mehr
250 Wie im Innern, so suchte Ismaïl auch nach außen seine Macht zu erweitern. Als der Sultan von Darfur in die ägypt. Provinz Kordofan eingefallen war, um Sklaven einzufangen, rückten ägypt. Truppen in sein Land ein, schlugen den Feind und besetzten Darfur, dessen Annexion der Chediv aussprach. Weniger glücklich waren seine Waffen [* 2] in Abessinien. Schon im Juli 1872 war der Schweizer Munzinger, Gouverneur von Massaua, [* 3] in den nördl. Teil des Landes eingedrungen und hatte denselben unterworfen; 1875 besetzten dann ägypt. Truppen die Stadt und Landschaft Harrar; aber eine andere Abteilung, die in das Innere von Abessinien vordrang, wurde vom König Johannes bei Gundet geschlagen, und ein neues Heer, das 1876 unter Hassan Pascha, einem Sohne des Chediv, anrückte, geriet in abessin. Gefangenschaft.
Bei Gura aufs neue geschlagen, verloren die Ägypter ihr sämtliches Geschütz und mußten selbst für Massaua fürchten. Doch wurde König Johannes durch in Abessinien selbst ausgebrochene Unruhen abgerufen, so daß 1877 zwischen Ä. und Abessinien ein Friedensvertrag zu stande kam. Inzwischen waren in Kairo [* 4] die Verhandlungen mit den europ. Mächten über Errichtung der internationalen, aus europ. und muselman. Richtern zusammengesetzten Gerichtshöfe zum Abschluß gekommen. Dieselben traten 1875 an die Stelle der bisherigen Konsulargerichtsbarkeit und hatten die Streitigkeiten der Einheimischen mit den Fremden und letzterer unter sich zu entscheiden. Der oberste Gerichtshof war in Alexandria. Seinen Vasallenpflichten gegen den Sultan bei Ausbruch des Russisch-Türkischen Kriegs 1877 genügte Ismaïl durch Absendung von 6000 Mann unter Hassan Pascha.
Aber diese kriegerischen Verwicklungen, ferner der zur Auswirkung günstiger Fermane notwendige Aufwand von Bestechungsgeldern und die Verschwendung des Chediv brachten diesen in die größte finanzielle Bedrängnis. Um den augenblicklichen Verlegenheiten zu entgehen, verkaufte er die noch in seinen Händen befindlichen 176602 Sueskanal-Aktien um 4 Mill. Pfd. St. an England. Zugleich erbat er sich von der engl. Regierung einen tüchtigen Finanzmann, der die ägypt. Finanzen einer genauen Prüfung unterwerfen sollte.
Der zu diesem Zweck abgesandte Generalzahlmeister Cave fand zwar die Steuerfähigkeit des Landes bedeutend, aber die Schuldenlast nur bei geregelter Verwaltung erträglich. Im April 1876 wurde für die Staatsschuld und die Privatschuld des Chediv die Ausbezahlung der Zinsen auf ein Vierteljahr suspendiert und angeordnet, daß eine Staatsschuldentilgungskasse mit ausländischen Kommissaren errichtet werden sollte. Der Ausspruch des europ. Gerichtshofs in Alexandria, daß der Chediv zur Bezahlung seiner Schuld verpflichtet sei, und die infolgedessen über den vicekönigl.
Palast in Ramleh verhängte Sequestration rief einen Konflikt hervor. Der Chediv verbot die Ausführung des Beschlusses. Der thatsächliche Bankrott war bereits da; die Beamten erhielten keinen Gehalt, die Lieferanten nicht den Betrag ihrer Rechnungen, die Jahressteuern wurden zweimal erhoben. Die engl.-franz. Kommission, mit der Prüfung der Finanzverhältnisse beauftragt, verlangte in ihrem Bericht, daß der Chediv seinen ungeheuern Grundbesitz an den Staat zurückgeben, keine Steuern ohne Gesetz auferlegen und die gesetzgeberischen Gewalten, die zu Steuerauflagen allein ermächtigen, den Fremden wie den Eingeborenen zugänglich machen solle.
Sowohl der Chediv wie sämtliche Prinzen und Prinzessinnen traten 1878 den größten Teil ihrer Güter an den Staat ab. Zugleich schuf Nubar Pascha ein halb europ. Kabinett, in dem der Engländer Wilson die Finanzen und der Franzose de Blignières die öffentlichen Arbeiten übernahm. Alle Steuereinnehmer wurden angewiesen, nur den Befehlen des Ministeriums zu gehorchen. Ein vollständiger Systemwechsel hatte sich vollzogen. Aber der an schrankenlose Willkürherrschaft gewöhnte Chediv konnte die Abhängigkeit vom Ministerrat nicht lange ertragen.
