Titel
Astrachan.
1) Gouvernement im südöstl. Teil des Europäischen Rußlands, grenzt im NO. und N. an das Uralgebiet und das Gouvernement Samara, im W. an das Gouvernement Saratow und das Land der Donischen Kosaken, im S. an das Gouvernement Stawropol, im SO. auf mehr als 400 km an das Kaspische Meer, das dort längs der Küste zahlreiche Inseln und Halbinseln bildet. Es umfaßt 208158,7 (nach Strelbitskij 236531,6) qkm und zerfällt in die Kreise [* 2] Astrachan, Krasnojarsk, Jenotajewsk, Tschernojarsk und Zarew, wozu noch 7 Ulusverwaltungen der Kalmücken und die Ländereien der Astrachankosaken (s. d.) kommen.
Außerdem liegt im Bereich des Gouvernements das Gebiet der kirgisischen Innern Horde oder Bukejewschen Horde (s. d.). Das ganze Gouvernement bildet eine große Steppe, die sich nach SO. zu senkt und einen Teil der Aralokaspischen Senke (s. Kaspisches Meer) bildet. Sie wird von der Wolga in zwei Hälften geteilt, von denen die am rechten Ufer liegende die Wolga- oder Kalmückensteppe, die am linken Ufer die Transwolgaische oder Kirgisensteppe heißt. Die Erhöhungen, welche rechts den Wolgalauf begleiten, nehmen im Gouvernement Astrachan stark ab; von ihnen zweigt sich bei Sarepta der Höhenzug Jergeni (s. d.) nach Süden zu ab, weiter südlich läuft eine Hügelreihe, der Daban, in die Steppe an der Kuma aus.
Auf der linken Seite der Wolga finden sich nur vereinzelte Erhöhungen, wie der Große und der Kleine Bogdo, der Tschaptschatschi; in der Steppe sind Hügel mit lehmigem Untergrund zerstreut. In geolog. Beziehung besteht das Gouvernement fast ganz aus mit Flugsand vermischtem Lehm, Salzmooren, aufgeschwemmtem Schlamm, und der Boden ist fast überall mit Salz [* 3] getränkt. Außer der Wolga und ihren Nebenarmen sind nur wenig Flüsse [* 4] vorhanden; die wichtigsten sind im N. der Kleine und Große Usenj, im S. die Sarpa und die beiden Manytsche.
Gleichwohl ist das Gouvernement reich an frischem Wasser, das sich in etwa 1 m Tiefe im Boden findet, und durch Anlage von Brunnen [* 5] (Chuduken) nutzbar gemacht wird. Seen, besonders salzhaltige, sind sehr zahlreich; sie ziehen sich längs der ganzen Meeresküste hin; im Innern sind die wichtigsten der Elton- und der Baskuntsckaksee. Das Klima ist kontinental asiatisch, mit extremer Sommerhitze und Winterkälte, mit Regenmangel, Schneestürmen (Burans) und Heuschreckenplage.
Die Vegetation bildet keine zusammenhängende Rasendecke und ist inselartig zerstreut. Auf den erhöhten Stellen wächst Wermut, an den niedern verschiedene Grasarten und Salzkräuter aus der Gattung Salicornia. Nur die Ufer und Inseln der Wolga haben einen reichern Pflanzenwuchs. Im Wolgadelta und an der Meeresküste wachsen große Mengen Schilf, die nicht nur als Brenn-, sondern auch als Baumaterial verwendet werden. Die seßhafte Bevölkerung, [* 6] hauptsächlich aus Russen und Tataren bestehend, betrug (1889) 479980 E.; dazu kommen 138980 Kalmücken und 237500 Kirgisen, unter denen sich eine Anzahl Karakalpaten und Turkmenen befinden.
Der
Religion nach zählt man 440833
Christen (meist griech. Katholiken), 276759 Mohammedaner
, 136735 Lamaiten, 585
Juden.
