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Industrie, Gewerbe, Handel. Ein 350 m langer Schwellendamm zweigt von der Aare einen Kanal [* 2] für den Betrieb der städtischen Wasserwerke und des Elektricitätswerkes ab. Die Fabriken liefern Woll-, Seiden- und Baumwollwaren, Maschinen, mathem. und physik. Instrumente, Schokolade u. s. w. Der Handel wird durch die Kantonalbank, die Hypothekarkasse und andere Geld- und Kreditanstalten gefördert. Bedeutend sind auch die beiden Messen und die Vieh- und Pferdemärkte. Die Stadt wird der Länge nach von W. nach O. von einer durch komprimierte Luft getriebenen Straßenbahn durchzogen, hat eine Drahtseilbahn vom alten Bundesrathaus hinab nach Aarziehle und elektrische Straßenbeleuchtung.
Die Umgebung der Stadt ist ungemein anmutig; hohe schattige Baumgänge führen nach vielen Richtungen zu den herrlichsten Fernsichten; die schönsten und besuchtesten Punkte sind das Schänzli, die Enge, in deren Nähe der Hirschgarten liegt, und der Gurten (860 m), dessen Gipfel ein Panorama der Hochebene bis zum Jura und den Alpen, [* 3] vom Pilatus bis zu den Savoyer Bergen [* 4] gewährt.
Geschichte des Kantons und der Stadt. Zahlreiche Funde beweisen, daß das jetzt bernische Gebiet schon in prähistor. Zeit und im Altertum bewohnt war. Nach dem Sturze der röm. Herrschaft wurde es von Alamannen und in den westl. Grenzstrichen von Burgundern besiedelt. 534 kam das Land unter fränk. Herrschaft, 888 an das zweite burgund. Königreich und mit diesem 1032 an das Deutsche Reich, [* 5] von dem seit 1127 die Herzöge von Zähringen (s. d.) das Rektorat über Burgund zu Lehn trugen.
Berthold V. gründete 1191 auf Reichsboden die Stadt Bern [* 6] als festen Platz zur Sicherung der Zähringer Herrschaft gegen den burgund. Adel. Durch den Tod Bertholds und das Aussterben der Zähringer 1218 erlangte Bern Reichsfreiheit, und damit begann seine Blüte. [* 7] Der kleine Adel und die freien Bauern der Umgegend, Klöster und Stifte, benachbarte Städte und Landschaften bewarben sich um den Schirm oder das Bündnis der Stadt. Diese ergab sich 1255 den Grafen von Kyburg und Savoyen, erhielt aber 1267 ihre Freiheit wieder.
Wegen Steuerverweigerung hatte Bern 1288 zwei Belagerungen durch Rudolf von Habsburg zu bestehen; sein Sohn Rudolf schlug 1289 die Berner vor der Stadt. Durch die Siege am Dornbühl 1298 und bei Laupen 1339 brach es mit Hilfe der Waldstätte die Macht des burgund. Adels und der mit diesem verbündeten Stadt Freiburg. [* 8] 1353 trat es dem Bunde der Eidgenossen bei; 1375 schlug es die Gugler unter Ingelram von Coucy zurück. Ruhmvollen Anteil nahm es 1474-77 an den Kriegen gegen Herzog Karl von Burgund und 1499 gegen Kaiser Max. Seine staatskluge und kräftige Politik war beständig auf Vergrößerung des eigenen Gebietes durch Eroberung oder Kauf von den verarmten Dynasten und auf Erweiterung der Eidgenossenschaft durch neue Bündnisse gerichtet. Bern eroberte 1415 den Aargau bis zur Reuß; [* 9] 1536 entriß es den Herzögen von Savoyen die Waadt (s. d.), und sein Gebiet erstreckte sich nun von den Quellen bis fast zur Mündung der Aare, von den Grenzen [* 10] Savoyens und Hochburgunds bis zu den Waldstätten. Bei der Reformation, die Bern 1528 annahm und auch in der neu eroberten Waadt einführte, vermehrte es das Staatseigentum durch die Säkularisation von Klöstern und Stiften und nahm seitdem neben Zürich, [* 11] an dessen Seite es in den Religionskriegen von 1656 und 1712 focht, die erste Stelle in der Eidgenossenschaft ein. (S. Schweiz.) [* 12]
Ursprünglich herrschte in Bern mehr demokratische Rechtsgleichheit. Die Regierung bestand bis 1798 aus dem Schultheißen, dem Kleinen Rat, dem Rat der Zweihundert (1294 eingeführt) und der gesamten Bürgerschaft, die sich in vier Quartiere gliederte unter je einem den vier ersten Handwerkergesellschaften entnommenen Venner (Bannerträger) und Steuereinzieher. Das erkaufte und eroberte Land trat der Stadt gegenüber in ein Unterthanenverhältnis und wurde durch Landvögte aus städtischen Geschlechtern regiert.
