Organisationen sowie Wohlfahrtseinrichtungen der Arbeitgeber ergänzend eintreten, und alle Lücken ausfüllen, welche die
Zwangsversicherung gelassen hat.
Die Lasten, welche die der deutschen Industrie und Landwirtschaft auferlegt, sind schwer und werden in der Folgezeit immer
höher anwachsen. Wie sie sich im einzelnen verteilen, bleibt abzuwarten. Das Gesetz bestimmt nur, wen
sie in erster Linie treffen; ob und inwieweit eine Überwälzung vom Arbeiter auf den Arbeitgeber oder umgekehrt, durch Hinderungen
der Lohnhöhe, oder vom Produzenten auf den Konsumenten, durch Änderungen der Warenpreise, vor sich gehen kann, wird sich
nach den wechselnden wirtschaftlichen Machtverhältnissen regeln.
In gewissem Grade beeinträchtigt die Arbeiterversicherung auch die nationale Produktion gegenüber dem
Ausland. Einige Staaten sind jedoch dem Beispiele Deutschlands schon gefolgt, z. B. Österreich, die Schweiz, Belgien, Frankreich,
Schweden und Norwegen (s. Invaliditäts- und Altersversicherung, Krankenversicherung, Unfallversicherung). Ob die Arbeiterversicherung auch die
innerliche Überwindung der Socialdemokratie herbeiführen wird, muß dahingestellt bleiben. Auf alle Fälle sind ihre segensreichen
Folgen für die arbeitenden Klassen nicht zu unterschätzen.
Litteratur. Über Alters- und Invalidenkassen für Arbeiter (in den «Schriften des Vereins für Socialpolitik», Heft 5, Lpz. 1874);
Brentano, Die Arbeiterversicherung gemäß der heutigen Wirtschaftsordnung (ebd. 1879);
ders., Der Arbeiterversicherungszwang (Berl. 1881);
Rosin, Das Recht der Arbeiterversicherung, Bd. 1 in 2 Abteil.,
ebd. 1890);
Die Arbeiter-Versorgung, Centralorgan für die Arbeiterversicherung (1. bis 12. Jahrg., ebd. 1884-95);
Bornhak,
Das deutsche Arbeiterrecht (Münch. 1892);
Görres, Handbuch der gesamten Arbeiter-Gesetzgebung des Deutschen Reichs (Freib. i. Br.
1892-93);
Piloty, Die Arbeiterversicherungsgesetze des Deutschen Reichs (2 Bde., Münch. 1893);
Weyl, Lebrbuch des Reichsversicherungsrechts
(Lpz. 1894);
Menzel, Die Arbeiterversicherung nach österr.
Recht (ebd. 1893); Mandl, Österr. Gesetze
über Arbeiterversicherung (Tl. 1-3, Wien 1893-94).
die von der Privatspekulation, von Fabrikanten, wohlthätigen Vereinen oder öffentlichen Behörden
errichteten Wohnstätten für Arbeiter. Es unterliegt keinem Zweifel, daß es für die Hebung der untern Klassen außerordentlich
wichtig ist, ihnen gesunde und billige Wohnungen zu verschaffen. Schlechte, feuchte Wohnungen mit mangelhafter
Heizung, Lüftung und Beleuchtung schädigen die Gesundheit. Übervölkerte Wohnungen werden niemals ein behagliches Heim sein,
wo nach harter Arbeit ein glückliches Familienleben gedeihen kann.
Die heutigen Wohnungszustände, namentlich in den Großstädten und heranwachsenden Fabrikstädten, aber auch in Mittel- und
Kleinstädten zeigen uns dagegen mehr überfüllte und mehr ungesunde Wohnungen. Die Ursachen der Wohnungsnot
aber liegen in dem Mißverhältnis zwischen Einkommen und Miete. Die Arbeiter verdienen nicht genug, um eine angemessene Wohnung
bezahlen zu können, die Mieten aber steigen, weil die Bodenpreise alljährlich in die Höhe gehen. Da eine andere Einkommensverteilung
anzubahnen nicht leicht möglich ist, muß denjenigen Faktoren entgegengewirkt werden, die eine Verteurung
der Mieten bedingen.
