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bemerkt Heusler, ist die Hauptgrundlage, auf der die Bischöfe von Sitten ihre weltliche Macht aufbauten; in der Folge war er der Ausgangspunkt der Entwicklung, dem der Freistaat Wallis entsprosste. Die Grafschaft Wallis und die Kirche von Sitten, fügt V. van Berchem hinzu, hatten ursprünglich die gleiche Ausdehnung; das war aber zur Zeit der Schenkung Rudolfs nicht mehr so. Während die Diözese, welche die Grenzen der alten civitas unversehrt bewahrte, sich von den Quellen der Rhone bis an den Genfersee erstreckte, begriff die Grafschaft nur noch den untern Teil des Thales bis zum Flusse Trient in sich.
Die Ansprüche des Bistums auf das Territorium der heutigen Bezirke Saint Maurice und Monthey reichen in der Tat nicht über 1475 zurück. So blieben während der ganzen Feudalzeit und selbst bis zur französischen Revolution die Abtei Saint Maurice und das Bistum die beiden hauptsächlichsten Herrschaften des Landes. Infolge der Immunität der Abtei bildeten ihre Ländereien zahlreiche Inseln, die der Verwaltung des Grafen-Bischofs mehr oder weniger vollständig entzogen waren.
Ueberdies stützten sich diese beiden Verwaltungen, deren Besitzungen sich gegenseitig derart durchdrangen, dass sie zwei fortwährende Rivalen werden mussten, auf zwei einander nicht minder feindliche Oberlehensherren. Indem das Bistum, das behauptete, der Erbe der königlichen Rechte Karls des Grossen zu sein, sich dem Reiche anschloss, begünstigte die auf ihre Freiheiten eifersüchtig wachende Abtei die Unternehmungen der Grafen von Savoyen, von denen man sagen kann, dass ihre Intriguen und Kämpfe, die die Unterjochung des Wallis zum Ziele hatten, den Grundzug der Geschichte dieses Landes während der zweiten Hälfte des Mittelalters bilden. In der Beharrlichkeit dieser Feindseligkeiten muss man sogar mehr als im Unterschied der Sprache oder Rasse die Quelle der jahrhundertelangen Gegnerschaft suchen, die zwischen den Wallisern der östlichen und der westlichen Bezirke zu Tage getreten ist.
Die Rechte des Hauses Savoyen im Rhonethal entsprangen hauptsächlich drei Quellen:
1) Aus der Oberlehnsherrschaft über die Grafschaft Chablais, 2) aus der Kastvogtei über Saint Maurice und 3) aus dem Besitz beträchtlicher Allodialgüter im Gebiet der Walliser Grafschaft selbst. In der Tat war die Kastvogtei von Saint Maurice die Grundlage der savoyischen Herrschaft über die Thäler von Bagnes und Nendaz, sowie über das Gebiet von Conthey-Vétroz. Die Rechte des selben Klosters auf die entferntern Gebiete von Leuk und Naters dienten den Grafen gleichfalls zur Unterstützung ihrer Ansprüche im obern Wallis. Und als gar der Bischof Aymon von Savoyen seinem Kapitel die Güter schenkte, die er von seinem Oheim Ulrich in Orsières, in Saillon, in Ayent, im Eringerthal und in Grengiols geerbt hatte, stiessen für den Augenblick die Ansprüche Savoyens mit denen des Bistums bis mitten ins Binnenthal hinauf zusammen.
Immerhin blieb die Kirche von Sitten noch der Hauptgrundbesitzer in ihrer Grafschaft. Dieses Besitztum zu vermehren und zugleich den Unternehmungen Savoyens Widerstand zu leisten, war im Verlaufe des 11., 12. und 13. Jahrhunderts ihr einziges Augenmerk. Darum sehen wir auch, wie sie seit dem 13. Jahrhundert über ein nahezu geschlossenes Gebiet herrscht und in den wichtigsten Ortschaften, die von der Rhonequelle bis zum Trient aneinandergereiht sind, bischöfliche Meier, Vitztume und Schlossherren einsetzt.
