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bevor die Beratung zu Ende geführt war, auf Geheiß des Königs die Kammern geschlossen, und das Ministerium trat nach den nächsten Gemeinderatswahlen, die einen Protest des Volks gegen das sog. Klostergesetz bedeuteten, zurück.
Das nun gebildete liberale Kabinett, abermals mit Rogier und Frère-Orban an der Spitze, schritt sofort zur Auflösung der Zweiten Kammer (10. Dez.), infolge deren das Verhältnis der Liberalen zu den Katholiken von 45 zu 63 auf 70 zu 38 abgeändert wurde. Bis 1870 hielt die liberale Regierung aus. In der ersten Zeit ihrer Verwaltung bereitete die Frage der Neubefestigung Antwerpens große Schwierigkeiten; am meisten von der Seite der Stadt Antwerpen, [* 2] welche ihre besondern Interessen dadurch gefährdet hielt. Nachdem ein erster Antrag verworfen war, wurde ein zweiter eingebracht, welcher die von den Antwerpener Deputierten gewünschte große Enceinte soviel wie möglich berücksichtigte und nach stürmischer Debatte mit 57 gegen 42 Stimmen und 7 Stimmenthaltungen angenommen wurde. Doch war dieses Gesetz wegen der fortwährenden Opposition schwierig auszuführen.
Eine der wichtigsten, vom Finanzminister Frère bewerkstelligten Reformen war die Aufhebung der sog. Octrois communaux oder Stadtzölle (Gesetz vom Der dadurch für die städtischen Einnahmen erwachsende Ausfall wurde durch Gründung eines Kommunalfonds gedeckt, zu dessen Unterhaltung staatliche Mittel bewilligt wurden. Auch wurde 1863 der durch den Friedensschluß mit Holland zu Gunsten des letztern stipulierte Scheldezoll abgelöst. Belgien [* 3] übernahm die Zahlung eines Drittels der dafür mit Holland vereinbarten Summe (36 278 566 Frs.), die übrigen seefahrenden Staaten den Rest.
Trotzdem konnte doch das Ministerium sich rühmen, die Staatsschuld innerhalb der letzten 6 Jahre nur um 45 Mill. vermehrt, die Steuern und Abgaben fast unverändert gelassen zu haben. Das Gesetz vom welches dem franz. Golde den gesetzlichen Kurs einräumte und das von der Initiative der Kammer ausgegangen war, hatte den Finanzminister Frère bewogen, seine Entlassung einzureichen. Doch kehrte er auf seinen Posten zurück. Zu gleicher Zeit trat auch für den aus persönlichen Rücksichten ausgeschiedenen Minister des Äußern, Baron de Vrière, der bisherige Minister des Innern, Rogier, ein, der seinerseits durch A. Vandenpeereboom ersetzt wurde.
Auch Konflikte mit der Geistlichkeit konnten dieser liberalen Regierung nicht erspart bleiben. Große Aufregung verursachte in den ultramontanen Kreisen die Anerkennung des Königreichs Italien [* 4] 1861, noch mehr der Gesetzentwurf betreffend die Verwaltung der Studienstiftungen, die zu Gunsten der seit 1835 aufgehobenen Staatsuniversität Löwen [* 5] (an deren Stelle eine private katholische gekommen war) erlassen waren; diese sollten unter Oberaufsicht des Staates gestellt werden.
Zugleich trat damals bereits die Partei der radikalern Liberalen auf und gewann die flamändische Bewegung, welche für die Rechte der niederländ. Sprache [* 6] eintrat und litterarisch sich eng an die nördl. Niederlande [* 7] anschloß, bedeutenden Einfluß. Die Wahlen von 1861 ließen dem Kabinett noch eine Majorität von 18 Stimmen übrig; die von 1863, infolge des Abfalls von Antwerpen wegen des Festungsbaues, drückten sie auf 6 herab. Als eine Neuwahl in Brügge noch weitere Verluste ergab, reichten die Minister ihre Entlassung ein, die jedoch der König nicht annahm.
