mehr
Arbeiter; b. für die Unfallversicherung die über das ganze Reich sich erstreckenden Berufsgenossenschaften (s. d.); c. für die Invaliditäts- und Altersversicherung die Versicherungsanstalten, territorial gegliederte Verwaltungskörper. Neben diesen erscheinen als weitere Träger [* 2] der Arbeiterversicherung, insbesondere der Unfallversicherung, auch das Reich, die Bundesstaaten und die größern Gemeindeverbände (Provinzen, Kreise) [* 3] für die von ihnen betriebenen wirtschaftlichen Unternehmungen und Verwaltungszweige. Auch sind einige große Eisenbahn-Pensionskassen und ähnliche Kasseneinrichtungen neben der Invaliditäts- und Altersversicherung zugelassen.
Der Kreis [* 4] der Versicherungspflichtigen Personen ist für die einzelnen Zweige der Arbeiterversicherung verschieden gezogen. Die Kranken- und Unfallversicherung wurde zunächst nur für die Masse der industriellen Arbeiter eingeführt, später nach und nach auf Transportbetriebe, Land- und Forstwirtschaft, Banken und Reederei ausgedehnt; gewisse Arbeitergruppen, insbesondere die land- und forstwirtschaftlichen, können durch ortsstatutarische Bestimmung einer Gemeinde oder eines weitern Gemeindeverbandes dem Krankenversicherungszwang unterworfen werden.
Die Invaliditäts- und
Altersversicherung hingegen hat die gesamte männliche und weibliche Arbeiterbevölkerung einschließlich
der Dienstboten ergriffen. Den Gegenstand der Arbeiterversicherung bilden:
arbeiterversicherung bei
der
Kranken- und Begräbnisversicherung die Gewährung freier ärztlicher Behandlung und Arznei, unter Umständen
Verpflegung
in einem
Krankenhause, ferner von Krankengeld an die durch Erkrankung erwerbsunfähigen Mitglieder und an Wöchnerinnen, und
von Sterbegeld an die Hinterbliebenen derselben; die Leistungen können auch auf
Angehörige der Kassenmitglieder erstreckt
werden.
Die Unterstützungsdauer beträgt mindestens 13 Wochen; b. bei der Unfallversicherung die Fürsorge für die durch Betriebsunfälle Verletzten und deren Hinterbliebene, und zwar Ersatz der Kosten des Heilverfahrens von der 14. Woche an (bis dahin fallen dieselben der Krankenversicherung zur Last) und Gewährung einer Rente an den Verunglückten nach Maßgabe der durch den Unfall verursachten Verminderung seiner Erwerbsfähigkeit, im Sterbefall Ersatz der Beerdigungskosten und Gewährung einer in Prozenten des Jahresarbeitsverdienstes des Verunglückten abgestuften Rente an die Witwe, die Waisen und unter Umständen die Angehörigen desselben; c. bei der Invaliditäts- und Altersversicherung Gewährung einer Invalidenrente bei dauernder Erwerbsunfähigkeit und einer Altersrente nach zurückgelegtem 70. Lebensjahre, über die Höhe der zu leistenden Beiträge und der zu gewährenden Renten s. Arbeitgeber, Invalidenrente, Altersrente.
Über die
Ansprüche der Versicherten auf
Unfall-, Invaliden- und
Altersrente entscheiden besondere aus
Arbeitgebern und -Nehmern
gebildete
Schiedsgerichte, gegen deren
Urteil Rekurs an das Reichsversicherungsamt (s. d.) zugelassen ist. An der
Verwaltung sind ebenfalls
Arbeitgeber und Versicherte beteiligt, und zwar bei der
Krankenversicherung in
dem Verhältnis von 1:2, bei der Invaliditäts- und
Altersversicherung in dem Verhältnis von 1:1, und auch bei der
Unfallversicherung
ist den Versicherten durch gewählte
Vertreter der
Arbeiter Mitwirkung an der
Verwaltung eingeräumt.