Wir haben bereits gesehen, wie sich um diese Kernpunkte die regionalen Gruppen bildeten, aus denen dann die Zehnten entstanden. Damit beginnt aber auch die Aera der Befreiung des Volkes; der geographische Aufbau des Landes erscheint für die Entfaltung kommunalen Geistes zu günstig, als dass dieser gezaudert hätte, hervorzubrechen. Mehr als vielleicht irgend anderswo wird jedoch leider diese Emanzipation hier erst vollständig nach jahrhundertelangen innern Wirren und äussern Kriegen, deren Nachwehen sich noch bis mitten ins 19. Jahrhundert hinein fühlbar machen.
Auf die Kriege zwischen den Oberherren folgen die innern Streitigkeiten, dann die von Bürgern wider Bürger. Die Schenkung der Grafschaft Wallis an die Kirche von Sitten hatte diese unter die kaiserliche Oberhoheit gestellt. Aber als der Kaiser Friedrich I. über Burgund zu Gunsten seiner Söhne verfügte und dabei zugleich, der Form nach, Berthold IV. von Zähringen die Schirmvogtei über die drei romanischen Bistümer beliess, brachen die Eifersüchteleien aus, hauptsächlich als Berthold seine letzten Rechte auf die Schirmvogtei von Sitten dem Grafen Humbert III. von Savoyen abgetreten hatte.
Fünfmal musste Berthold V. bewaffnet ins Rhonethal ziehen und fünfmal musste er unverrichteter Dinge zurück; endlich wurde er von den Wallisern bei Ulrichen (1212) endgiltig aufs Haupt geschlagen. Diese Niederlage und die Schwächung der kaiserlichen Macht konnten die Ansprüche des Hauses Savoyen nur verstärken, das noch während zweihundert und fünfzig Jahren sich bemühte, auf die bischöflichen Besitzungen und Rechte überzugreifen. Der Zwist wurde von zwei mächtigen Familien sorgfältig angefacht, die der Volksfreiheit feindlich waren, nämlich von den La Tour-Châtillon (Imthurn-Gestelenburg und den Raron).
Von 1224 an jedoch sieht man unter den Räten des Bischofs eine gewisse Anzahl Bürger als Repräsentanten der verschiedenen Teile des Gebietes erscheinen. Man findet sie nach den Chorherren und den Vasallen der Kirche erwähnt... et plures alii tam cives sedun, quam alii de diocesi sedun. Aber während sich die Bischöfe abwechselnd auf das Volk, die Adeligen, Savoyen und die eidg. Orte stützen, wenden die patriotischen Bürger ihr Auge vorzüglich letztern zu. Den schliessen sie einen ersten Bund mit ihren künftigen Eidgenossen, um sich der Anschläge der Adeligen zu erwehren; die Bischöfe hatten eben jene La Tour Châtillon in die Majorie von Sitten eingesetzt, deren Uebergriffe in Bälde für sie wie für das Volk beunruhigend wurden.
Als dann nach dem Tode des Bischofs Peter von Oron (1287-1290) ein dreijähriges bischöfliches Interregnum entstand, wollten die hervorragendsten Adeligen des Rhonethales diesen Umstand benützen, um seine Nachfolger der weltlichen Macht zu berauben. Darum war es auch die erste Sorge des Bischofs Bonifaz von Challant, das feste Schloss Tourbillon wiederherzustellen. Trotzdem hoben die Adeligen auf Anstiften Peters de La Tour, der sich an ihre Spitze stellte, ein Heer von 11000 Mann aus und versuchten, die Festung dem Grafen von Savoyen in die Hände zu spielen. Aber diese Armee wurde von den Bauern aufs Haupt geschlagen, und Bonifaz, der so von dem Grafen verraten worden war, mit dem ihn ein Vertrag verbunden hatte, unterzeichnete 1296 einen Burgrechtsvertrag mit Bern. Peter de la Tour wurde als Gefangener auf das Schloss Roc bei Naters gebracht, und mehrere Edelleute, darunter der Ritter Anselm von Saxon, wurden den zu Sitten enthauptet.
Dieser Misserfolg machte den Intriguen der La Tour kein Ende. Als Händel zwischen den Wallisern und den ihnen benachbarten Bewohnern des Frutigthales ausbrachen, verabredeten die La Tour mit den Adeligen des Oberlandes, ins Wallis einzufallen; aber zum zweiten Male wurden sie, auf der Seufzerwiese (Prairie des Soupirs) bei Leuk geschlagen. Gegen 1350 fand ein dritter Versuch statt: Peter V., Enkel des vorgenannten Peter de La Tour, überfiel diesmal das bischöfliche Gebiet an der Spitze des Adels aus dem Wallis, dem Greierzerland und Simmenthal.