Bei Wiedereröffnung der Session 31. Mai beantragte der Abgeordnete Nothomb ein Mißtrauensvotum gegen die Minister, das 18. Juni mit 57 gegen 56 Stimmen verworfen wurde. Als jedoch 30. Juni der liberale Abgeordnete Orts einen Gesetzentwurf einbrachte, der eine neue, der Vermehrung der Bevölkerungszahl entsprechende Verstärkung [* 8] der Volksvertretung verlangte, brach der Sturm los. Die fast schon in den Besitz der Majorität gelangte klerikale Opposition sah in dem Antrage mit Recht die ausdrückliche Absicht einer Verstärkung ihrer Gegner und erklärte, sich an den Verhandlungen nicht länger beteiligen zu wollen, wenn die Regierung jenen Entwurf unterstütze. Da dies dennoch geschah, zog sich die Rechte zurück, so daß die Kammer beschlußunfähig wurde. Am 13. Juli erfolgte die Auflösung der Kammer. Der Senat hatte kurz vorher dem Ministerium ein Vertrauensvotum mit 29 gegen 22 Stimmen erteilt. Die Wahlen (11. Aug.) ergaben eine Majorität von 12 Stimmen für die liberale Regierung.
In der neuen, auf den zu außerordentlicher Sitzung berufenen Kammer wurde die Kreditforderung von 5½ Mill. Frs. zur Vollendung des Festungsbaues in Antwerpen nur mit 54 Stimmen gegen 48 bewilligt. Erst jetzt nach schweren parlamentarischen Anstrengungen konnte das Gesetz, betreffend die Studienstiftungen, die sog. «Loi despoliation» durchgebracht werden dessen Ausführung bald dem entschiedensten Gegner des Klerikalismus, Advokat Bara, Deputierten von Tournai, übertragen ward, der an der Stelle des freiwillig ausgeschiedenen Justizministers Tesch ins Kabinett trat Infolgedessen verwarf dann die Rechte (6. Dez.) das Budget des neuen Kabinettsmitgliedes.
3) Unter Leopold II. seit 1865. Am starb Leopold I., dessen umsichtiger Staatsführung Belgien seine polit. und materielle Entwicklung zum großen Teil verdankte. Ihm folgte sein ältester Sohn, Leopold II. (s. d.), der am 17. Dez. den Eid auf die Verfassung ablegte. Dessen einziger Sohn Leopold starb Eventueller Thronfolger ist daher der Bruder des Königs, Philipp, Graf von Flandern. Leopold II. ließ die Minister in ihren Ämtern und bald entbrannte der Streit der Parteien wieder, wobei die konservativ-liberalen Minister es nicht nur mit der Rechten, sondern auch mit jener immer dringender werdenden äußersten Linken der jungen Liberalen zu thun hatten.
Letztere betrieb mit zunehmendem Eifer ihre Bestrebungen auf Reform der Wahlgesetze (wobei die Katholiken sie aus taktischen Rücksichten unterstützten), ferner auf Abschaffung des Volksschulgesetzes von 1842, namentlich aber auf Verminderung der Militärausgaben. Aber der Deutsche [* 9] Krieg von 1866 zeigte die Notwendigkeit eingreifender Neuerungen in der Bewaffnung und der Verfassung des Heers und somit erhöhter Kriegsausgaben. Zur Beratung über die erforderlichen Heeresreformen wurde im Dez. 1866 vom Kriegsminister General Goethals eine besondere, aus Offizieren und Mitgliedern der beiden Kammern bestehende Kommission eingesetzt. Als das Kabinett die Beschlußnahmen derselben nur teilweise genehmigte, trat der Kriegsminister zurück; sein Nachfolger war der General Renard. Dieser brachte ein Gesetz ein, dessen wichtigste Bestimmungen waren, daß die Präsenzzeit 27 Monate dauern (die ¶
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Kommission wollte 30 Monate) und das Jahreskontingent anstatt 10000 Mann 12000 (die Kommission forderte 13000) betragen sollte. Dies ward von beiden Kammern (April 1868) angenommen. Es kam nicht zur Einführung der allgemeinen Dienstpflicht; nur wurde durch ein neues Gesetz die Stellvertretung in der Armee schwieriger gemacht. Das auf Grund dieses Gesetzes aufgestellte Kriegsbudget belief sich auf nahezu 37 Mill. Frs.