Arbeitgeber, gemeinnützige Gesellschaften und die Gesetzgebung müssen Hand in Hand gehen, um die schlimmsten Wohnungsmißstände
zu beseitigen. Einzelne große Arbeitgeber haben Anerkennenswertes geleistet. So hat die königl. Bergwerksdirektion in
Saarbrücken seit 1842 an Bergleute zur Erbauung von Wohnhäusern Darlehen (bis 1891 im ganzen 4 268 735 M.
seitens des Staates, 2 062 117 M. seitens der Knappschaftskasse), die, anfangs mit 4 Proz. verzinslich,
später unverzinslich, in 10 Jahren in Monatsraten zurückzuzahlen sind, und außerdem Bauprämien (bis 1891: 3 875 595 M.)
gewährt.
Krupp in Essen hatte bis 1891 3720 Arbeiterfamilienwohnungen hergerichtet, in denen 24 193 Personen wohnten.
Die Mietpreise schwankten zwischen 60-200 M. Ferner stellte Krupp 1889 500000 M. zu Darlehen an Bedienstete und Arbeiter seiner
Werke, die sich ein eigenes Wohnhaus erwerben wollen, zur Verfügung gegen 3 Proz. Zinsen und gegen Rückzahlung in Raten, welche
die üblichen Mietpreise nicht wesentlich überschreiten. Mit diesem Kapital waren bis Ende 1891 über 3700 Arbeiterwohnungen gebaut,
die von etwa 26000 Personen bewohnt sind. Auch andere große Unternehmungen haben für die Herrichtung gesunder Arbeiterwohnungen gesorgt,
so die königl. Munitionsfabrik Spandau (s. Mädchenheim), die Höchster Farbwerke, D. Peters & Co. in Neviges bei
Elberfeld. Der preuß. Regierung wurden Mai 1895 vom Landtag 4 Mill. M. bewilligt zur Verbesserung
der Wohnungsverhältnisse von Arbeitern in Staatsbetrieben und gering besoldeten Beamten.
Weniger empfehlenswert sind Baugesellschaften auf spekulativer Grundlage, deren Wirksamkeit übrigens nicht nur dem Arbeiter,
sondern auch kleinen Beamten, Handwerkern u. s. w. zu gute kommt. Unter ihnen sind zu
nennen: die Gladbacher Aktien-Baugesellschaft (1869-90 387 Häuser erbaut), Barmer Baugesellschaft für Arbeiterwohnungen (1872-90 242 Häuser
erbaut), der Dresdener Bauverein für Arbeiterwohnungen (bis 1891 16 villenartige Häuser [8 Doppelhäuser] erbaut und Bauland für etwa 60 Häuser
gekauft).
Zweckentsprechender sind zur Beschaffung von Arbeiterwohnungen die gemeinnützigen Gesellschaften mit Wohlthätigkeitscharakter,
wie sie nach dem Vorgange Englands seit den sechziger Jahren häufiger in Deutschland begründet wurden.
Die älteste derartige ist die 1848 in Berlin gegründete. Frankfurt a. M., Stuttgart, Hamburg, Pforzheim folgten diesem Beispiel.
Auch gehören hierher Stiftungen, wie sie der Amerikaner Peabody in London, Professor vom Rath 1889 in Wilhelmsruhe bei Köln
gemacht haben, die Reesche Stiftung zu Hamburg, die Mayersche in Dresden, der vom Pastor von Bodelschwingh zu Bielefeld begründete
Verein. Desgleichen ist der von Arbeitern (nach dem Vorbild der Building Societies in England) begründeten Arbeiterbaugenossenschaften
zu gedenken, wie sie in Berlin, Hannover, Flensburg, Naumburg, München, Halle mit ungleichem und im ganzen
nicht bedeutendem Erfolge bestehen.
