Auf der 8 km langen Strecke
Sonogno-Brione erhält das Verzascathal noch von links: den im kleinen
Lago d'Efra am
N.-Hang des
PizzoScaglie (2455 m) und der
Cima d'Efra entspringenden
Wildbach des
Val d'Efra, der bei
Frasco ausmündet und hier im Gneis
einen grossartigen Riesentopf von 12 m Durchmesser und etwa 20 m
Tiefe ausgewaschen hat, den vom
Pizzo del Motto
(2371 m) kommenden und gegenüber des Dorfes
Gerra den schönsten
Wasserfall im ganzen Gebiet der Verzasca bildenden
Motto und
endlich die unbedeutenden Wildwasser vom unwirtlichen
Poncione d'Alnasca (2305 m) her.
Der bis 600 m breite flache Thalboden von Brione, der den obern Abschnitt des Verzascathals abschliesst,
war einst von einem mehrere Kilometer langen, durch einen prähistorischen
Bergsturz aufgestauten
See eingenommen, dessen
Wasser
sich dann durch den mächtigen Schuttwall (mit Blöcken von bis zu 2000 m3 Inhalt) wieder einen Durchpass gegraben haben.
Nun engt sich das Thal mehr und mehr ein. Es erhält von rechts die
Wasser zweier vom
Pizzo Masnè (2202
m),
Madone di Giovo (2264 m) und
Pizzo Orgnana (2218 m) mit zahlreichen Kaskaden herabstürzender
Wildbäche und von links die
Bäche der an Alpweiden reichen drei Thälchen von
Agra,
Pincascia und
Careggio, die an den Flanken der
Cima
di
Lierna (2445 m), der
Punta del Rosso (2510 m), des Pioncone di Precastello (2361 m) und des
Poncione dei Laghetti (2450 m)
entspringen und sich zum Bach des Lavertezzothales vereinigen, um mit einem
Wasserfall in die Verzasca zu münden (540 m).
Im noch tiefer eingeschnittenen Unterlauf endlich hat sich das smaragdgrüne
Wasser dieser letztern seinen
Weg durch die kristallinen Schiefer, den Gneis und den weissen Granit am Fuss
des Poncione di
Vogorno (2447 m), des
Madone
(2402 m) und des Poncione di
Prosa (1874 m) gegraben. Zuflüsse sind auf dieser Strecke der
Corippo (mit schönem
Wasserfall) und die
Mergoscia von rechts, die
Porta von links. Bei
Tenero verlässt die Verzasca ihr Thal in einer sehr tiefen,
in grauen Glimmerschiefer mit parallelen Quarzadern eingegrabenen Mündungsschlucht, um dann zur untersten Tessinebene auszumünden,
hier ein mit demjenigen des Tessin
zusammengewachsenes, breites Delta zu bilden und sich beiMappo in den
Langensee
zu ergiessen.
Das so interessante Verzascathal war bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bloss von einem hie und da nicht ungefährlichen
Fussweg durchzogen. Die Thalbewohner bestritten damals Unterhalt und Bekleidung ausschliesslich aus den Produkten von Bodenbau
und Viehzucht. Während der Jahre 1868-1873 erstellte man sodann die heutige
Thalstrasse, die bei
Gordola
von der grossen Strasse
Bellinzona-Locarno nach rechts auszweigt. Sie erhebt sich zunächst in zwei
Kehren mitten in prachtvollen
Weinrebenpflanzungen bis zu den
Hütten von
Scalate und
Gordemo, die von den «Verzaschesi» und ihrem Vieh im Herbst und Winter
auf einige Monate bezogen werden.
Von hier an dringt nun die Strasse, immer etwa 100 m links über dem in seiner
Schlucht schäumenden Thalwasser
sich haltend, thaleinwärts, überschreitet die Seitenthälchen der Cazza und der
Porta auf steinernen Brücken und erreicht
als erste grössere Siedelung das Dorf
Vogorno (520 m). Zwei Kilometer weiter hinten zweigt ein Fahrsträsschen
nach dem am jenseitigen, rechten Thalgehänge mitten in Kastanienselven idyllisch gelegenen Dorf
Corippo ab. 300 m oberhalb
der
Brücke dieses Strässchens hat die Stadt
Lugano 1905-1907 das
Wasser der Verzasca aufstauen lassen, das nun durch einen
zum Teil als
Stollen durch den Fels geführten Kanal zum Elektrizitätswerk bei
Gordola gelangt.
Hier wird sein Gefälle von 267 m durch drei Turbinen zu einem elektrischen
Strom von 6000 PS umgewandelt, den man über den
Monte Cenere nach
Lugano und selbst bis nach
Chiasso an der Landesgrenze gegen Italien leitet. Immer noch links der Verzasca
hinziehend, erreicht die
Thalstrasse das Dorf
Lavertezzo (548 m), den Hauptort des Verwaltungskreises Verzasca,
wo die Weinrebe noch an Spalieren gezogen wird. 4 km weiter nordwestwärts geht die Strasse auf einer steinernen
Brücke zum
rechten Flussufer hinüber, um nun durch eine wilde Trümmerlandschaft mit mächtigen Glimmerschiefer- und Gneisblöcken
sich zu winden, den
Wildbach des Osolathälchens zu überschreiten und die dreieckige
Ebene von Brione
(761 m) zu erreichen.
