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Müßigganges durch die Unmöglichkeit, in jeder Gemeinde Arbeitshäuser und Arbeitsgelegenheiten zu beschaffen. Aus der Erkenntnis dieser Übelstände erwuchs das neuere engl. Armenrecht, beruhend auf dem Gesetze vom (nach der engl. Citierweise 4 u. 5. Will. IV. c. 76),. wodurch in der Hauptsache vorgeschrieben wird:
1) Herstellung einer staatlichen Centralbehörde zur Überwachung der Gemeindearmenpflege mit der Befugnis, unbeschadet der Behandlung des einzelnen Falles, allgemein bindende Verwaltungsvorschriften zu erlassen.
2) Den Mittelpunkt der Ortsarmenpflege bildet das Arbeitshaus (work-house), so daß die Aufnahme in dasselbe die Vorbedingung der Unterstützung zu bilden hat und Nichtinsassen (durch sog. out-door relief) nur ausnahmsweise Hilfe geleistet wird.
3) Die Zentralbehörde, die späterhin den Titel eines «Armenrechtshofs» (Poor Law Board) erhielt, kann zur Herstellung eines gemeinsamen Arbeitshauses Verbände aus mehrern Gemeinden (sog. unions) bilden und die Geldbeiträge der einzelnen Gemeinden zu Zwecken der Armenpflege vereinigen, späterhin (1871) ist dann außerdem zur Entlastung der Centralarmenbehörde ein Zwischenglied geschaffen worden zwischen der Staatsstelle und der Lokalverwaltung: die kollegialisch zusammengesetzte Ortsarmenbehörde (Local Government Board), die über bezahlte Beamte verfügt, durch einen von der Krone ernannten Präsidenten geleitet wird und, abgesehen von der Fürsorge für die Armen, zahlreiche andere Geschäfte wahrzunehmen hat (Führung der Civilstandsregister, Maßregeln der öffentlichen Gesundheitspflege, Entwässerungsanlagen, Wasch- und Badeanstalten u. s. w.). Schottland und Irland haben ihre eigene, von der englischen verschiedene Armengesetzgebung behauptet.
Läßt man nun dasjenige beiseite, was in besondern engl. Verhältnissen wurzelt, so dürfen als bezeichnende Merkmale der englischen Armengesetzgebung folgende Punkte hervorgehoben werden: Zunächst die Einführung des Abschreckungsprincips, beruhend auf dem Arbeitshaussystem. Die strenge Durchführung einer harten Zucht, die sich einer Zuchthausordnung annähert, bewirkt eine Verminderung der Armenunterstützungsgesuche. Nur in äußersten Notfällen sind in England hilfsbedürftige Personen bereit, ihre persönliche Freiheit daranzugeben.
Zwar wird Personen über 60 Jahren eine mildere Behandlung schon darin zu teil, daß Ehegatten im Arbeitshause zusammenbleiben dürfen; doch überwiegt der Grundzug der Strenge. Die geschlossene Armenpflege wurde immer mehr auf das Arbeitshaus beschränkt. Das Workhouse war für die drei Klassen der Unterstützungsbedürftigen bestimmt: für die Armenkinder, für die arbeitsfähigen und arbeitsunfähigen Armen. Neuerdings hat man jedoch für bestimmte Klassen von Armen besondere Anstalten geschaffen. Zunächst (seit 1844) für die Kinder durch Errichtung von Distriktsschulen; seit Beginn der sechziger Jahre sucht man auch die armen Kranken in eigenen Anstalten unterzubringen; endlich hat man verschiedentlich für die sog. Casual Paupers gleichfalls besondere Anstalten begründet oder doch besondere Abteilungen der Workhouses für dieselben eingerichtet.
In der Schweiz [* 2] bildet ebenfalls die Reformation einen Wendepunkt im Armenwesen. Die Aufhebung der Klöster und die Säkularisation ihres Vermögens und zahlreicher Stiftungen entzog der bisherigen, überwiegend kirchlichen Armenpflege die Mittel. So erwuchs auch hier allmählich eine Gemeindearmenpflege. - Der Bund beteiligt sich weder mit direkten Leistungen noch mit Zuschüssen. Die Bundesgesetzgebung hat auch nur insoweit eingegriffen, als es sich um Sicherstellung der Niederlassungsfreiheit handelte.