Die Erwerbung des Bürgerrechts wurde vom 16. Jahrh. an erschwert, die Zahl der regimentsfähigen Geschlechter 1790 auf ein Minimum von 76 festgesetzt. Aber auch innerhalb dieser Geschlechter gab es wieder verschiedene Abstufungen («Regierende» und «Nichtregierende»). Der Rat der Zweihundert galt als der eigentliche Souverän. Er ergänzte sich selbst, immer ausschließlicher aus dem engen Kreise [* 13] der «patricischen» Familien; so machte sich der Absolutismus des 17. Jahrh. auch hier geltend, und die Regierung wurde oligarchisch.
Der Staatshaushalt war wohlgeordnet, die Verwaltung im allgemeinen milde und gerecht, der Wohlstand namentlich unter der Bauernschaft beträchtlich; Militärwesen, Straßenwesen und öffentliche Sicherheit standen nach damaligen Begriffen auf hoher Stufe. Dagegen wurden der öffentliche Unterricht, Handel und Gewerbe vernachlässigt. Der Mangel an polit. Rechten der Landschaft, der Druck des oligarchischen Regiments weckten trotz der materiellen Wohlfahrt namentlich in den Municipalstädten und im Waadtland, aber auch in der Hauptstadt große Unzufriedenheit.
Zwar gelang es der Regierung, die Freiheitsbestrebungen des Landvolks im Bauernkriege von 1653 blutig zu unterdrücken, und der Versuch des Majors Davel (s. d. und Waadt) 1723, die Waadt von Bern loszureißen, blieb ebenso erfolglos wie die Verschwörung Sam. Henzis (s. d.) 1749 zum Sturz der Regierung; aber den Stürmen der Französischen Revolution konnte das Staatsgebäude nicht widerstehen. Im Aargau und dem Waadtland entstanden Unruhen, im Jan. 1798 fiel die Waadt von ab; die Truppen der Französischen Republik rückten ins Land und zogen 5. März, nach tapferer Gegenwehr des bernischen Heers (gleichzeitig Sieg bei Neuenegg und Niederlage am Grauholz), in die Hauptstadt ein, der sie ungeheure Brandschatzungen auflegten und den großen Staatsschatz wegnahmen.
Das Gebiet des Staates zerfiel nun unter der ganz unhaltbaren Helvetischen Republik (s. d.) in die Kantone Waadt, Aargau, und Oberland; 1802 entschied der «Necklikrieg» den Sieg der Föderalisten über die Unitarier, doch verhinderte Napoleons Einschreiten die Wiederherstellung des Alten. Seine Mediationsakte (1803) vereinigte das Oberland wieder mit Bern. Der Aargau und die Waadt blieben selbständige Kantone und wurden als solche im Wiener Kongreß anerkannt. Bern, das 1815 am liebsten seine frühere Territorialherrschaft hergestellt hätte, erhielt für den Verlust des Aargaues und der Waadt den größten Teil des Bistums Basel [* 14] samt den Städten Biel und Neuenstadt.
Im Kanton [* 15] Bern wurde die frühere aristokratische Verfassung wiederhergestellt, doch dem Rat der Zweihundert 99 Mitglieder aus den Städten und Landschaften des ganzen Kantons beigegeben. Beim Ausbruch der franz. Julirevolution verlangte auch in Bern ¶
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eine Volksversammlung zu Münsingen Revision der Verfassung. Die Regierung dankte ab, und 31. Juli nahm das Volk die neue repräsentativ-demokratische Verfassung an, durch die alle Vorrechte der Hauptstadt beseitigt und die gesetzgebende Gewalt einem Großen Rate von 240 Mitgliedern, die vollziehende dem aus 16 Mitgliedern bestehenden Regierungsrat übergeben wurde. Die Mängel dieser Verfassung erweckten unter dem Einfluß der durch die Jesuitenfrage in der Schweiz verbreiteten Gärung, namentlich nach dem verunglückten zweiten Freischarenzuge nach Luzern [* 17] (1845) und der zweideutigen Stellung der Regierung, das Verlangen nach einer Revision. Das Volk forderte unter Führung von Stämpfli u. a. die Revision durch einen besondern Verfassungsrat und genehmigte mit überwältigender Mehrheit den von diesem vorgelegten Entwurf.