Auch die Bestrebungen der radikalen Partei, das Elementarschulgesetz von 1842 einer Revision zu unterziehen und die durch dasselbe dem Klerus gewährleistete Mitwirkung an der Leitung des Volksschulunterrichts auf das notwendigste Maß zurückzuführen, fanden anfangs bei dem Ministerium nur wenig Anklang. Selbst die vom Minister Vandenpeereboom eingerichteten Volksschulen für Erwachsene sollten den Bestimmungen des allgemeinen Schulgesetzes, somit ebenfalls der Aufsicht des Klerus unterworfen werden.
Die Mißliebigkeit dieser Maßregel brachte jedoch Uneinigkeit ins Kabinett und bestimmte sowohl Vandenpeereboom wie den Chef des Kabinetts Rogier zum Rücktritt. Jetzt ward Frère-Orban der ausschließliche Leiter desselben. Vandenpeerebooms Nachfolger Pirmez verfügte, daß die genannten Schulen je nach dem Dafürhalten der Gemeindebehörden der Mitwirkung der Geistlichkeit unterworfen oder entzogen werden sollen. Auch in betreff der Wahlreform wurde vom Ministerium nur wenig zu stande gebracht. Es erklärte sich öffentlich gegen das allgemeine Wahlrecht, das auch in den Kammern nur wenig Anklang fand. Außer zwei Gesetzen gegen betrügerische Wahlumtriebe wurde ein Gesetz angenommen, wonach in betreff der Wahlen für Provinzial- und Gemeinderäte (denn für die Kammern war im Grundgesetz ausschließlich der Wahlcensus vorgeschrieben) die Steuerquote auf 15 Frs. herabgesetzt wurde für diejenigen, welche sich über den dreijährigen Besuch einer Mittelschule ausweisen könnten. Dieses Gesetz aber kam niemals zur Ausführung.
Der belg. Unabhängigkeit drohten 1866, wie erst 1870 aus den Enthüllungen Bismarcks vollständig klar geworden ist, von der Seite Frankreichs ernstliche Gefahren. Im folgenden Jahre, als die sog. Luxemburger Frage hervortrat, hatte auch Belgien, welches die hinsichtlich Luxemburgs abzuändernden Traktate von 1839 unterzeichnet hatte, an der Konferenz der Mächte teilzunehmen. Während durch den Traktat vom sämtliche unterzeichnete Mächte sich zur Garantie der Neutralität Luxemburgs verpflichteten, blieb Belgien als neutraler Staat von dieser Bestimmung ausgeschlossen.
Einen ernstern Charakter hatte der zwischen und Frankreich im Febr. 1869 ausgebrochene sog. Eisenbahnkonflikt. Ein von der Regierung eingebrachtes Gesetz verfügte, daß künftighin Eisenbahnkonzessionen nur mit Ermächtigung der Regierung abgetreten werden dürfen, und hatte den unmittelbaren Zweck, die Gesellschaft des Grand-Luxembourg zu verhindern, einem bereits vereinbarten Kontrakt gemäß ihre Bahn an die Compagnie de l'Est français abzugeben.
Das Gesetz fand in beiden Kammern willige Annahme, veranlaßte aber eine bedenkliche Spannung zwischen den beiden Regierungen. Auf Grund persönlicher Unterhandlungen zwischen der franz. Regierung und dem belg. Finanzminister Frère-Orban wurde die Sache durch ein Protokoll vom 27. April vor eine von beiden Teilen beschickte Konferenz verwiesen. Diese brachte Mitte Juli die Angelegenheit durch die Herstellung eines geregelten, auf einheitliche Tarifsätze zurückgeführten Eisenbahndienstes zwischen der Schweizer und der niederländ. Grenze über Belgien zu gütlichem Ausgleich.