Die der großen Mehrzahl der Kantone beruht im übrigen auf der deutschrechtlichen Auffassung, wonach die Fürsorge für Hilfsbedürftige zu den Aufgaben der Gemeinden und örtlichen Korporationen gehört. Demgemäß sind die Leistungen innerhalb gewisser durch die Gesetzgebung bezeichneter Grenzen [* 3] als obligatorische formuliert. Der obligatorische Charakter zeigt sich jedoch nur in einer öffentlich rechtlichen Zwangspflicht; ein im Rechtswege geltend zu machendes Recht auf Fürsorge steht den Verarmten nicht zu.
In Österreich [* 4] wurde unter Josephs II. Regierung eine Reform des Armenwesens durchgeführt. Jetzt, auf Grund des Gesetzes vom erscheint das Heimatsrecht als Grundlage des Anspruchs auf öffentliche Armenversorgung. Nur Staatsbürger können das Heimatsrecht in einer Gemeinde erwerben, aber jeder Staatsbürger soll in einer Gemeinde heimatsberechtigt sein. Die Pflicht der Gemeinde zur Armenversorgung ist nur eine subsidiäre. Sie tritt zunächst nur insoweit ein, als sich der Arme den notwendigen Lebensunterhalt nicht mit eigenen Kräften verschaffen kann und nicht dritte Personen nach dem Civilrecht oder andern Gesetzen zur Versorgung des Armen verpflichtet sind. Gelangt der Arme später zu Vermögen, so ist er der Gemeinde gegenüber ersatzpflichtig. Das geltende Heimatsgesetz schließt die Erwerbung des Heimatsrechts durch Ersitzung aus; die weitaus häufigste Erwerbsart ist die durch Geburt. Die Feststellung des Heimatsrechts, die jedesmal bei eintretender Armenversorgung erforderlich ist, bereitet oft die größten Schwierigkeiten. Gerade nach dieser Seite ist eine Reform der in Österreich geboten.
Deutschland. [* 5] Nur in einzelnen mittelalterlichen Städteordnungen finden sich Anfänge einer kommunalen Armenpflege überliefert. Ebenso haben die Reichspolizeiordnungen des 16. Jahrh. für die positive Seite der Armenpflege nichts Nachhaltiges geschaffen; vielmehr verknüpft sich die Armengesetzgebung mit der landespolizeilichen Fürsorge der Regierungen und mit dem staatlichen Wohlfahrtszwecke, als dessen berufene Pfleger sich die Fürsten seit dem Beginne des 17. Jahrh. allgemein betrachteten. In Preußen [* 6] bildete das Edikt Friedrichs II. vom den Ausgangspunkt einer im Preuß.
