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nur einen Teil ihres Unterhalts zu beschaffen vermögen. Bei ihnen tritt die Armenpflege nur ergänzend ein. Ausnahmsweise werden von der Armenpflege auch arbeitsfähige Personen berücksichtigt, wenn sie aller Bemühungen ungeachtet Arbeit nicht zu finden vermögen. Der Nachweis, daß die Bemühung vergeblich gewesen sei und daß Arbeitsscheu nicht vorliege, muß indes geführt sein, und überhaupt wird diese Art Unterstützung nur dann zugelassen, wenn infolge von ungünstigen Verhältnissen im Lande die Produktion daniederliegt. Doch auch in diesem Falle wird in manchen Ländern, z. B. in England, die unmittelbare Armenunterstützung nicht gewährt, sondern der Eintritt in ein Arbeitshaus (workhouse) gefordert (s. Arbeitshäuser). Ein sehr bedeutsamer Zweig der Armenpflege ist die Armenschulpflege (s. Armenschulen).
Die Bedingungen der Armenunterstützung und die Formen der Armenpflege werden am zweckmäßigsten durch eine Armenordnung bestimmt und geregelt. Dieselbe setzt fest, wer als arm anzusehen, welche Unterstützungen den einzelnen Klassen der Armen und wie sie gewährt werden sollen, welche Behörden an der Spitze der öffentlichen Armenpflege stehen, durch welche Organe (Armenpfleger, Armenkommissionen) die Bedürftigkeit ermittelt und die Armenunterstützung verteilt werden soll, wie die nötigen Mittel zu beschaffen sind, wer verpflichtet ist, einzelnen Armen (z. B. als Anverwandter, Berufsgenosse) zu Hilfe zu kommen, u. s. w.
Vielfache Nachahmung hat das zuerst in Elberfeld [* 2] durchgeführte System erfahren, das eine strenge Individualisierung der Armenpflege mit persönlicher Beratung und Wiederaufrichtung der einzelnen verarmten Personen anstrebt und die thätige Teilnahme der wohlhabenden Einwohner zu Gunsten ihrer notleidenden Mitbürger fordert. Elberfeld ist in verschiedene Armenbezirke und mehrere hundert Quartiere so eingeteilt, daß der einzelne Armenpfleger in der Regel nicht mehr als 4 Familien seine Thätigkeit zu widmen hat.
Dieses System bietet noch den großen Vorteil, daß die öffentliche Armenpflege sich in engste Beziehung zu der Verwaltung der privaten Wohlthätigkeitsanstalten und Vereine setzen kann. Die Kosten der öffentlichen Armenunterstützung werden entweder durch besondere Armensteuern (s. d.) aufgebracht oder von den Gemeinden oder dem Staate bestritten. Letzteres ist das Richtige. Besondere Armensteuern schwächen bei den Steuerzahlern den Trieb zur Privatwohlthätigkeit und erwecken bei den Armen den Gedanken eines persönlichen Rechtsanspruchs. Die Bezeichnung Armentare ist den Engländern entlehnt, welche die Kosten der Armenpflege vorzugsweise durch Armensteuern zu beschaffen pflegen.
Es betrugen die Kosten der öffentlichen Armenpflege in:
Jahr | England im ganzen Pfd. St. | England auf 1 Einw. Pfd. St. | Schottland im ganzen Pfd. St. | Schottland auf 1 Einw. Pfd. St. | Irland im ganzen Pfd. St. | auf 1 Einw. Pfd. St. |
---|---|---|---|---|---|---|
1876/80 | 7653874 | 0,31 | 881752 | 0,24 | 1073655 | 0,20 |
1881/85 | 8316411 | 0,31 | 886567 | 0,23 | 1268167 | 0,25 |
1886/90 | 8342928 | 0,30 | 887661 | 0,23 | 1382296 | 0,29 |
1891 | 8643318 | 0,29 | 880458 | 0,22 | 1405514 | 0,30 |
1892 | 8847678 | 0,29 | 912838 | 0,22 | 1411701 | 0,30 |
1893 | 9217514 | 0,31 | 926544 | 0,23 | 1402353 | 0,32 |
Die Zahl der Unterstützten war folgende in:
England:
Januar | Erwachsene, arbeitsfähige Arme | Sonstige Arme | Arme überhaupt | Auf 100 E. |
---|---|---|---|---|
1876/80 | 106592 | 665211 | 771803 | 3,08 |
1881/85 | 104661 | 687040 | 791701 | 2,96 |
1886/90 | 107065 | 705030 | 812095 | 2,82 |
1891 | 98794 | 676111 | 774905 | 2,60 |
1892 | 99534 | 654951 | 754435 | 2,56 |
1893 | 107178 | 669280 | 776453 | 2,61 |
(Juli) 93 949 | 651606 | 745555 | 2,50 | |
1894 | 116478 | 695963 | 812441 | 2,70 |