Ein Soldatenaufstand in Kairo sollte das Ministerium zum Rücktritt nötigen. Aber nur Nubar nahm seine Entlassung, die Fremden nicht. Sie traten auf die Weisung ihrer Regierungen auch in das neue Kabinett ein, an dessen Spitze der Erbprinz Tewfik stand. Da erklärte 7. April der Chediv, Vertreter der Geistlichkeit, des Adels und der obern Beamten hätten zwar den Entwurf einer Neuordnung des ägypt. Finanzwesens ausgearbeitet, aber dessen Ausführung erfordere die Entfernung der fremden Minister.
Damit sandte er Wilson und Blignières ihre Entlassung zu und bildete ein neues Ministerium, dessen Präsidium Scherif Pascha übernahm. Da aber jene ohne Ermächtigung ihrer Regierungen ihre Posten nicht verlassen wollten, so kam Ismaïl in ernsthaften Konflikt mit England und Frankreich. Überraschend für diese und für den Chediv kam die Protestnote der deutschen Reichsregierung vom gegen das Dekret vom 22. April, durch das der Chediv seine in den Anleihen eingegangenen Verpflichtungen einseitig zu modifizieren versucht hatte. Diesem Protest schlossen sich sämtliche Großmächte an. Auf deren Drängen wurde Ismaïl vom Sultan abgesetzt und sein ältester Sohn Tewfik (geb. 1852) zum Chediv ernannt.
Dem Bestreben der Pforte, diesen Wechsel in der Person des Chediv zur Aufhebung der Irade vom zu benutzen und die damit erteilten Konzessionen zurückzunehmen, widersetzten sich England und Frankreich und gestatteten im Interesse der Finanzen nur die im Investiturberat vom ausgesprochene Abänderung, daß der Chediv ohne Genehmigung der Pforte und der Gläubiger keine neue Anleihe aufnehmen und daß die Stärke [* 5] der ägypt. Armee in Friedenszeiten nur 18000 Mann betragen dürfe.
Der neue Chediv setzte im Sept. 1879 ein neues Ministerium ein unter dem Präsidium Riaz Paschas. Wilson und Blignières traten in Rücksicht auf das Nationalgefühl der Mohammedaner nicht in dasselbe ein; es wurde der Ausweg getroffen, daß Blignieres und der Engländer Baring als Finanzkontrolleure angestellt wurden mit der Ermächtigung, Untersuchungen in der Finanzverwaltung vorzunehmen und dem Ministerrat mit beratender Stimme beizuwohnen. Zunächst verlangten sie vom Ministerium die Ausarbeitung des Budgets von 1880, damit man ersehe, welche Summen zur Verteilung unter die Gläubiger der konsolidierten Schuld verfügbar seien.
Tewfik unterzeichnete ein das neue Budget genehmigendes Dekret. In diesem waren die Einnahmen auf 8561622, die Verwaltungsausgaben und der an die Pforte zu zahlende Tribut, der 681000 Pfd. (15 Mill. M.) beträgt, auf 4323030 ägypt. Pfd. veranschlagt und bestimmt, daß der Überschuß von 4238592 Pfd. St. zur Verzinsung und Verminderung der öffentlichen Schuld verwandt werden solle. Zur Regelung dieser Schuld und zur Feststellung derjenigen Mittel, durch welche dieselbe ¶
mehr
251 allmählich beseitigt werden sollte, wurde eine internationale Liquidationskommission eingesetzt, die aus Vertretern der europ. Großmächte bestand und zunächst ein Liquidationsgesetz ausarbeitete. Der Chediv unterzeichnete dieses Gesetz, sowie 29. Dez. ein Dekret, in dem das ägypt. Budget für 1881 auf 8419000 ägypt. Pfd. Einnahme und 8308000 ägypt. Pfd. Ausgabe (also 111000 ägypt. Pfd. Überschuß) festgestellt wurde. Die Zustände schienen nun einigermaßen konsolidiert zu sein, als plötzlich in Kairo ein Militäraufstand ausbrach.
Mehrere Regimenter umzingelten den Abdin-Palast, die Residenz des Chediv, und forderten die Entlassung des Ministeriums Riaz, die Gewährung einer Verfassung und die Vermehrung des Heers auf 18000 Mann. Der Chediv bewilligte diese Forderungen im wesentlichen und betraute Scherif Pascha (s. d.) mit der Bildung eines neuen Kabinetts. Die Aufregung im Lande wuchs indes so gewaltig, daß der Chediv Anfang 1882 eine Notabelnversammlung berief, die, obwohl nur zur Beratung bestimmt, doch bei der Regierung die Berufung eines neuen Kabinetts durchsetzte, dessen Präsidentschaft Mahmud Barudi übernahm, während Arabi als Kriegsminister der eigentliche Leiter war.
