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den vierten Stadtkreis, gehen durch Wipkingen, das seinen dorfartigen Charakter noch heute ziemlich bewahrt hat, durch die Röschibachstrasse und die kilometerlange Nordstrasse überquerend, durch die Rotbuchstrasse hinauf zum Rötel. Rege Bautätigkeit herrscht hier, wie fast überall auf der Peripherie der Stadt. Wir haben die Wahl, mit der Oerlikon-Seebacher Strassenbahn oder mit der jüngsten «städtischen» Linie durch die Weinbergstrasse durch das Quartier Unterstrass zum Leonhardsplatz an der Bahnhofbrücke zurückzufahren.
Oder wir setzen die Bergwanderung fort zum pompösen Schulhaus an der Riedlistrasse oberhalb der Kirche und über neu angelegte, das alte Terrainbild bedeutend verändernde Strassenzüge, wo alles im Werden und Wachsen begriffen ist, hinauf ins frei überbaute, gartenreiche Rigiviertel. Auf der Hochstrasse freut uns der prächtige Ueberblick über Stadt und Umgelände. Wen Statistik ergötzt, zählt die etliche zwanzig Kirchen nebst weniger hochragenden Minoritätenkapellen, die zahlreichen neuen Schulhausdächer und thalauswärts die geschäftig rauchenden Fabrikschlote bis hinunter zu den drei mächtigen Gasometern des städtischen Gaswerkes in Schlieren.
Wir erkennen jetzt am besten die wundervolle Lage der Stadt am Ausfluss des grossen Sees, am Zusammenfluss von Limmat und Sihl, thalauf und thalab offen, ausdehnungsfähig, seitlich nach stolzer Breite abgeschlossen durch den fast gradlinigen Uetliberggrat und den sanftwelligen Zürichberg: grosszügig angelegt in den Hauptlinien, genährt und bewegt durch das zahme Seewasser und die wilde junge Sihl, und artig eingeschränkt auf den Seiten durch angestammte, nicht übermässig hohe Felswände. Fast möchte man behaupten, dies zürcherische Naturbild kehre im kleinen wieder im Charakter der Bevölkerung und ihren Einrichtungen.
Von der Hochstrasse herab übersieht man den imposanten Bauten-Complex der kant. und eidg. Hochschulen. Vor allem ist das Hauptgebäude der schweizerischen polytechnischen Schule zu nennen. Die Schule wurde 1855 gegründet, umfasst Bauschule, Ingenieurschule, mechanische, land- und forstwirtschaftliche Abteilung, eine Abteilung zur Heranbildung von Fachlehrern in mathematischer und naturwissenschaftlicher Richtung, eine philosophisch-staatswirtschaftliche (sog. Freifächer-) Abteilung und eine militärwissenschaftliche Abteilung.
Das Hauptgebäude, nach den Plänen von Gottfried Semper 1861-64 erbaut und seit 1864 vollständig in Betrieb, steht zu vorderst an der aussichtsreichen Rampe des Hochschulkomplexes gegen die Altstadt hin. Im Mittelbau, den eine Reihe allegorischer Figuren von Bildhauer Graf krönen, befindet sich eine schöne Aula, welche bis jetzt beiden Hochschulen diente. Hier und im Vestibül stehen die Büsten von Schulratspräsident Dr. Kappeler (Hörbst) und den Professoren Kopp und Bolley, sowie Semper und Culmann (Richard Kisling).
Die N.-Fassade ist mit Sgraffito-Dekorationen geschmückt. Den S.-Flügel nahm bis jetzt die Universität ein, welche bald in nächster Nähe ein prachtvolles neues Heim erhält. Hinter dem Polytechnikum steht das alte chemische Laboratorium (hygienisches Institut). Eine ganze Stadt von wissenschaftlichen Instituten reiht sich an: Eidg. Materialprüfungsanstalt, eidg. Prüfungsanstalt für Brennstoffe, eidg. Maschinenlaboratorium (1899 /1900 erbaut), eidg. chemische Laboratorien (1886 bezogen) mit der schweiz. agrikulturchemischen Anstalt und Samenkontrolstation, eidg.