Am meisten Abhilfe läßt sich von der Gesetzgebung erwarten, weniger in der Richtung eines Erlasses von Wohnungsgesetzen,
obwohl diese nicht ganz ohne Wert sein können. Als neuere Beispiele können die Verordnungen von Arnsberg und Düsseldorf von
1879, von Chemnitz aus dem J. 1885 genannt werden. Sofern sie darauf herauskommen, ein gewisses Mindestmaß
von Luftraum für jede Wohnung festzusetzen, wird ihre Durchführung mit Zwangsmitteln fraglich. Besser sind allgemeine Normalvorschriften
für den Mietvertrag, Verbote, ungesunde Wohnungen zu vermieten, sanitäre Kontrollen
mehr
u. dgl. m. In dieser Richtung ist das Großherzogtum Hessen mit einem beachtenswerten Gesetze vom 1. Okt. 1893 vorangegangen.
Wirksamer aber als diese Anordnungen werden diejenigen sein, die eine weiträumige, freie Bebauung sichern und eine übertriebene
Ausnutzung des Grund und Bodens zu hindern suchen. Es muß Verallgemeinerung der Zwangsbauordnung angestrebt
werden, wie sie schon jetzt in mehrern deutschen Städten, z. B. Frankfurt a. M., besteht.
Unter den Arbeiterwohnungen unterscheidet man: arbeiterwohnungen Großstädtische Mietshäuser. Während in
Kasernen sich die Wohnungen an lange gemeinschaftliche Flure, also in wagerechtem Sinne aneinanderreihen, gruppieren sie sich
im großstädtischen Mietshause um möglichst zahlreiche Treppenhäuser, also im lotrechten Sinne übereinander.
Kasernenartiger Bau eignet sich daher nur zu Herbergen, wie eine solche das Arbeiterkost- und Logierhaus des «Bochumer Vereins
für Bergbau und Gußstahlfabrikation» (s. Tafel: Arbeiterwohnungen I,
Fig. 9) zur Hälfte darstellt.
Das Mietshaus dagegen eignet sich wegen der schärfern Absonderung der Zugänge zu Familienwohnungen.
Fig. 1 u. 2 zeigen Aufriß
und Grundriß eines berühmten Londoner Arbeiterhauses, das zwar als Kaserne bezeichnet ist, dem Mietshause aber näher steht.
b. Kleinere Mietshäuser. Diese empfehlen sich als Reihenhäuser in Industriestädten, wo der Baugrund schon zu teuer geworden
ist, um noch eine offene Bebauungsweise zulassen zu können; bei diesen werden in jedes Stockwerk eine
oder mehrere Wohnungen gelegt, die aus Stube, Küche und Abort oder noch aus einem weitern, event. zur Abgabe an Aftermieter
bestimmten Schlafraum bestehen. (S. die Beispiele aus Essen, Taf. I,
Fig. 5-8, und aus «Adlershof»
bei Berlin, Taf. I,
Fig. 3 u. 4.) c. Familienwohnhäuser.
Diese stellen das Ideal des Arbeiterhauses dar und sind zur Erwerbung durch den Arbeiter bestimmt; sie
werden auf städtischem Bebauungsgebiete ebenfalls in geschlossenen Reihen, in ländlichen Gegenden als Einzelhaus errichtet.
Zwei derartige Häuser mit den Giebelwänden aneinander gesetzt bilden ein Doppelhaus, welches mehr Schutz gegen Wind und
Wetter gewährt. Das eine Zeit lang sehr beliebt gewesene sog. Vierfamilienhaus,
über einem rechteckigen, gevierteilten Grundrisse errichtet, hat sich nicht bewährt, da es Licht und Schatten zu ungleich
verteilt.