Landrechte vorgezeichneten Armengesetzgebung. Durch das Landrecht sind Stadt- und Dorfgemeinden für verpflichtet erklärt, ihre gemeindeangehörigen Armen zu verpflegen, aushilfsweise sorgt die Gemeinde, zu deren Lasten der Verarmte zuletzt beitrug. Ihre Ergänzung erhielten die landrechtlichen Grundsätze durch zwei unter dem ergangene Gesetze, von denen das eine das Niederlassungswesen regelt. Im Vergleich zu England wahrt die preuß. Gesetzgebung viel besser den ehrenamtlichen Charakter der in der Armenpflege thätigen Organe. Sie ermöglicht durch größere Decentralisierung der Verwaltung auch eine bessere Handhabung der Armenpflege, indem bei Spendung der Almosen die persönlichen Verhältnisse des Hilfsbedürftigen im einzelnen Falle genau untersucht und gewürdigt werden. Sie beschränkt endlich die allgemein bindende Ordnung des Gesetzes auf das notwendige Maß, ohne die freie Bewegung der Verwaltungsorgane übermäßig zu behindern. ¶
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Anderer-895 seits scheint freilich aus dem oft beklagten Überhandnehmen der Landstreicherei in Deutschland zu folgen, daß eine gute Armenpflege eines auf Abschreckung der Müßiggänger berechneten Zusatzes nicht entbehren kann. Hierauf beziehen sich die Bestimmungen des Deutschen Strafgesetzb. §. 361, Nr. 3 u. Nr. 5: Wer als Landstreicher umherzieht und wer sich dem Spiel, Trunk oder Müßiggang dergestalt hingiebt, daß er in einen Zustand gerät, in welchem zu seinem Unterhalt oder zum Unterhalt derjenigen, zu deren Ernährung er verpflichtet ist, die Vermittelung der Behörde in Anspruch genommen werden muß, wird mit Haft bestraft. Bei der Verurteilung zur Haft kann erkannt werden, daß der Verurteilte nach verbüßter Strafe der Landespolizeibehörde zu übergeben sei. Die Landespolizeibehörde erhält dadurch die Befugnis den Verurteilten zu 2 Jahren in ein Arbeitshaus unterzubringen oder zu gemeinnützigen Arbeiten zu verwenden. Gegen einen Ausländer kann Verweisung aus dem Deutschen Reiche verfügt werden. Die wesentlichen Gebiete der Armengesetzgebung sind jetzt folgende:
1) Planmäßige Fürsorge für außerordentliche Notfälle in solchen Gegenden, in denen vorübergehend oder ständig die Bevölkerung (wie durch Überschwemmungen und Mißwachs) der Gefahr der Verarmung ausgesetzt ist. In solchen allgemeinen Notstandsfällen kann nicht bezweifelt werden, daß der Staat die unzulänglich gewordene Kraft [* 8] der Gemeinden zu ergänzen hat.
2) Feststellung der zur Armenpflege verpflichteten Organe und der ihnen zu überlassenden Einnahmequellen.
3) Gesetzliche Ordnung des Niederlassungswesens im Sinne billiger Ausgleichung zwischen freier wirtschaftlicher Bewegung und den durch den unbeschränkten Zustrom hilfloser Personen bedrohten Gemeindeinteressen.
4) Staatliche Aufsicht über Privatwohlthätigkeitsstiftungen, deren planlose Verwaltung, wie die engl. Erfahrungen lehren, so große Mißstände hervorzurufen vermag, daß man sich in England 1853 veranlaßt fand, dem Staate ein bestimmtes Aufsichtsrecht über zweckwidrige Privatstiftungen einzuräumen.
5) Begründung von Kreditanstalten, welche durch Ermöglichung von Darlehen den kleinen Mann gegen Verarmung und wucherische Ausbeutung schützen. Im mittelbaren Zusammenhange mit der Armengesetzgebung stehen diejenigen Veranstaltungen, welche entweder, wie die Sparkasseneinrichtungen, den wirtschaftlichen Erwerbsbetrieb heben sollen, oder gewissen Klassen von armen Personen eine ihren leiblichen Bedürfnissen entsprechende sachverständige oder technische Behandlung sichern sollen: das Taubstummen-, Blinden- und Irrenwesen. Überall ergiebt sich für den neuern Staat, der den Grundsatz des Schulzwanges anerkannt hat, die Notwendigkeit, die Versorgung der Waisen teils nach den Gesichtspunkten der Armenpflege, teils im Sinne vernünftiger Wirtschaftspolitik und Pädagogik zu ordnen.