Zentralstelle für forstliches Versuchswesen, land- und forstwirtschaftliche Schule (1874) mit Versuchsgarten, eidg. Sternwarte, eidg. Physikgebäude (1890), mit der schweizer. meteorologischen Zentralanstalt, Kantonsspital, Laboratorium des Kantonschemikers und zahnärztl. Poliklinik (1899/1900), Anatomie, Absonderungshaus, pathologisches Institut (1832), Augenklinik, Blinden- und Taubstummenanstalt, kantonales Physik- und Physiologiegebäude, und erst kürzlich (Frühjahr 1909) eröffnet die kantonalen chemischen Laboratorien der Universität und der Kantonsschulneubau gegenüber der alten Kantonsschule an der Rämistrasse, welche in den Jahren 1839-42 von Architekt Wegmann erbaut worden ist. Damals kostete der Kubikmeter 13,5 Franken; heutige Schulhausbauten kommen annähernd auf das Doppelte zu stehen! Nach der Stadt zu schliessen sich an das Wolfbachschulhaus, das Konservatorium für Musik an der Florhofgasse (1900-1902) mit grossem Konzertsaal (450 Plätze), das pompöse Hirschengrabenschulhaus und das ¶
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Kollegiengebäude zum Rechberg, ein altes, schönes Patrizierhaus.
Wahrlich ein gesegneter Bezirk des Intellektes, wo Kanton und Eidgenossenschaft um die Wette der Wissenschaft und den Disciplinen ihrer technischen Anwendung würdige Stätten errichtet! Und daneben darf nicht vergessen sein, was die Stadt selbst für ihr Schulwesen tut. Es sei an das Kapitel «Unterrichtswesen» sub «Zürich-Kanton» erinnert. Als speziell im Stadtbild in die Augen fallend mag hier noch der städtischen Schulhausbauten kurz gedacht werden. Zur Zeit der Stadt-Vereinigung im Jahre 1893 gab es in der alten Stadt und den Ausgemeinden zusammen 39 Schulhäuser, als ältestes das biedere Schulhaus an der Badenerstrasse (bezogen 1821) und als jüngstes der hochragende Schulpalast am Hirschengraben (1893 Architekt Alexander Koch). Seither ist fast jedes Jahr ein Schulhausbau (mit Turnhallen, Bäderanlagen, Schulküchen, Werkstätten, Modellierzimmern, kleinen Schulgärten etc.) neu hinzugekommen. In den Neubauten sind die Klassenzimmer auf maximal 55 Primar-, bezw. 35 Sekundarschüler berechnet; mit 7×10-11 resp. 7×9 Meter Bodenfläche, Niederdruckdampf- und Warmwasserheizung; die Luftheizung ist aufgegeben. Die Kosten betrugen (1889-1902) per Klasse 42000 Fr., per Schüler 770 Fr., per m3 fr. 25,73 («reine Baukosten»).
Durch freundliche Villenquartiere führt unser Weg von der Hoch- und Bergstrasse schliesslich zum Waldhaus Dolder am Eingang des grossen schönen Dolderparkes. Wir sind nahe am obersten Rand des bewohnten Stadtgebietes und fahren mit der Drahtseilbahn an der mächtigen Kuppel der Kreuzkirche vorbei zum Römerhof hinunter und von da mit der städtischen Strassenbahn an der originellen St. Antoniuskirche vorbei durch Hottingen über Kreuzplatz-Bahnhof Stadelhofen südl. des baumgekrönten Hügels der Hohen Promenade (Nägeli-Denkmal, französische und englische Kirche) zum Stadttheater (von Fellner und Helmer in Wien erbaut und im Herbst 1891 eingeweiht; das alte Theater an der Untern Zäune ist in der Nacht des 1./2. Januar 1890 abgebrannt) und am Korsotheater (1900 eröffnete Variétébühne) und dem alten Tonhalleplatz vorbei wieder zur Quaibrücke, wo wir die Wanderung begonnen hatten.
Der kurze Rundgang durch die Stadt hat manche Quartiere gar nicht berühren können, indem wir in zwei konzentrischen Ellipsen die innere Altstadt und die jüngeren äusseren Zonen kennen lernten. Zwei hübsche Oasen im Häusergewirr müssen aber doch noch besonders nachgetragen werden: Erstens der Heimplatz beim Pfauentheater (Schauspielbühne des Stadttheaters) mit dem Denkmal des Sängervaters Ignaz Heim und dem neuen Kunsthaus, dessen Vollendung die Krone jahrelanger Bestrebungen der Liebhaber für bildende Kunst bedeuten wird;
in der Nähe das Obergericht mit dem Schwurgerichtsaal und das schmucklose «Obmannamt», (ehemaliges Barfüsserkloster),
die Zentralstelle der kantonalen Verwaltung, von der wegen Platzmangel manche Zweige in Nachbarhäuser verstreut untergebracht sind.