Dieser versprach, allen internationalen Verpflichtungen nachzukommen, suchte aber nach Möglichkeit den Einfluß der Fremden zu beseitigen. Da diese Unabbängigkeitsgelüste die Interessen Englands und Frankreichs zu beeinträchtigen drohten, so schickten diese Mächte eine Flotte in das Mittelmeer ab, die 20. Mai vor Alexandria erschien. Nunmehr wagte der Chediv seinen Kriegsminister abzusetzen; die Nationalpartei aber erzwang sofort seine Wiedereinsetzung, und 11. Juni kam ein großer Aufstand in Alexandria zum Ausbruch.
Zahlreiche Europäer wurden von der fanatisierten Menge ermordet und auch der engl. Konsul verwundet, während die Flotte sich mit bloßen Demonstrationen begnügte. Als aber Arabi die Befestigungen von Alexandria verstärkte, vermehrte England seine Seemacht, und 11. und 12. Juli bombardierte Admiral Seymour (s. Alcester) die Stadt, die nun von rohem Gesindel unter Niedermetzelung der europ. Bewohner geplündert und in Brand gesteckt wurde. Das völkerrechtswidrige Bombardement war politisch erfolglos; mehr als je sahen die Ägypter nur in Arabi ihr Heil, und so schritt England unter dem Vorwand, den Sueskanal [* 7] schützen zu müssen, zu weiterm kriegerischem Vorgehen gegen die Aufständischen.
Arabi wurde von Ismailia aus im Rücken seiner Aufstellung gefaßt und geriet, 13. Sept. bei Tel el-Kebir entscheidend geschlagen, in Kriegsgefangenschaft. Noch im September war ganz Ä. unterworfen, und der Chediv wurde von den Siegern nach Kairo zurückgeführt. England suchte nun die Verwaltung Ä.s in seine Hände zu bringen und es war sein erstes, Frankreich seines Anteils an der Finanzkontrolle zu berauben. Aber die islamitisch-nationale Bewegung hatte sich inzwischen dem fernen Süden mitgeteilt und brachte in den Sudanprovinzen unter einem energischen Führer, der sich den Titel «Mahdi» beilegte, einen Aufstand zu Wege.
Bald war bis auf wenige Städte mit ägypt. Besatzung das ganze Land abgefallen. Die Kämpfe der Engländer gegen die Mahdisten hatten keinen Erfolg; im Laufe des Jahres 1886 wurden diese Gebiete aufgegeben, nur im äußersten Süden behauptete noch der zum Gouverneur der Äquatorialprovinz ernannte Emin Pascha (s. d.) im Namen des Chediv sein Gebiet, bis er im Frühling 1889 seine Stellung aufgeben mußte. (S. auch Mahdi und Sudan.) So sehr die Pforte, von Rußland und Frankreich unterstützt, auch darauf drang, daß England einen bestimmten Zeitpunkt der völligen Räumung Ä.s angeben solle, so lehnte dies doch jede bestimmte Erklärung darüber ab. Konferenzen Sir Drummond Wolffs mit dem türk. Bevollmächtigten Mukhtar Pascha und der Regierung des Chediv in Kairo seit 1885 verliefen ohne Ergebnis.
Den Vorschlag Englands, unter gewissen Vorbehalten binnen 5 Jahren seine Truppen aus Ä. zurückzuziehen, lehnte die Pforte, welche diesen Zeitraum für zu lang hielt, im April 1887 ab. Eine 22. Mai in Konstantinopel [* 8] unterzeichnete engl.-türk. Übereinkunft, wonach die engl. Truppen nach 3 Jahren Ä. räumen sollten, verwarf schließlich der Sultan, über den inzwischen wieder entgegengesetzte Einflüsse das Übergewicht gewonnen hatten, und seitdem begann England die Hand [* 9] um so fester auf das Land zu legen. Schon früher (Frühling 1885) hatte es im Einverständnis und unter Bürgschaft der Großmächte zur Ordnung der ägypt. Finanzverhältnisse eine Anleihe von 9 Mill. Pfd. St. aufgenommen; im Okt. 1887 wurde mit Frankreich ein Abkommen über unbedingte Neutralität des Sueskanals geschlossen, und im Dez. 1889 auf engl. Antrieb beschlossen, die Fronarbeiten in ganz Ä. aufzuheben.
Der Chediv Tewfik starb Ihm folgte sein ältester Sohn Abbas Pascha, der sich als ein minder gefügiges Werkzeug der Engländer zeigte. Ohne deren Befragen entließ er im Jan. 1893 plötzlich den bisherigen Premierminister Mustapha Fehmi und ersetzte ihn durch einen Gegner der engl. Verwaltung, Fakhri Pascha. Auf ein Ultimatum des engl. Gesandten Lord Cromer mußte er jedoch diese Ernennung zurückziehen, und der England genehme Riaz Pascha wurde Premierminister. Dieser nahm aber schon im April 1894 seine Entlassung, worauf Nubar Pascha Ministerpräsident wurde. Eine neue Organisation des Ministeriums des Innern im Nov. 1891 ermöglichte auch in diesem den engl. Einfluß.