Der Bischof Witschard Tavelli, ein Schützling Savoyens, rief den Grafen Amadeus VI. zu Hilfe. Es erfolgte daraus eine lange Periode von Streitigkeiten und tragischen Ereignissen: die Ermordung Witschards Tavelli durch die Sendlinge Antons de La Tour, die Ausrottung dieser ränkevollen Familie durch das Volk;
Sitten der Reihe nach von den Patrioten und den Savoyarden genommen, verloren, verbrannt und wieder genommen;
die Erhebung Eduards von Savoyen auf den Bischofsstuhl und seine Verbannung;
dann die Schlacht bei Visp, in der die Walliser endlich das Feld behaupteten, nachdem sie Feuer an die Scheunen gelegt, worin die Soldaten der Grafen von Savoyen und Greierz schliefen, was mehr als deren 4000 den Tod brachte
Das war die Rache, auf die man seit dem 1260 von Peter von Savoyen organisierten Einbruch ins Wallis gewartet hatte. Nachdem dieser Fürst seine Herrschaft über den ganzen französischen Teil gesichert und besonders ¶
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auch den Bischof von Sitten gezwungen hatte, ihm gewisse Besitzungen im Wistenlach zurückzugeben, schlug er bei Port Valais ein Heer von 3000 Mann unter der Anführung Eberhards von Nidau, der dabei getötet wurde. Hierauf verwüstete er das Rhonethal mit Feuer und Schwert bis nach Mörel hinauf, füllte die Verliesse von Chillon mit Gefangenen und stellte die Schlösser des Unterwallis wieder her. Die Patrioten, denen es gelang, das Ränkenetz der La Tour zu zerreissen und das bischöfliche Szepter den Händen der Günstlinge des Hauses Savoyen zu entwinden, konnten nicht verhindern, dass es nun in die Gewalt der Raron fiel.
Diese Familie, deren Macht auf hohen Verbindungen und ausgedehnten Besitzungen im Norden der Alpen fusste, schien in die Stellung der intriguanten Familie La Tour einrücken zu wollen. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts folgten die Sprösslinge derselben einander auf dem Bischofsstuhl. Unter dem Episkopat Wilhelms V. war sein Oheim Witschard von Raron zu gleicher Zeit Landvogt und Landeshauptmann des Wallis. Da sechs eidgenössische Orte gemeinsam das Eschenthal erobert hatten, wusste der Herzog von Mailand kein anderes Mittel, diese Demütigung zu rächen, als dass er dieses für ihn verlorene Thal dem Herzog von Savoyen verkaufte.
Witschard nahm es nun auf sich, ein Heer durch das Wallis zu führen, das der Herzog entsandte, um von dem neuen Gebiet Besitz zu ergreifen. Die hierüber erzürnten Urkantone beklagten sich bei den ihnen verbündeten Zehnten. Nun wurde in den Flecken des Rhonethales das wohl sonderbarste Aechtungs-Instrument herumgetragen, jene Mazze (massue), die das Wallis von jeder für die Freiheiten des Volkes gefährlichen Macht reinigen sollte. Man stachelte die Missvergnügten zum Anschluss auf; alle, die sich an der Verschwörung beteiligen wollten, schlugen einen Nagel in die Figur, die aus einem Birkenstamm geschnitzt war.
Wenn sie, von Nägeln vollgespickt, vor den Machthaber getragen wurde, blieb diesem nichts übrig, als Schloss und Güter im Stich zu lassen und sich in die Verbannung zu begeben. Das tat auch Witschard, indem er zu seinen Mitbürgern nach Bern floh. Diese, ohne Rücksicht auf die Interessen ihrer Verbündeten, traten zu seinen Gunsten ein und, verstärkt durch die Banner von Neuenburg, Freiburg und Solothurn, stellten sie ein Heer von 13000 Mann auf, das über die Grimsel und den Sanetsch ins Wallis eindrang.
Aber die erste Kolonne, die gegen Ulrichen (Goms) vorrückte, wurde dank der Aufopferung des Hirten Thomas Riedi in Stücke gehauen, der dabei selbst das Leben verlor, nachdem er mit eigener Hand 40 Berner niedergemacht hatte. Der Kampf fand an der gleichen Stelle statt wie der von 1212. Am folgenden Tag zog sich die Abteilung, die über den Sanetsch und Rawil herübergedrungen war, ohne Schwertstreich zurück. Durch die Vermittlung Amadeus' VII. verpflichteten sich die Walliser, dem Herrn von Raron seine Besitzungen zurückzugeben.
