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dem Anarchismus zu, während die Socialdemokratie mehr und mehr an Anhang verlor. Unter der geschickten Führung Joseph Peukerts trat zu Anfang der achtziger Jahre die Propaganda auch in mehrern blutigen Attentaten hervor, bei denen namentlich die später hingerichteten Anarchisten Kammerer und Stellmacher eine Rolle spielten. Durch energische Verwaltungsmaßnahmen aber und strenge Bestrafung der Schuldigen vermochte die Regierung die Bewegungen zu unterdrücken. Sie trat erst 1893 wieder hervor, wo eine anarchistische Druckerei und Bombenfabrik in Wien [* 2] entdeckt und die Beteiligten Febr. 1891 zu schwerer Kerkerstrafe verurteilt wurden. In Frankreich fand der Anarchismus erst durch den Fürsten Peter Krapotkin Eingang, welcher als russ. Flüchtling seit Ende der siebziger Jahre in der «Fédération jurassienne» agitatorisch auftrat.
Diese Bewegung wurde jedoch dadurch sehr bald gelähmt, daß Krapotkin mit einer großen Zahl seiner Genossen vom Lyoner Gericht wegen angeblicher Gründung und Teilnahme an einer internationalen Arbeiterassoziation zu mehrjähriger Gefängnisstrafe verurteilt wurde. In Paris, [* 3] wo sich zahlreiche anarchistische Gruppen gebildet hatten, entstand März 1892 infolge einer Reihe von zum Teil verheerenden Explosionen eine völlige Panik in der Bevölkerung. [* 4] Auch nachdem der Haupturheber Ravachol verhaftet und hingerichtet, andere zu langen Freiheitsstrafen verurteilt worden waren, setzten sich die Explosionen fort und kosteten einer Anzahl von Personen das Leben.
Erst April 1893 gelang es, einigen der an den letzten Attentaten Beteiligten den Prozeß zu machen. Ein Bombenattentat, das sich diesmal gegen die Deputiertenkammer selbst richtete, war die Antwort. Am schleuderte Vaillant ein Sprenggeschoß von der Zuhörergalerie mitten unter die Deputierten, tötete jedoch niemand. Vaillant wurde festgenommen und hingerichtet. Trotzdem hörten auch 1894 die Attentate in Paris nicht auf. Am 12. Febr. warf Henry eine Bombe in das Terminushotel, und 4. April wurde ein Attentat im Restaurant Foyot gegenüber dem Senatsgebäude verübt.
Ihren Gipfel erreichten diese anarchistischen Verbrechen jedoch in der Ermordung des Präsidenten Carnot, der in Lyon [* 5] von dem Italiener Caserio erdolcht wurde. Seitdem haben die Attentate aufgehört. Auch in Belgien, [* 6] wo namentlich Lüttich [* 7] ein Herd anarchistischer Umtriebe war, fanden 1891 und 1892 unter der Leitung Moincaus Diebstähle von Sprengstoffen und Sprengungen statt. Obwohl im Juli 1892 in einem großen Prozeß von 16 Angeklagten neun zu verschiedenen Freiheitsstrafen verurteilt wurden, war die Propaganda nicht vernichtet, die besonders von dem Russen Jagolkowski, der unter dem Namen Baron Ungern-Sternberg auftrat, betrieben wurde. Im April und Mai 1894 fanden weitere Dynamitanschläge in Lüttich statt, und 14. Jan. bis wurden in einem neuen Prozeß mehrere Anarchisten zu lebenslänglicher, andere zu zeitweiliger Zwangsarbeit verurteilt. In Spanien [* 8] war es schon während des Revolutionsjahres 1873 zu einer gewaltsamen Erhebung des Anarchismus gekommen.
Die Anarchisten hatten bereits mehrere Städte im Süden des Landes in ihre Gewalt gebracht, als der Aufstand durch Castelar niedergeworfen wurde. Cartagena ergab sich erst nach längerer Belagerung Auch später fehlte es nicht an anarchistischen Verschwörungen («die schwarze Hand»), [* 9]
April 1892 wurde ein gegen die Deputiertenkammer gerichtetes Attentat noch rechtzeitig verhindert. Besonders in Catalonien breitete sich die Bewegung aus. In Barcelona [* 10] verübte der Anarchist Pallas ein Bombenattentat auf Martinez Campos, wobei mehrere Personen getötet und verwundet wurden. Um seine Hinrichtung zu rächen, wurden darauf 7. Nov. im dortigen Liceotheater zwei Bomben geworfen, durch die 22 Personen getötet und mehr als 50 verletzt wurden. Auch Anfang 1894 fanden noch verschiedene anarchistische Anschläge in andern Städten Spaniens statt.
Von den ergriffenen Anarchisten wurden sechs hingerichtet. In Italien, [* 11] wo der Anarchismus schon während der siebziger Jahre einige Lebenszeichen von sich gab, sind in neuerer Zeit auch vereinzelte anarchistische Anschläge vorgekommen. In England ist der Anarchismus zwar ohne Bedeutung geblieben, jedoch haben in London, [* 12] besonders in dem Klub «Autonomie», die deutschen und österr. Anarchisten ihren Sammelpunkt gefunden, von dem aus sie ihre Druckschriften über den Kontinent zu verbreiten suchen.
Von außereuropäischen Ländern verdienen lediglich die Vereinigten Staaten [* 13] von Amerika [* 14] Erwähnung. Der dortige Anarchismus verdankt seine weite Verbreitung hauptsächlich der rührigen Agitation Mosts, der 1883 Europa [* 15] verlassen hatte. Die frühern anarchistischen Bestrebungen wurden vom Volke um so weniger beachtet, als der bedeutendste ältere Vertreter des Anarchismus, Benjamin R. Tucker, welcher seit 1880 in Boston [* 16] die Lehren [* 17] Proudhons vertrat, auf dem Boden der Theorie stehen blieb.