Durch diese bis 1894 geltende Verfassung wurden das indirekte Wahlsystem und der Census für die Wählbarkeit in den Großen Rat abgeschafft, das Stimmrecht erweitert, die Zahl der Regierungsräte auf 9 herabgesetzt, die Geschworenengerichte eingeführt, dem Volke das Vorschlagsrecht für die Bezirksbeamten und das Abberufungsrecht den Behörden gegenüber gewährleistet. An der Stelle der altliberalen Partei von 1831 trat seit 1816 die radikale in die Regierung ein, und unter ihr nahm der Kanton in den Wirren der Sonderbundszeit und bei der Einführung der Bundesverfassung von 1848 den ersten Platz unter den centralistisch gesinnten Kantonen ein.
Aber schon 1850 wurde die radikale Regierung bei der Erneuerung des Großen Rates von der konservativen Partei verdrängt. Bei den Neuwahlen von 1854 fand ein Kompromiß zwischen den Parteien statt, und die Regierung wurde aus den hervorragendsten Männern beider Lager [* 18] bestellt. Auch seither wurde das ausschließliche Parteiregiment meist ferngehalten und 1869 das Referendum mit Zustimmung beider Parteien eingeführt. In eidgenössischen Dingen vertritt Bern im ganzen, trotz seiner starken und rührigen konservativ-reaktionären Partei, den entschiedenen Fortschritt.
Bei beiden Abstimmungen über die Revision der eidgenössischen Verfassung von 1872 und 1874 trat der Kanton mit starker Mehrheit für die Revision ein. Seit 1870 ist auch hier der Kampf zwischen der Staatsgewalt und der röm.-kath. Hierarchie ausgebrochen, wobei der kath. Kantonsteil (der Jura) dem Staate besonders Mühe bereitete. Der Bischof Lachat und 97 andere widerspenstige Geistliche wurden abgesetzt und an der Universität eine altkath. Fakultät gegründet. Die achtziger Jahre brachten dann einen Waffenstillstand zwischen Kirche und Staat, und wenn auch Bern 1885 an der Wiederherstellung des Bistums Basel nicht teilnahm, so legte es doch dem neuen Bischof Fiala (gest. 1888) keine Schwierigkeiten in den Weg. Im polit.
Leben gelangte 1882 die radikale Partei zu ganz entschiedenem Übergewicht. Die Opposition verlegte nun ihre Thätigkeit in das Volk, organisierte sich als bernische Volkspartei und brachte den Plan einer Verfassungsrevision im radikalen Sinne durch die Volksabstimmung zu Falle. Durch die Wahlen von 1886 erhielt die konservative Partei in den Behörden wieder eine Stärkung. Im J. 1891 tagten in Bern der Internationale Kongreß für Arbeiterunfälle und der Internationale Geographen-Kongreß.
Litteratur. Außer den ältern Chroniken von Justinger, Valerius Anshelm, Stettler u. s. w. vgl. Tscharner, Historie der Stadt Bern (2 Bde., Bern 1765-66);
Walthard, Description topographique et historique de la ville de Bern (ebd. 1827);
Tillier, Geschichte des eidgenössischen Freistaats Bern (6 Bde., ebd. 1838-40);
Berner Taschenbuch (ebd. seit 1850);
Jahn, Chronik des Kantons Bern (ebd. 1857);
Durheim, Histor.-topogr.
Beschreibung der Stadt Bern (ebd. 1859);
Wurstemberger, Geschichte der alten Landschaft Bern (2 Bde., ebd. 1862);
Hodler, Geschichte des Berner Volks (2 Bde., ebd. 1865-70);
von Wattenwyl, Geschichte der Stadt und Landschaft Bern (2 Bde., Schaffh. und Bern 1867-72);
Statist. Jahrbuch für den Kanton Bern (Bern 1868 fg.);
Runge, Das Berner Oberland (Darmst. 1868);
Leuenberger, Studien über bernische Rechtsgeschichte (Bern 1873);
Kummer, Geschichte des Schulwesens im Kanton Bern (ebd. 1874);
Fontes rerum Bernensium (Urkundensammlung bis 1353, Bd. 1-7, ebd. 1877-93);
Mülinen, Beiträge zur Heimatkunde des Kantons Bern (3 Tle., ebd. 1879-94);
Mitteilungen des bernischen statist.
Bureaus (ebd. 1883 fg.);
Sammlung bernischer Biographien (ebd. 1884);
von Rodt, Bern (ebd. 1886);
Geiser, [* 19] Die Verfassung des alten Bern 1191-1798 (Bern 1891).