Die Auszahlung der Renten erfolgt durch Vermittelung der Post. An der Durchführung und Beaufsichtigung der Versicherungseinrichtungen sind zahlreiche Verwaltungsbehörden beteiligt, insbesondere das Reichsversicherungsamt und die für einzelne Staaten (Bayern, [* 5] Baden, [* 6] Hessen [* 7] u. s. w.) errichteten Landesversicherungsämter. Mit ersterm ist ein besonderes, namentlich der Invaliditäts- und Altersversicherung und statist. Zwecken gewidmetes Rechnungsbureau verbunden.
Dies ist in großen Zügen das Bild des heutigen Standes der Arbeiterversicherung im Deutschen Reich. Mit der Invaliditäts- und Altersversicherung hat sie ihren vorläufigen Abschluß gefunden. Die Witwen- und Waisenversicherung, für welche vielfach die Priorität wegen größerer Dringlichkeit des Bedürfnisses beansprucht wurde, ist allerdings nur zum Teil in den Unfallversicherungsgesetzen verwirklicht und steht im übrigen noch aus. Auch der Ausbau der Unfallversicherung ist noch nicht vollendet.
Immerhin bildet
die «socialpolitische» Gesetzgebung schon jetzt ein großartiges,
einheitliches Werk von gewaltigem
Umfange und einschneidenden Wirkungen, von denen viele Millionen
Arbeiter und
Arbeitgeber
betroffen werden.
Ihre Beurteilung ist natürlich je nach dem wirtschaftlichen und polit. Standpunkt, den man
einnimmt, sehr verschieden.
Teils begegnet sie principiellem
Widerspruch, namentlich wird der Versicherungszwang als unzulässig,
unnötig und unwirksam bekämpft; teils werden die Ziele gebilligt, aber die zu ihrer Erreichung eingeschlagenen Wege getadelt.
Während ihr auf der einen Seite zum Vorwurf gemacht wird, daß sie durch teilweise Realisierung des socialistischen Programms der Socialdemokratie Vorschub leiste, bemängelt diese umgekehrt das den Arbeitern Gebotene als unzureichend. Für die Arbeiterversicherung läßt sich namentlich Folgendes anführen: Sie befriedigt, wo nicht das dringlichste so doch eines der wichtigsten Bedürfnisse des Arbeiters, die Sicherung seiner wirtschaftlichen Existenz. Sie entlastet nicht nur die öffentliche und private Armenpflege, sondern setzt an die Stelle des mit einem Makel behafteten Almosens einen durch eigene Vorsorge erworbenen Rechtsanspruch.
Allerdings ist diese Vorsorge eine erzwungene, aber sie hört darum nicht auf, Selbsthilfe zu sein, und entbehrt nicht der ethischen Bedeutung und erziehlichen Kraft. [* 8] Und nur durch den Zwang ist es erfahrungsmäßig zu erreichen, daß diese Vorsorge allgemein, gleichmäßig, rationell stattfindet. Bliebe sie der freiwilligen Initiative überlassen, so würde sie nie von der gesamten Arbeiterbevölkerung geübt werden. Diejenigen, welche sie übten, wären den Übrigen gegenüber im Nachteil, insbesondere die Unternehmer, welche Zuschüsse gäben, würden unter ungünstigern Bedingungen produzieren als ihre Konkurrenten.
Die Last der Invaliditäts- und Altersversicherung wird überhaupt nur erschwinglich, wenn die gesamten Arbeitermassen zusammengefaßt werden. Nur der allgemeine Versicherungszwang ermöglicht die stetige Kontinuität der und die volle Freizügigkeit unter den versicherten Arbeitern. Mit dem Grundsatz des Zwanges rechtfertigt sich auch seine Konsequenz, die Herstellung von Anstalten, welche die Durchführung der in der vom Gesetz beabsichtigten Weise garantieren, übrigens verbleibt der freien Vereinsthätigkeit auf dem Gebiet der Arbeiterversicherung immer noch ein weites Feld der Bethätigung. Die Zwangsversicherung beschränkt sich selbstredend nur auf das Allernotwendigste, die Renten erreichen z. B. nie den vollen Lohn der Versicherten. Es können also freie ¶
1. 2. Handwerkerkaserne der «Victoria-Dwellings-Association, Limited» beim Battersea-Park in London. [* 10]
3. 4. Doppelhaus der «Berliner [* 11] Baugenossenschaft» zu Adlershof.