Most predigte auf seinen verschiedenen Rundreisen durch das Land mit solchem Erfolge den unerbittlichen Kampf gegen die besitzenden Klassen, daß sich in den meisten größern Orten, namentlich in Chicago, anarchistische Gruppen zusammenfanden. Chicago wurde der Schauplatz blutiger Zusammenstöße mit der Polizei, bei denen es auf beiden Seiten zahlreiche Tote und Verwundete gab. Da griff die Regierung energisch ein. Die Rädelsführer wurden verhaftet und vier von ihnen in Chicago hingerichtet. Damit war dem Anarchismus ein empfindlicher Schlag versetzt, und die Arbeiterkreise sagten sich zum großen Teil von ihm los.
Eine kritische Beurteilung des Anarchismus wird zweckmäßig an die verwandten Anschauungen der Socialdemokratie (s. d.) anknüpfen. Beide stimmen darin überein, daß sie die heutige Gesellschaftsordnung als die besitzenden Klassen einseitig begünstigend und zur Ausbeutung des Arbeiters führend bekämpfen. Namentlich gehen beide Richtungen in der Beurteilung des Grund- und Kapitaleigentums sowie der Wertlehre Hand in Hand. So hat die Proudhonsche Kritik der bestehenden Volkswirtschaft auch dem Socialismus die erfolgreichsten Waffen [* 18] in die Hände geliefert.
Dagegen weichen beide Parteien in den zu erstrebenden Zielen erheblich voneinander ab. Während die Socialdemokratie in dem genossenschaftlichen Zusammenschluß der Produzenten und der zwangsweisen Leitung der Gütererzeugung und -Verteilung ihr Zukunftsideal erblickt, welches insofern einen wesentlich kommunistischen Charakter trägt, macht sich im A. der extremste Individualismus geltend. Jeder einzelne soll völlig nach eigenem Belieben seine Bedürfnisse befriedigen. Auch in der Taktik gehen und Socialdemokratie auseinander. Während der Anarchismus die Attentate nicht ¶
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nur zuläßt, sondern vielfach geradezu als eins der wichtigsten Agitationsmittel hingestellt hat, erwartet die Socialdemokratie ihr Heil hauptsächlich von der Entwicklung der wirtschaftlichen Zustände, welche nach ihrer Ansicht einer Katastrophe entgegengehen.
Die anarchistischen Verbrechen veranlaßten in verschiedenen Staaten Verschärfungen der Strafbestimmungen. Im Deutschen Reiche führte das Reinsdorfsche Attentat zum Erlaß des Gesetzes gegen den verbrecherischen und gemeingefährlichen Gebrauch von Sprengstoffen, vom Hiernach wird derjenige, welcher vorsätzlich durch Anwendung von Sprengstoffen Gefahr für das Eigentum, die Gesundheit oder das Leben eines andern herbeiführt, mit Zuchthaus, wenn durch die Handlung der Tod eines Menschen herbeigeführt worden ist und der Thäter diesen Erfolg hat voraussehen können, mit dem Tode bestraft (§. 5), ebenso wird der, welcher in der bezeichneten Absicht Sprengstoffe verschafft oder öffentlich zu jenen Handlungen auffordert, mit Zuchthaus bestraft (§§. 8 und 10). In Frankreich wurde 1892 infolge der Dynamitexplosionen ein Gesetz erlassen, das für die Urheber von Eigentumsbeschädigungen durch Sprengstoffe die Todesstrafe festsetzt.
Nach dem Attentat in der Deputiertenkammer und nach der Ermordung Carnots wurden 1893 und 1894 weitere Ausnahmegesetze gegen den Anarchismus erlassen, die die Verherrlichung anarchistischer Verbrechen und die Aufreizung dazu mit Strafe bedrohen und derartige Preßvergehen vor die Zuchtpolizeigerichte verweisen, auch überführte Anarchisten zu verbannen gestatten. Auch in der Schweiz [* 20] wurde 1894 ein Gesetz erlassen, das den Gebrauch von Sprengstoffen zu verbrecherischen Zwecken und die Aufforderung zu Verbrechen unter besondere Strafe stellt. Ähnlich 1894 in Spanien und endlich in Italien, wo auch die Anweisung eines Zwangsaufenthaltes für verurteilte Anarchisten zulässig ist. Ein dem Deutschen Reichstag Dez. 1894 vorgelegter Gesetzentwurf, der unter anderm auch die bisherigen Strafbestimmungen über die Aufforderung zu strafbaren Handlungen verschärfen wollte, gelangte nicht zur Annahme.
Litteratur. G. Adler, [* 21] Anarchismus (im «Handwörterbuch der Staatswissenschaften», Bd. 1, Jena [* 22] 1890), mit Litteraturverzeichnis; Thun, Geschichte der revolutionären Bewegungen in Rußland (Lpz. 1883);
de Laveleye, Die socialen Parteien der Gegenwart (aus dem Französischen von Ebeberg, Tüb. 1884);
Der und seine Träger [* 23] (Berl. 1887);
Garin, Die Anarchisten (deutsch Lpz. 1887);
Sartorius von Waltershausen, Der moderne Socialismus in den Vereinigten Staaten von Amerika (Berl. 1890);
Dubois, Die anarchistische Gefahr (deutsch von Trüdjen, Amsterd. 1894);
Lombroso, Die Anarchisten (deutsch von Kurella, Hamb. 1895);
Bernatzik, Der Anarchismus (im «Jahrbuch für Gesetzgebung u. s. w.», Jahrg. 19, Lpz. 1895).