praktischen Bethätigung der Bevölkerungspolitik können gegenwärtig wohl nur noch die Angelegenheiten der
Auswanderung (s. d.) in Frage kommen,
da die öffentliche Gesundheitspflege selbständig zu betrachten ist. -
Vgl. von Mohl, Die Polizeiwissenschaft nach den Grundsätzen
des Rechtsstaats, Bd. 1, S. 97-174 (3. Aufl., Tüb. 1832-34);
auch
Bevölkerungslehre im engern
Sinne oder
Populationistik (s. d.). Die Bevölkerungstheorie sucht die von der
Bevölkerungsstatistik erforschten
Thatsachen (s.
Bevölkerung) auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen. Im Vordergrunde
des theoretischen und praktischen Interesses stehen dabei die das Wachstum der
Bevölkerung betreffenden
Fragen. Das Verdienst, dieselben zum erstenmal als wissenschaftliches Problem mit Erfolg behandelt zu haben, gebührt dem
Engländer R. Malthus. Dieser hat, wenn auch nicht ohne
Vorläufer, gegenüber der bis dahin allgemein üblichen, einseitigen
Überschätzung der
Vorteile einer zahlreichen
Bevölkerung (s.
Bevölkerungspolitik), als erster mit
Nachdruck
und in geschickter Formulierung auf die Gefahren aufmerksam gemacht, die aus einer uneingeschränkten Volksvermehrung entspringen.
In seinem «Essay on the principles of population» (Lond.
1798) weist Malthus darauf hin, daß die
Menschen das Streben und die Fähigkeit haben, sich unbegrenzt zu vermehren, was
auch zweifellos geschehen würde, wenn nicht mancherlei Hemmnisse (checks) jenem natürlichen
Triebe entgegenwirkten.
Den der Volksvermehrung entgegenstehenden
Faktor sieht Malthus in der Unzulänglichkeit der Nahrungsmittel,
[* 4] die sich nach seiner
Annahme nur in arithmet. Progression, also wie 1, 2, 3, 4 u. s. w. vermehren lassen,
während
die Bevölkerung in geometr. Progression steigt, also wie 1, 2, 4, 8 u. s. w.
Das natürliche Wachstum der
Bevölkerung wird daher nach Malthus notwendig durch natürliche Repressivmittel,
Hunger,
Not,
Elend, die namentlich auf die Kindersterblichkeit einwirken, zurückgehalten, wenn sich die
Menschen nicht freiwillig zur
Anwendung von Präventivmitteln, namentlich Vorsicht in der
Eheschließung und zur Enthaltsamkeit (moral restraint) entschließen.
Gegen diese Malthussche Bevölkerungstheorie läßt sich freilich einwenden, daß das für die
Vermehrung der Nahrungsmittel aufgestellte Schema ein ganz willkürliches ist, das auch Malthus eigentlich nur als
Beispiel
angenommen hat. Ferner kann überhaupt auf viele Jahrhunderte hinaus nicht von einem objektiven
Mangel an Nahrungsmitteln
die Rede sein, solange ungeheure
Strecken der Erde noch gar nicht oder nur sehr ungenügend ausgenutzt
sind und auch in den alten
Ländern das mögliche Maximum der Intensität des
Ackerbaues, das wir noch gar nicht kennen, nicht
erreicht ist.
Trotz dieser und anderer
Ausstellungen im einzelnen muß jedoch der
Kern der Malthusschen
Lehre,
[* 5] die Behauptung eines nicht
nur möglichen, sondern oft auch thatsächlich vorhandenen Mißverhältnisses zwischen der
Vermehrung der
Bevölkerung auf
der einen und der der Unterhaltsmittel auf der andern Seite als unumstößliche Wahrheit anerkannt werden. Insbesondere ist
zuzugeben, daß in den dichtbevölkerten Kulturländern die äußerste, d. h. die ärmste Schicht
der
Bevölkerung fortwährend durch
Not
und Elend vermindert wird, wie die
Ziffern über die Kindersterblichkeit
in dieser Schicht im
Vergleich mit den bemittelten
Klassen deutlich beweisen; daß ferner auch in den besser gestellten
Klassen
durch die vermehrte Konkurrenz viele leicht in Arbeitslosigkeit verfallen und dadurch auf jene unterste
Stufe herabgedrückt
werden.