Die Hauptbeschäftigung der Bewohner bildet der Fischfang mit Kaviarbereitung und Thransiederei, namentlich der Fang von
Heringen (1887: 278 Mill.
Stück), dann die Salzgewinnung
[* 7] (jährlich 18,7 Mill. Pud, wovon etwa drei Viertel auf den Baskuntschaksee
kommen). Bedeutend ist die Viehzucht;
[* 8] 1887 gab es 226299
Pferde,
[* 9] 766320 Rinder,
[* 10] 2 ¼ Mill. Schafe,
[* 11] 44000 Ziegen, 66000 Kamele.
[* 12] Der Ackerbau ist nur im
Kreis
[* 13]
Zarew und Tschernojarsk von einiger Bedeutung.
Garten
[* 14] und
Weinbau wird besonders bei Astrachan betrieben.
Die Fabriktätigkeit ist gering. Dampfschiffahrt besteht auf der Wolga und
Achtuba. An Eisenbahnen ist nur die 55 km lange
Baskuntschakbahn vorhanden. Als
Tschumaken (s. d.) waren (1876) 6150
Personen tätig.
Die Astrachaner Niederung bildet von jeher das Einfallstor asiat. Völker nach Europa, [* 15] der Hunnen, Magyaren, Avaren. Im 12. Jahrh. finden sich daselbst die Polowzen, an deren Stelle im 13. die Mongolen treten. Letztere machten sich 1480 von der Großen Horde unabhängig und errichteten ein selbständiges Chanat Astrachan, das außer dem heutigen Gouvernement auch die benachbarten Gebiete von Stawropol, Orenburg, Samara und Saratow umfaßte; es wurde 1556 von Iwan IV. unter russ. Herrschaft gebracht. 1632 wanderten die Kalmücken ein, 1801 die Kirgisen. Das Gouvernement Astrachan wurde 1717 errichtet, 1785-1832 gehörte es zu Kaukasien; in seinen gegenwärtigen Grenzen [* 16] besteht es seit 1860.
2)
Kreis im Gouvernement Astrachan, rechts an der Wolga und auf den
Inseln des Wolgadeltas, und umfaßt 39523,7 (nach Strelbitskij
56302,7) qkm, wovon etwa 15000 aufs Wolgadelta kommen, mit (1888) 56740 E. (11765 Mohammedaner
).
3) Hauptstadt des Gouvernements und des Kreises Astrachan, unter 46° 21' nördl. Br. und 48° 2' östl. L. von Greenwich, 20,7 m unter dem Schwarzen, 7,6 m über dem Kaspischen Meere, liegt auf drei parallel-laufenden Hügeln einer Insel des Wolgadeltas, am linken Ufer des hier 2-3 km breiten Hauptstroms, 90 km vor dessen Mündung ins Meer, sowie an der Balda, dem Kutum und andern kleinen Nebenarmen. Mitten durch die Stadt geht der 1817 beendete 2,5 km lange, nach dem Erbauer benannte Warwazische Kanal. [* 17] Die Hügel sind durch Sümpfe ¶
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und Salzmoore voneinander getrennt; der wichtigste derselben ist der Kremlhügel, früher Sajazhügel genannt, 12,5 m über dem Kaspischen Meere. Zum Schutz gegen Überschwemmung ist die Stadt von allen Seiten mit Erddämmen umgeben. Die sumpfige Lage, der Mangel an Trinkwasser, das meist fehlende Straßenpflaster, ein mangelhaftes Abfuhrsystem wirken ungünstig auf die Gesundheitsverhältnisse. Die Temperatur schwankt von +38,9° C. im Sommer bis -31,7° im Winter, und ist im Mittel 9,8°. Die Sterblichkeit beträgt 4 Proz., der Zuwachs an Geburten 0,6 Proz. 1884 zählte man in Astrachan 204 Straßen mit 2087 steinernen und 7367 hölzernen Häusern.