Doch die Macht des Hauses Raron war für immer gebrochen. Wenige Jahre später (1446) erschienen mehr als 2000 Landleute vor dem bischöflichen Schloss zu Naters und ertrotzten vom Bischof Wilhelm von Raron die berühmten Artikel von Naters, welche den bischöflichen Rechten bedeutende Einbusse zufügten und das demokratische Prinzip in der Regierung des Landes wesentlich stärkten. Zwar wurden diese Artikel anlässlich der Wahl des Nachfolgers, Heinrich Esperlin (1451), von den Patrioten formell aufgehoben, aber tatsächlich doch bis zu den neuen Statuten des Kardinals Schinner als das geltende Landrecht betrachtet. Im Jahr 1475, unter der Herzogin Jolantha, besetzte ein Heer von 10000 Mann unter dem Kommando des Bischofs von Genf, Johann Ludwig von Savoyen, das Schloss Conthey.
Diese Besatzung forderte durch unverschämte Briefe den Bischof und die «guten Leute» von Sitten heraus. Eine Abteilung derselben fiel in das Plateau von Savièse ein, wo sämtliche Dörfer eingeäschert wurden. Da ward Alarm geschlagen; eine Schar von 4000 Wallisern und einigen Graubündnern versuchten ohne grossen Erfolg, Sitten zu verteidigen, als eine aus Bernern und Solothurnern bestehende Verstärkung, die über den Sanetsch herkam, ihren Mut neu belebte. Die Savoyarden wurden auf der Planta unmittelbar vor der Stadt geschlagen (13. November), flohen dem Genfersee zu und sahen die 16 Schlösser, die sie im Thal besassen, in Flammen auflodern. Von der Morge wurde die Grenze des Wallis an die Brücke von Saint Maurice verlegt.
Die innere Sicherheit wurde durch den Beginn der Mailänderkriege und der Söldnerwerbungen getrübt; die hauptsächlich dabei beteiligten Agenten, Bischof Jost von Silenen, Kardinal Schinner und Georg Supersaxo wurden der Reihe nach durch die Mazze verbannt. Auf diese Periode, die vorzugsweise durch äussere Ereignisse gekennzeichnet wird, folgt die der Reformation. Im Vorbeigehen wollen wir bemerken, dass die Eroberung des Bezirks Aigle durch die Berner, die sich beeilten, hier die Reformation einzuführen, diesen Teil der Diözese Sitten von nun an von den politischen Geschicken des Wallis absonderte.
Dagegen rückten 1536, während die Berner sich des Waadtlandes bemächtigten, die Walliser auf dem linken Ufer der Rhone und des Genfersees bis an die Dranse bei Thonon vor. Doch wurde durch einen den in dieser Stadt unterzeichneten Vertrag das Gebiet von Évian dem Herzog von Savoyen zurückgegeben und die Grenze bis arg die Morge bei Saint Gingolph rückwärts verlegt, unter der Bedingung, dass Savoyen auf alle Ansprüche im Rhonethal Verzicht leiste.
Bis in die letzten Jahre hatten die Geschichtsforscher die Einzelheiten der Religionsstreitigkeiten, die ein ganzes Jahrhundert lang den Frieden im Wallis störten, nur sehr unvollständig aufgedeckt. Die 1904 erschienene Histoire moderne du Valais vom Chorherrn Antoine Grenat und die verdienstvolle Arbeit Grüters über den Anteil der katholischen und protestantischen Orte der Eidgenossenschaft an den religiösen und politischen Kämpfen im Wallis während 1600-1613 werfen ein völlig neues Licht auf diese Periode; doch sind auch in diesen Werken gerade die Urkunden des Landes selbst noch viel zu wenig benützt, um ein abschliessendes Urteil über die ebenso interessante als bewegte Zeit unsrer Geschichte zu gestatten. Wir sehen, dass der Papst Klemens VII. dem Kapitel von Sitten 1526 befiehlt, summarisch gegen die Leute vorzugehen, die abergläubischen Uebungen ergeben sind, gegen die Lutheraner und Häretiker. Nach ¶