Dieses Übel ist aber wesentlich ein sociales. Tausende sterben jährlich an Entbehrungen und Hungerkrankheiten,
nicht weil die Nahrungsmittel, deren sie bedürfen, nicht vorhanden wären, sondern weil sie nicht die
Mittel haben, sie sich
zu verschaffen; und wenn die unbemittelten
Klassen jede augenblickliche Besserung ihrer
Lage nur benutzen, um leichtsinnige
Heiraten zu schließen und sich proletarisch zu vermehren, so ist nicht abzusehen, wie jenes Übel auf dem
Boden der bestehenden Gesellschaftsordnung gehoben werden könnte.
Aber auch wenn man sich irgendeine socialistische oder kommunistische Idealorganisation verwirklicht denken wollte, so würde
auch diese eine uneingeschränkte
Vermehrung der
Bevölkerung, wie
sie der natürlichen
Tendenz entspricht, auf unbegrenzte
Dauer
nicht ertragen können, es müßte doch schließlich wieder die menschliche
Vernunft dem zügellosen Naturtriebe
entgegentreten.
Daß diese Zügelung ohne Mitwirkung des menschlichen Willens von selbst durch ein automatisch wirkendes organisches
Naturgesetz erfolge, wie Doubleday, Sadler,
Spencer,
Carey, Proudhon u. a. meinen, ist eine ganz willkürliche, meistens auf
theologisierenden
Mysticismus oder bodenlosen
Optimismus gestützte Behauptung.
Doubleday behauptet, die
Fruchtbarkeit der
Menschen nehme um so mehr ab, je besser sie sich nähren, und er beruft sich dafür
auf die
Beobachtungen an gemästetem Vieh. Sadler hat ähnliche
Ansichten, und die andern genannten meinen, die
Entwicklung
des
Nervensystems und die geistige Thätigkeit ständen im umgekehrten Verhältnis zur Fortpflanzungsfähigkeit;
je mehr der
Mensch sich geistig entwickle, um so weniger werde er sich vermehren.
Daß der
Mensch sich nicht in so starkem Verhältnis
vermehren kann wie die niedern
Tiere, wird niemand in Abrede stellen, aber seine wirkliche Vermehrbarkeit kann recht wohl
mit Rücksicht auf die gegebenen wirtschaftlichen und socialen Daseinsbedingungen der Einzelnen zu einer
thatsächlichen
Übervölkerung führen, die dann auf empfindliche und schmerzliche
Weise ihr Heilmittel aus sich selbst erzeugt.
Daß hierin ein
Widerspruch mit den sonst herrschenden Naturgesetzen liege, wird angesichts der heute anerkannten
Lehre vom
Kampfe ums
Dasein in der Natur niemand mehr behaupten wollen. Wenn die fortschreitende geistige
Entwicklung
der Menschheit Abhilfe bringen soll, so wird dies sicherlich nicht auf automatisch-organischem, sondern auf dem Wege der
bewußten Selbstbeherrschung geschehen. Auf absehbare Zeit aber ist die
Übervölkerung nur eine von der Volkszahl und Volksdichtigkeit
unabhängige, also nur relative Erscheinung, die mit wirtschaftlichen und socialen Mißverhältnissen zusammenhängt und
durch Herstellung eines bessern
Gleichgewichts von Produktion und
Konsumtion, unter Umständen auch durch
Auswanderung beseitigt
werden kann.
Unter dem Eindruck der starken
Vermehrung insbesondere des großindustriellen Proletariats ist in England neuerdings eine
unter dem
Namen Neo-Malthusianismus bekannte
Bewegung entstanden, die ihren Mittelpunkt in der 1877 geschlossenen
¶
mehr
Vereinigung der«Malthusian League» gefunden hat und u. d. T.