Eine besondere Schwierigkeit umgiebt die in Staatenverbindungen, die ein einheitliches wirtschaftliches Gebiet darstellen. In ihnen kommt es darauf an, die Grundsätze der Gewerbefreiheit und der Freizügigkeit, die sich auf das Gesamtstaatsgebiet erstrecken, in Einklang zu bringen mit den Grundsätzen der den einzelnen Gemeinden in verschiedenen Staaten obliegenden Unterstützungspflicht. Das Deutsche Reich [* 9] suchte diese Schwierigkeiten durch das in allen Staaten mit Ausnahme von Bayern [* 10] und Elsaß-Lothringen [* 11] geltende Gesetz vom (abgeändert zu lösen. Um einen gemeinsamen Grundsatz gegenüber der Verschiedenheit der in den Einzelstaaten zu gewinnen, ward der Unterstützungswohnsitz (s. Heimatsrecht) nach der Regel geschaffen, daß jeder hilfsbedürftige Deutsche vorläufig von demjenigen Ortsarmenverbande unterstützt werden muß, in dessen Bezirke er sich bei dem Eintritt seiner Hilfsbedürftigkeit befindet, diese Auslage aber von demjenigen Verbande zu erstatten ist, in dem der Unterstützungswohnsitz durch Familienangehörigkeit (Ehefrauen, Kinder) oder durch zweijährigen ununterbrochenen Aufenthalt erworben wurde.
Die Krankenkosten werden jedoch für den Zeitraum von 13 (bisher 6) Wochen von der Armenpflege desjenigen Ortes getragen, an dem vermögenslose, dort gegen Lohn in Arbeit oder Dienst stehende Personen oder Lehrlinge erkranken. Wird die Unterstützungspflicht zwischen mehrern Armenverbänden streitig, so entscheiden darüber, je nachdem diese demselben Staate oder verschiedenen angehören, entweder die Landesbehörden oder das «Bundesamt für das Heimatswesen», letzteres auch bei Berufung.
Eine größere Anzahl deutscher Einzelstaaten hat jedoch seine Armenstreitsachen freiwillig an die letztere Behörde als oberste Instanz übergehen lassen. Gegen die auf den Unterstützungswohnsitz bezügliche deutsche Gesetzgebung ist vielfach Beschwerde erhoben worden; doch gelang es bisher nicht, ein besseres System nachzuweisen. Die Novelle vom hat nur Einzelheiten geändert. Das bayr. Armenrecht beruht auf dem Heimatsprincip, das Armenrecht in Elsaß-Lothringen auf dem ältern franz. System.
Danach ist die örtliche Armenpflege freiwillig: die Bezirksarmenpflege beruht teils auf freiwilliger Übernahme, teils auf gesetzlicher Verpflichtung. Frankreich selbst hat durch Gesetz vom eine umfassendere Krankenpflegeverpflichtung geschaffen. –
Vgl. Emminghaus, Das Armenwesen und die in europ. Staaten (Berl. 1870);
Verhandlungen des 11. Kongresses deutscher Volkswirte vom (ebd. 1870);
Rocholl, System des deutschen Armenpflegerechts (ebd. 1873);
Seydel, Reichsarmenrecht (in Hirths «Annalen», 1877);
Georg Meyer, Lehrbuch des deutschen Verwaltungsrechts, Teil 1 (2. Aufl., Lpz. 1893);
Artikel Armenwesen im «Handwörterbuch der Staatswissenschaften», Bd. 1 (Jena [* 12] 1890);
Höinghaus, Die deutschen Reichsgesetze über Armenwesen und Unterstützungswohnsitz (3. Aufl., Berl. 1894);
die Kommentare zum Unterstützungswohnsitzgesetz von F. Arnold (ebd. 1872), von Rönne (ebd. 1879), Krech (ebd. 1894) u. a.; Seydel, Das bayr. Heimatsrecht (in Hirths «Annalen», 1886, S. 720 fg.);
Rasp, Das bayr. Gesetz über öffentliche Armen- und Krankenpflege vom (Münch. 1893);
Scharpff, Handbuch des Armenrechts (für Württemberg; [* 13] Stuttg. 1894 fg.);
Münsterberg, [* 14] Die deutsche Armengesetzgebung (Lpz. 1887);
Nicholls, History of the English poor law (2 Bde., Lond. 1854);
Reitzenstein, Die Armengesetzgebung Frankreichs (Lpz. 1881);
Aschrott, Das engl. Armenwesen (ebd. 1886).