Mai | Registrierte Arme | Deren Angehörige | Arme überhaupt | Auf 100 E. |
---|---|---|---|---|
1876/80 | 62380 | 34811 | 97191 | 2,69 |
1881/85 | 59915 | 33507 | 93422 | 2,43 |
1886/90 | 58344 | 32937 | 91281 | 2,31 |
1891 | 57673 | 30610 | 38233 | 2,29 |
1892 Januar | 56903 | 30458 | 87362 | 2,15 |
1893 | 60914 | 32793 | 93707 | 2,29 |
1394 | 62087 | 33237 | 95324 | 2,31 |
Januar | Arme in Armenhäusern | Arme in Specialanstalten | Arme in offener Pflege | Arme überhaupt Auf 100 E. | |
---|---|---|---|---|---|
1876/80 | 50112 | 660 | 36155 | 86927 | 1,65 |
1881/85 | 52315 | 745 | 57683 | 110743 | 2,20 |
1886/90 | 46928 | 692 | 63364 | 110984 | 2,31 |
1891 | 42601 | 1102 | 63426 | 107129 | 2,29 |
1892 | 42018 | 1112 | 60709 | 103839 | 2,23 |
1893 | 42755 | 1109 | 59001 | 102865 | 2,23 |
1894 | 43685 | 1176 | 59170 | 104031 | 2,26 |
Im Deutschen Reiche weist die Armenstatistik auf Grund der Erhebungen vom J. 1885 (seitdem nicht wiederholt) folgende Zahlen auf:
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Die Privatarmenpflege wird sich, wenn sie wahrhaft wohlthätig wirken soll, immer den durch die staatliche und kommunale Armenpflege gegebenen Schranken anbequemen müssen, während diese ihr Augenmerk darauf zu richten hat, den engsten Zusammenhang mit der Privatwohlthätigteit und deren ausgiebigste Ergänzung zu suchen. Die amtliche Armenpflege muß sich auf das Dringendste beschränken, während doch darüber hinaus vieles wünschenswert erscheint, was nur durch freie Mildthätigkeit, wenn auch keineswegs durch blindes Almosengeben, erreichbar ist.
Ohne organisatorische Einrichtungen wird die Privatarmenpflege fast immer so gut wie wirkungslos bleiben. Dazu drängt schon der Umstand, daß für solche Einrichtungen sich Verhältnismäßig leichter Teilnahme im Volke erwecken läßt als für Almosenspenden. Bisher sind beispielsweise durch Privatwohlthätigkeit für die Jugend Krippen oder Säuglingsbewahranstalten, Kinderhorte, Sonntags-, Nachhilfe- und Erwerbsschulen, Anstalten zur Versorgung mit Schulbüchern und Bekleidung, Taubstummen- und Blindeninstitute, für erwachsene Leute Arbeits- und Arbeitsnachweisungsanstalten, Leih- und Rentenanstalten, Wasch- und Badehäuser, Rettungsinstitute und Vorschußkassen, Suppenanstalten, Einrichtungen zur billigen Beschaffung der Lebensbedürfnisse, Baugesellschaften zur Herstellung guter Wohnungen, für ältere Leute Alters- und Invalidenheime und andere Einrichtungen begründet worden.
In der Regel wirkt die Privatwohlthätigteit durch freie Vereine für bestimmte Zwecke; seltener sind allgemeine Armenpflegevereine. Außerdem beteiligen sich an ihr Vereine und Genossenschaften, und namentlich haben in neuerer Zeit auch in Deutschland [* 4] die kirchlichen Gemeinden eine eigene kirchliche Armenpflege, welche materielle Unterstützung mit sittlicher und religiöser Hebung [* 5] verbindet, hervorzurufen gesucht. So dürfte in dem Zusammenarbeiten des Staates und der Gemeinde mit der Kirche und der Privatwohlthätigkeit die Zukunft der Armenpflege liegen.
Aus der umfänglichen Litteratur über Armenwesen
sind hervorzuheben: de Gérando, De la bien-faisance publique
(4 Bde., Par. 1839);
Aschrott, Das englische Armenwesen
(Lpz. 188ss);
ders., und Wohlthätigkeit in den Vereinigten Staaten [* 6] von Nordamerika [* 7] (Jena [* 8] 1889);
Ratzinger, Geschichte der kirchlichen Armenpflege (2. Aufl., Freiburg [* 9] 1884);
Uhlhorn, Die christl. Liebesthätigkeit (Stuttg. 1882, 1884, 1890);
Böhmert, Das in 77 deutschen Städten u. s. w. (2 Bde., Dresd. 1880-88);
ders., Die Armenpflege (Gotha [* 10] 1690);
Roscher, System der Armenpflege und Armenpolitik (Bd. 5 des «Systems der
Volkswirtschaft», 2. Aufl., Stuttg. 1894"; die Artikel Armenwesen
, Armenstatistik und Armenlast im «Handwörterbuch
der Staatswissenschaften», Bd. 1 (Jena 1890), wo auch ausführliche Litteraturübersicht.