«The Maltusian» eine eigene Monatsschrift herausgiebt. Die Anhänger dieser auch auf dem Kontinent vertretenen Richtung erwarten
von der «fakultativen Sterilität» eine Beschränkung der Bevölkerungszunahme auf ein den wirtschaftlichen Verhältnissen
entsprechendes Maß. Im Gegensatz zur Übervölkerung entsteht die Entvölkerung teils durch anhaltendes Überwiegen
der Sterbefälle über die Geburten, wie bei den aussterbenden Naturstämmen, teils durch starke freiwillige oder erzwungene
Auswanderung, wie z. B. in Spanien
[* 7] durch die Vertreibung der Mauren.
Die Wirkung beider Ursachen wird begünstigt durch Hungersnot, verheerende Kriege, Druck fremder Eroberer und andere Übel.
Bei dem gegenwärtigen Stande der Kulturentwicklung ist natürlich die völlige Entvölkerung irgend eines
Landes, das für den Menschen überhaupt bewohnbar ist, nicht zu erwarten, sondern bei der starken Vermehrung der Kulturvölker,
die durch Verbesserung der Hygieine und namentlich durch die Verminderung der Kindersterblichkeit befördert wird, werden
alle durch Verschwinden der Ureinwohner überseeischer Gebiete entstehenden Lücken rasch ausgefüllt, wie
auch die nur dünn bevölkerten Länder allmählich zu einer größern Bevölkerungsdichtigkeit gelangen.
Die Entvölkerung ist daher nur eine relative und zeitweilige Erscheinung. Sie ist z. B.
gegenwärtig in Kleinasien und Nordafrika zu beobachten, wenn man die Bevölkerung dieser Gebiete zur Zeit ihrer höchsten
Blüte
[* 8] im Altertum in Vergleich stellt; ebenso wies Deutschland
[* 9] nach dem Dreißigjährigen Kriege im Vergleich
sowohl mit dem frühern als auch mit dem gegenwärtigen Zustande eine furchtbare Entvölkerung auf. Man kann übrigens nicht
jede selbst längere Zeit dauernde Abnahme der Bevölkerung als Entvölkerung im eigentlichen Sinne bezeichnen, denn dieser Abnahme
ist vielleicht eine übermäßig starke Vermehrung, eine Übervölkerung, vorhergegangen, auf die nunmehr
eine naturgemäße Reaktion folgt.
Die eigentliche Entvölkerung beginnt erst, wenn die Bevölkerung unter das Niveau sinkt, das nach den natürlichen Hilfsquellen
des Landes und nach seinen geschichtlich gegebenen wirtschaftlichen Existenzbedingungen als das normale angesehen werden
muß. Wo diese Grenze liegt, läßt sich nur schätzungsweise und nur für den konkreten Fall, nicht allgemein
angeben. IrlandsBevölkerung hat seit 1846 fortwährend abgenommen (s. Bevölkerung, S. 928a, 929), doch wird man mit Rücksicht
auf die allgemeinen Verhältnisse des Landes auch bei der jüngsten Ziffer noch nicht von einer eigentlichen Entvölkerung sprechen
können.
Auch innerhalb eines und desselben Landes finden Verschiebungen der Bevölkerung statt, die man wohl als
Entvölkerung einzelner Landesteile bezeichnet. So kommt in den Kulturstaaten nicht selten eine absolute Verminderung
der Bevölkerung gewisser ländlicher Bezirke und kleinerer Städte vor, während die Großstädte immer mehr Einwohner an sich
ziehen. Unter einer solchen örtlichen Entvölkerung werden einzelne Interessen zwar oft schwer leiden,
für die Nationalwirtschaft im ganzen aber wird die so entstehende Verteilung der Bevölkerung und der Produktivkräfte der
Regel nach die zweckmäßigste sein.
Litteratur. Doubleday, The true law of population (Lond. 1840; 2. Aufl. 1854);
Sadler, The law of population (2 Bde., ebd. 1830);