Das Familienhaus ist entweder derart angeordnet, daß die Wohnstube im Erdgeschoß, die Schlafstuben im Obergeschoß sind
(so in Plaue, s. Taf. II,
Fig. 1-3; in
Fig. 3 bezeichnen
dd Flure mit Sommerfeuerung, in
Fig. 2 gg Abort mit Oberlicht), wobei dann zwei Bauten unter einem Dach
vereint werden; oder beide Wohnungen verschränken sich im Erdgeschoß so ineinander, daß sie ein Gebäude bilden, dessen
Obergeschoß für Aftermieter bestimmt ist (so in Hamburg-Schiffbek, mit jenseits der Straße liegendem Garten und
Stall, Taf. II,
Fig. 7-9); oder die Anordnung ist so, daß zwei Wohnungen im Erdgeschoß, eine im Dachgeschoß sich befinden
(so in Bielefeld, Taf. II,
Fig. 4-6). Wichtig ist für alle derartige Häuser
die Zugabe eines kleinen Gartens.
Mehrfach hat man auch versucht, der Arbeiterkolonie durch künstlerische Anlage der Gärten ein schmuckes
Ansehen zu geben. So im Agnetapark zu Delft (Taf. II,
Fig. 10, worin A
ein Kosthaus, B Verkaufshaus mit Bäckerei, C die Wohnung des Direktors, D die Gemeindeschule, E ein Vereinshaus, F Kinderspielplatz,
G Musikzelt, H Bootsschuppen,
I noch verfügbare Bauplätze bezeichnet). Wo aber der Raum hierfür nicht
vorhanden ist, wie bei den großstädtischen Mietshäusern, müssen durch Zusammenlegung mehrerer Baustellen große, Luft
und Licht spendende Höfe geschaffen werden.
Litteratur. Ein reiches Material an Zeichnungen ausgeführter Arbeiterwohnhäuser bieten die Schriften des Vereins Concordia
in Mainz.
Vgl. ferner Penot, Les cités ouvrières de Mulhouse (Mülhausen 1867);
Staub, Das Arbeiterquartier in
Kuchen bei Geislingen (Stuttg. 1868);
Manega, Die Anlage von Arbeiterwohnungen (3. Aufl., von Gründling, Weim.
1895);
von Behr-Schmoldow, Das Haus des ländlichen Arbeiters (Berl. 1875);
Schmölcke, Das Wohnhaus des Arbeiters (Bonn 1883);
Baukunde des Architekten, Abschnitt: Arbeiterwohnhäuser (Berl. 1884);
von Bodelschwingh, Der Verein Arbeiterheim zu Bielefeld
(Lpz. 1886);
Nathan, Die Wohnungsfrage und die Bestrebungen der Berliner Baugenossenschaft (Berl. 1890);
Aschrott, Errichtung und Verwaltung großer Arbeiterwohnhäuser in Berlin (Lpz. 1890);
Aster, Entwürfe zum Bau billiger Häuser
für Arbeiter und kleine Familien (8. Aufl., Gera 1894);
Die von der Vereinigung Berliner Architekten veröffentlichten Verhandlungen
über die Frage der in Berlin (Berl. 1891);
Malachowski, Anlage, Einrichtung und Bauausführung ländlicher
Arbeiterwohnungen (ebd. 1894).
Mehr die theoretische und ökonomische Seite beleuchten: von der Goltz, Ländliche Arbeiterwohnungen (Königsb. 1865);
Sax, Die Wohnungszustände
der arbeitenden Klassen und ihre Reform (Wien 1869);
Ruprecht, Die Wohnungen verarbeitenden Klassen in London (Gött. 1884);
Reichardt,
Die Grundzüge der Arbeiterwohnungsfrage (Berl. 1885);
Die Wohnungsnot der ärmern Klassen in deutschen
Großstädten (in den «Schriften des Vereins für Socialpolitik», Heft 30, 31, 33, Lpz. 1886-87);
Trüdinger, Die Arbeiterwohnungsfrage
(Jena 1888);
Lange, Wie organisiert man eine gemeinnützige Bauthätigkeit? (Lübeck 1890);
Kraft, Arbeiterhäuser u. s. w.
(Wien 1891);
Weber, Wohnungen und Sonntagsbeschäftigungen der deutschen Arbeiter (Lpz. 1892);
von Mangoldt,
Aus zwei deutschen Kleinstädten (Jena 1894);
Eberstedt, Städtische Bodenfragen (Berl. 1894).