Die Bevölkerung beträgt (1888) 73710 (40200 männl., 33510 weibl.) E., darunter 56465 Russen, 6200 Armenier, ferner Perser, Tataren u. s. w. In Garnison liegt das 1. Astrachan-Kosakenregiment. Die Stadt hat einen gemischten europ.-asiat. Charakter. Das wichtigste Gebäude ist der 1582 begonnene, 1692 beendete Kreml mit 2 Kathedralen, deren hauptsächlichste (der Uspenskij Sobor) 1602 erbaut und 1710 erneuert wurde. Außerdem sind vorhanden 28 griech.-kath. Kirchen, 2 Klöster, 6 armenisch-gregorianische Kirchen, 1 röm.-kath. Kirche und 2 Kapellen, 1 evang. Kirche, 1 sunnitische und 6 schiitische Moscheen, 2 Synagogen. Astrachan ist Sitz des Gonverneurs, des griech.-kath. Erzbischofs von und Jenotajewsk, eines armenisch-gregorianischen Erzbischofs und einer lamaitischen Vorsteherschaft. Es besitzt ein geistliches Seminar, je 1 Gymnasium für Knaben und Mädchen, 1 Realschule, l armenische Kreisschule, 3 mohammed. Medrese, 3 Mektebe sowie verschiedene Volksschulen, darunter solche für Armenier, Kalmücken, Tataren, 1 Theater, [* 19] 1 öffentliche Bibliothek (13968 Bde.), mehrere Krankenhäuser, 1 Irrenhaus, 4 Buchdruckereien, 4 Zeitungen. An Verkehrsanstalten sind vorhanden Post, Telegraph, [* 20] Börse (seit 1870), 4 Bauten, Zollamt und besonders der Hafen, der den gesamten Verkehr des innern Rußlands mit Centralasien, Persien, [* 21] Transkaukasien vermittelt. Es treffen jährlich etwa 1775 Schiffe [* 22] auf der Wolga und 4215 vom Meere her ein.
Der Wert der Einfuhr und Ausfuhr betrug 1889 30,44 Mill. Rubel. Die Haupteinfuhrartikel sind Baumwolle [* 23] und Früchte. Von den Gewerben der Stadt blühen am meisten die Fischerei [* 24] mit ihren Nebenzweigen, wie Kaviarbereitung, Thransiederei u. s. w., und der Gartenbau, namentlich Gemüse- und Weinbau. Letzterer, 1613 hier eingeführt, liefert jährlich etwa 1200 hl Wein. Ferner giebt es 5 Wattefabriken, 2 Färbereien, 3 Maschinenfabriken u. s. w., im ganzen (1885) 62 Fabrik- und Gewerbeanlagen.
Das alte Astrachan, tatar. Chadschi Tarchan, Adjasch-Tarchan, Chosi-Tarchan, Chosar, Aschtarakan, Zytrykan oder Sytrykan (bei den Italienern Citracano) genannt, lag etwa 11 km höher als die jetzige Stadt, auf dem sog. Scharenyj-Hügel. Auf dem jetzigen Platz befindet es sich nicht später als 1568. Im J. 1557 kam es schon in die Hände der Russen. 1561 wurde es ohne Erfolg von den Osmanen und Krimschen Tataren unter Selim II. bestürmt. Es hatte dann durch Plünderungen der Kosaken, Einfälle der Tataren und Erdbeben [* 25] zu leiden. 1667 wurde es vom Räuber Stenka Rasin eingenommen und niedergebrannt, Scheremetjew dämpfte hier 1705 einen Aufstand der Strelizen. Peter d. Gr. machte Astrachan zur Basis seiner Kriegsoperationen gegen Zentralasien, [* 26] welche Stellung es bis 1867 behielt, wo die Admiralität und der Kriegshafen von hier nach Baku verlegt wurden. Die von jeher große Bedeutung des Handelshafens ist in neuerer Zeit durch die Petroleumindnstrie in Baku und durch die Erbauung der Transkaspischen Eisenbahn noch mehr gestiegen.