit der biblischen Schriften und der Prüfung der hierüber vorhandenen Überlieferung beschäftigt. Doch läßt sich beides nicht trennen. Die Arbeit der «höhern Kritik» kann erfolgreich betrieben werden nur unter genauester Berücksichtigung des Textes, gewährt aber für die Arbeit der niedern Kritik nicht selten leitende Gesichtspunkte.
A. Das Alte Testament. Da die im Alten Testament erhaltenen Schriften sich nach ihrer Entstehung über etwa ein Jahrtausend verteilen und die vorexilische Litteratur überhaupt nur in Trümmern und eingearbeitet in jüngere Werke auf uns gekommen ist, so muß man auf einen Text gefaßt sein, der sich mit der innern Entwicklung des Judentums gebildet hat und daher von dem ursprünglichen wahrscheinlich nicht unwesentlich abweicht. (Vgl. Abr. Geiger, Urschrift und Übersetzungen der in ihrer Abhängigkeit von der innern Entwicklung des Judentums, Bresl. 1857.) In der That stellt der Text, den unsere Drucke auf Grund der handschriftlichen Überlieferung darbieten, nur eine mittelalterliche Textrecension vor, wiewohl deren Wurzeln mindestens bis ins 2. Jahrh. v. Chr. zurückreichen.
Man pflegt ihn den masoretischen Text zu nennen, weil seine richtige Überlieferung durch die Regeln der Masora (s. d.) gesichert wird. Der mittelalterliche Charakter der Textrecension gebt schon aus der Schrift hervor, in der uns der Text überliefert ist. Die Synagogen-Handschriften bieten bloß den Konsonantentext, in Privathandschriften und in Schulhandschriften ist diesem eine von einer zweiten Hand [* 8] hinzugesetzte Vokalschrift beigegeben. (s. Hebräische Sprache.) Es ist nun nicht möglich, mit Hilfe der handschriftlichen Überlieferung über den von unsern Drucken gebotenen Text zurückzugelangen, nur in Kleinigkeiten der Vokalbezeichnung und Orthographie läßt er sich nach ihr korrigieren.
Denn alle unsere hebr. Bibelhandschriften sind verhältnismäßig jung. Die älteste datierte ist der Petersburger Prophetencodex, der 916-917 n. Chr. geschrieben ist. Es erklärt sich dieser auffallende Umstand daraus, daß schadhaft gewordene Bibelhandschriften aus religiösen Gründen beseitigt zu werden pflegen. Dazu bieten alle unsere Handschriften mit sklavischer Genauigkeit denselben Text. Zwar unterscheidet man eine morgenländ. (babylonische) und abendländ. (palästinische) Textrecension und die Unterschiede beider sind überliefert, auch giebt es für die abendländ. zwei Punktationsweisen, die des Ben Ascher und die des Ben Naphthali. Aber hierbei handelt es sich lediglich um für den Sinn völlig belanglose Kleinigkeiten der Orthographie und Punktation. Daher muß geschlossen werden, daß alle unsere Handschrif- ¶