Die Anstrengungen der Katholiken und deren Verbindung mit den Radikalen, sowie die Unzufriedenheit vieler Liberalen mit der Abneigung des Ministeriums gegen mancherlei Reformen bewirkten endlich, nach fast 13jährigem Bestehen, den Fall des Ministeriums Frère-Orban. Die Juniwahlen von 1870 reducierten seine Majorität fast auf Null und nötigten es zum Rücktritt. Am 2. Juli trat ein rein kath. Kabinett an seine Stelle unter Vorsitz des Barons d'Anethan. Der erste Schritt der neuen Regierung war die Auflösung der beiden Kammern und die Anordnung neuer Wahlen (2. Aug.). Durch diese Wahlen erwarb sie eine Majorität von 73 gegen 51 in der Zweiten und von 33 gegen 29 in der Ersten Kammer. Nicht wenig zu diesem fast unverhofften Resultat trug der wenige Tage nach der Bildung des neuen Kabinetts ausgebrochene Deutsch-Französische Krieg bei. Die polit. Fraktion, zu welcher sich die neuen Minister bisher gehalten hatten, erstrebte zwar möglichst starke Verminderung der Militärausgaben; aber der Druck der Umstände nötigte sie, hiervon vorläufig abzusehen, und ihre erste Forderung an die eröffneten Kammern war ein Kredit von 15 Mill. Frs. für die durch die Mobilmachung der Armee entstandenen Bedürfnisse. Gleich beim Ausbruch des Krieges hatte Belgien den beiden kriegführenden Mächten die Mitteilung gemacht, daß es die Neutralität seines Gebietes mit allen Kräften zu schützen gesonnen sei, und dagegen von jeder derselben die Versicherung erhalten, daß auch sie diese Neutralität so lange achten werde, als sie von der Gegenpartei nicht verletzt würde. Überdies nahm England Belgien noch in seinen besondern Schutz, indem es durch einen mit Deutschland [* 11] und Frankreich abgeschlossenen Vertrag vom 9. Aug. der Aufrechthaltung der belg. Neutralität eine neue Garantie gab. Während des Krieges hat Belgien die Pflichten der Neutralität in loyaler Weise beobachtet. Etwa 80000 Mann belg. Truppen standen an den Grenzen [* 12] und entwaffneten sofort alle franz. Flüchtlinge, die darauf in Belgien interniert wurden; die Ausfuhr von Waffen [* 13] und Kriegsmaterial wurde verboten.
Hinsichtlich der innern Politik stellte die neue Regierung zuvörderst an der Stelle des noch nicht ausgeführten Gesetzes vom einen Gesetzentwurf über die Wahlreform auf, wonach hauptsächlich der Census für die Kommunalwahlen durchgängig auf 10, für die Provinzialwahlen auf 20 Frs. herabgesetzt wurde; wurde der Entwurf zum Gesetz. Die Ernennung des bei den Langrandschen Bankinstituten kompromittierten Exministers de Decker zum Gouverneur von Limburg [* 14] brachte das Kabinett d'Anethan zu Falle.
Auf stürmische Debatten, welche dieselbe in der Kammersitzung vom hervorgerufen hatte, folgten in Brüssel [* 15] tumultuarische Straßenkundgebungen, welche mehrere Tage dauerten und schließlich, als auch der freiwillige Rücktritt de Deckers nichts fruchtete, den König veranlaßten, seine Minister zu entlassen. Es folgte nun (7. Dez.) das Kabinett de Theux-Malou (der Conseilpräsident Graf de Theux starb aber 1874), welches vorzugsweise bemüht war, allen aufregenden Parteifragen auszuweichen und namentlich die freundschaftlichen ¶