5. 6. Reihenhaus der Kolonie «Schederhof» von Friedrich Krupp in Essen. [* 12]
7. 8. Reihenhaus der Kolonie «Drei Linden» von Friedrich Krupp in Essen.
9. Arbeiter-Kost- und -Logierhaus des «Bochumer Vereins für Bergbau [* 13] und Gußstahlfabrikation». ¶
1. Wohnhaus für zwei Familien in Plaue.
2. Obergeschoß des Wohnhauses [* 14] Fig. 1.
3. Erdgeschoß des Wohnhauses [* 14] Fig. 1.
4. Wohnhaus [* 15] für zwei Familien in Bielefeld. [* 16]
5. Obergeschoß des Wohnhauses [* 14] Fig. 4.
6. Erdgeschoß des Wohnhauses [* 14] Fig. 4.
7. Wohnhaus für zwei Familien in Hamburg-Schiffbek.
8. Erdgeschoß des Wohnhauses [* 14] Fig. 7.
9. Garten [* 17] und Hof [* 18] zu [* 14] Fig. T.
10. Plan von Agnetapark zu Delft. ¶
mehr
Organisationen sowie Wohlfahrtseinrichtungen der Arbeitgeber ergänzend eintreten, und alle Lücken ausfüllen, welche die Zwangsversicherung gelassen hat.
Die Lasten, welche die der deutschen Industrie und Landwirtschaft auferlegt, sind schwer und werden in der Folgezeit immer höher anwachsen. Wie sie sich im einzelnen verteilen, bleibt abzuwarten. Das Gesetz bestimmt nur, wen sie in erster Linie treffen; ob und inwieweit eine Überwälzung vom Arbeiter auf den Arbeitgeber oder umgekehrt, durch Hinderungen der Lohnhöhe, oder vom Produzenten auf den Konsumenten, durch Änderungen der Warenpreise, vor sich gehen kann, wird sich nach den wechselnden wirtschaftlichen Machtverhältnissen regeln.
In gewissem Grade beeinträchtigt die Arbeiterversicherung auch die nationale Produktion gegenüber dem Ausland. Einige Staaten sind jedoch dem Beispiele Deutschlands [* 20] schon gefolgt, z. B. Österreich, [* 21] die Schweiz, [* 22] Belgien, [* 23] Frankreich, Schweden [* 24] und Norwegen (s. Invaliditäts- und Altersversicherung, Krankenversicherung, Unfallversicherung). Ob die Arbeiterversicherung auch die innerliche Überwindung der Socialdemokratie herbeiführen wird, muß dahingestellt bleiben. Auf alle Fälle sind ihre segensreichen Folgen für die arbeitenden Klassen nicht zu unterschätzen.
Litteratur. Über Alters- und Invalidenkassen für Arbeiter (in den «Schriften des Vereins für Socialpolitik», Heft 5, Lpz. 1874);
Brentano, Die Arbeiterversicherung gemäß der heutigen Wirtschaftsordnung (ebd. 1879);
ders., Der Arbeiterversicherungszwang (Berl. 1881);
Rosin, Das Recht der Arbeiterversicherung, Bd. 1 in 2 Abteil., ebd. 1890);
Die Arbeiter-Versorgung, Centralorgan für die Arbeiterversicherung (1. bis 12. Jahrg., ebd. 1884-95);
Bornhak, Das deutsche Arbeiterrecht (Münch. 1892);
Görres, Handbuch der gesamten Arbeiter-Gesetzgebung des Deutschen Reichs (Freib. i. Br. 1892-93);
Piloty, Die Arbeiterversicherungsgesetze des Deutschen Reichs (2 Bde., Münch. 1893);
Weyl, Lebrbuch des Reichsversicherungsrechts (Lpz. 1894);
Menzel, Die Arbeiterversicherung nach österr.
Recht (ebd. 1893); Mandl, Österr. Gesetze über Arbeiterversicherung (Tl. 1-3, Wien [* 25] 1893-94).