Und zweitens: der botanische Garten, auf dem ehemaligen «Bollwerk zur Katze» im westl. Winkel des Schanzengrabens im Jahre 1836 angelegt. Er umfasst eine morphologisch-biologische Anlage, eine systematische Abteilung, tropische Nutz- und Zierpflanzen in Gewächshäusern, sowie pflanzengeographische Gruppen (Alpinum). Im Museum ist ein Typenherbar zur Bestimmung von Schweizerpflanzen allgemein zugänglich; es besitzt ferner ein umfangreiches Herbarium des Kantons Zürich, ein Herbarium Helveticum und ein Herbarium generale, neben einigen Spezialherbaren (u. a. dasjenige von Hegetschweiler und von Gessner), sowie Frucht- und Modellsammlungen. Der Park ist mit den Denkmälern der Botaniker Heinrich Zollinger, Oswald Heer, A. de Candolle und Konrad Gessner geschmückt. Im nahen Selnau, in der Nähe des Bahnhofes der Uetliberg- und Sihlthalbahn, das enge Bezirksgebäude, davor ein mächtiger erratischer Block.
Malerisch-kleinstädtisch, fast mittelalterlich ist die Physiognomie der innersten Stadtteile, in deren oft unhygienischen Winkelgässchen auf und ab sich selbst der Eingeborne schwierig zurechtfindet; man beachte im Stadtplan das kleine Labyrinth um den Petersturm und bis zur Gemüsebrücke, oder auf dem rechten Ufer zwischen Limmat und Zäune-Neumarkt-Rindermarkt. Manche Häuser tragen noch heute nach alter Sitte lustige Namen, oft mit historischer Bedeutung: zur Windegg, Kerze, zum Loch, zum Pflug, Königsstuhl, Kropf, Wellenbaum, Einhorn, zum steinernen Erggel, das Gut zum Rechberg, der Beckenhof, der Strohhof, Friesenberg etc. Originelle Erker zieren abwechslungsreich die Fronten der Kirchgasse, Schipfe, untere Zäune, Augustinergasse, und schwere schmiedeiserne Gitter sind gedankenreiche Tür- und Fensterskulpturen zeugen von geschmackvoller Behäbigkeit (Einhorn, Kerze, Rathaus, Rechberg, Waisenhaus, Meise u. a.). Allmählig verschwindet allerdings der alte Typus, wenn auch durch pietätvolle Restaurationen historisch wertvolle Objekte erhalten werden (Täferung und Holzdecken der Zunfthäuser zur Schmieden, zur Saffran, Zimmerleuten etc.). Das Stadtbild muss doch mit der Zeit wechseln.
Heute noch grenzt sich das dunkelgrüngraue Sandstein-Zentrum der Stadt deutlich ab von den Aussenquartieren, zu deren Bau bereits ganze Musterkarten von Baumaterialien zur Verfügung standen: weisse Dielsdorfer Lägernkalke, sog. Solothurner Marmor, massiger Schwarzwaldgranit aus dem Albthal; alpine Kreidekalke und rote Vogesensandsteine für Strassenpflaster. Glimmerreichen Reussprotogin oder Tessinergneis, sogar zierlich rosaroten Granit von Baveno (Italien) am Langensee bringt die Gotthardbahn, und aus Frankreich importiert man massenhaft den leicht verarbeitbaren Savonnières-Muschelkalk. Je weiter nach der Peripherie, nach den im Entstehen begriffenen Stadtteilen wir gelangen, desto manigfaltiger, je nach der praktischen Verwendung sind die Bausteine und der Baustil. Das fremde Material findet auch bereits Eingang in der Altstadt, wo moderne Geschäftspaläste an Stelle heimeliger Bürgerhäuser entstehen. Am Zwinglidenkmal vor der Wasserkirche sind z. B. 9 verschiedene Gesteinsarten verwendet zum würdigen Aufbau des einfachen Bronzestandbildes. Und doch hatte auch im alten Stadtkern der Sandstein ein noch näher gelegenes, buntes ¶