Das von N. nach S. orientierte und zwischen hohe Berge tief eingesenkte Verzascathal weist eine ziemlich reichhaltige Flora
auf, in der neben den Elementen nördlicher Herkunft auch einige interessante und seltene Typen der insubrischen Region auftreten.
So trifft man am Thaleingang, in feuchten und schattigen Klüften, das zierliche Frauenhaar (Adiantum capillus Veneris) und
den majestätischen Königsfarn (Osmunda regalis) neben der hier bis auf 350 m Höhe üb. M. herabsteigenden
Alpenrose.
Weiter hinten, besonders im ValLavertezzo, wächst schon von 1400 m an das Edelweiss, sogar auf den Alpweiden, in Masse. Schöne
Waldungen von Kastanien, Buchen und Lärchen bekleiden da und dort die steilen Bergflanken bis zu 1700 m hinauf. Höher entfalten
die schönen Blumen der Alpenflora ihre Farbenpracht, so Aconitum paniculatum,ViolaThomasiana, Potentillafrigida, Saxifraga planifolia, Molopospermum cicutarium, Androsace imbricata und A. glacialis, Soldanella pusilla, Daphnestriata, Eritrichium nanum, Lilium croceum u. a.
Die Bevölkerung des Verzascathales ist das Produkt einer Mischung keltischer und germanischer Elemente. Auf germanische
Abstammung weisen hin die blonden Haare und die blauen Augen, sowie einige in die Mundart des Thales übergegangene
Ausdrücke. Von den ersten Ansiedlern im Verzascathal ist uns nichts bekannt; sie scheinen sich aber in ihrer wilden und
beinahe unzugänglichen Abgeschlossenheit bis tief ins Mittelalter ihre Freiheit bewahrt zu haben. Podestat oder Bürgermeister
der Verzasca war im Jahr 1665 der Baron Johann Anton Marcacci, dessen Geschlecht sich nach dem Blutbad
der sizilianischen Vesper an die Ufer des Zangensees hatte flüchten können. Die Marcacci besassen einen festen
Turm am Eingang ins Verzascathal und erstellten sich
im 17. Jahrhundert zu Brione ein Schloss, das nach dem Tod des letzten
Gliedes der Familie (1854) in andre Hände kam.
Hauptbeschäftigung der «Verzaschesi» oder Bewohner des Verzascathales
ist Viehzucht, sowie Herstellung von Butter und Käse. Das Fleisch der in der Verzasca aufgezogenen Kälber gilt als das zarteste
Kalbfleisch des ganzen Kantons. Die 40 Alpweiden des Thales werden mit 1830 Stück Hornvieh, 3300 Ziegen, 1050 Schafen
und 180 Schweinen bestossen und erzeugen im Jahresdurchschnitt für Fr. 93500 Butter und Käse. Zahlreiche der im Thal niedergelassenen
Familien verbringen fast den ganzen Winter im schönen Hügelgelände zwischen Gordola und Cugnasco, dem besten Weinland des
Kantons. So reduzieren sich die zur Sommerszeit rund 2000 Köpfe zählenden Thalbewohner während der
Wintermonate auf etwa die Hälfte.
Das halbe Nomadenleben der Bewohner mit seinem Aufenthalt von einigen Wochen in der Thalsohle, von vier Monaten auf den Bergwiesen
und Alpweiden und von mehreren Wochen ausserhalb des heimatlichen Thales am Gehänge ob Gordola bedeutet eine unglückselige
Zersplitterung von Kraft, Zeit und Geld. Da der Schulbesuch im Thal selbst sehr unregelmässig ist, hat
man in den Terricciuole zwischen Gordola und Cugnasco Spezialklassen eingerichtet. Weinrebe und Mais werden mit Erfolg noch bis
an das W.-Gehänge der Bergflanke von Vogorno angebaut; höher oben gedeihen bloss noch Roggen, Kartoffeln und etwas Hanf.
Die Edelkastanie wächst bis Gerra hinauf in sehr kräftigen Exemplaren und liefert dem durch seine Nüchternheit
sich auszeichnenden Verzascheser Bauern ein vortreffliches Nahrungsmittel. Das Wildheu wird von den unzugänglichsten Stellen
unter grosser Gefahr zu Thal gebracht. Um die infolge der starken Auswanderung mangelnden Arbeitskräfte zu ersetzen, hat
man seit einigen Jahren metallische Kabel zur Beförderung von Holz und Heu zu den Dörfern hinunter angebracht.
Solcher Kabel bestehen nicht weniger als 62; deren eines, das ausschliesslich dem Holztransport dient, ist volle 3000 m lang.
Mit Hilfe dieser Kabel werden von den schwer zugänglichen Bergwiesen und Rasenbändern alljährlich an die 2000 Meterzentner
Heu, d. h. doppelt so viel als ehedem, zu Thal gebracht. Die infolge zunehmender Stallfütterung ihrer
natürlichen Düngung entbehrenden Alpweiden verarmen immer mehr.
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