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Gegensätze leider einen grossen Teil beitrugen und in den verschiedenen Revolutionen des vergangenen Jahrhunderts stets eine ausschlaggebende Rolle gespielt haben. Sie waren meistens zugleich Schützenvereine und pflegten auch die gegenseitige Unterstützung ihrer Mitglieder in Krankheits- und Todesfällen. Noch heute haben zahlreiche Vereine der verschiedensten Art einen mehr oder weniger stark hervortretenden politischen Hintergrund. Daneben bestehen aber glücklicherweise auch manche, an Zahl stets zunehmende Vereinigungen, die ohne Rücksicht auf die politische Zugehörigkeit ihrer Mitglieder ihre besondern Zwecke verfolgen: Armen- und Unterstützungsvereine, Schützen-, Turn-, Gesang-, Musik- und Sportvereine, Jagd- und Fischereivereine, gemeinnützige und Berufsvereine etc. Sehr bedeutend sind die kantonale Gemeinnützige Gesellschaft, der Lehrerverein, der kantonale Landwirtschaftliche Verein mit mehreren blühenden Sektionen und zahlreiche Arbeitervereine.
Man darf wohl sagen, dass der Kanton Tessin mit Bezug auf das Vereinswesen keinem andern Kanton der Schweiz nachsteht. Die 97 Schützenvereine zählen zusammen 9769 Mitglieder und stehen unter der Aufsicht einer kantonalen Schiesskommission. Die Schiessplätze erhalten dank der von der Regierung gewährten Geldbeiträge ständig Verbesserungen und werden sich in naher Zukunft denen der übrigen Kantone ebenbürtig zur Seite stellen können.
Die Tessiner Volkssitten zeichnen sich durch manche Eigentümlichkeiten aus. Sehr beachtenswert ist der Kontrast zwischen dem Geist der Solidarität, der die Tessiner - besonders im Ausland - beseelt, einerseits und dem leidenschaftlichen Hass, der zwischen den Anhängern der verschiedenen politischen Parteien besteht und sich bis auf die rein privaten und geschäftlichen Beziehungen fühlbar machen kann, andrerseits. Freilich ist zu betonen, dass sich die politischen Sitten seit der vor 15 Jahren erfolgten Einführung des Systems der Proportionalvertretung beträchtlich verfeinert haben und die Wahlkämpfe mit loyaleren Mitteln und weniger Aufregung als früher ausgefochten werden.
Der Tessiner ist im allgemeinen intelligent, nüchtern, guter Arbeiter und seiner Heimat sehr anhänglich. Der Auswanderer hegt stets die Hoffnung, dereinst wieder heimkehren zu können. Die Liebe zur angestammten Heimat beseelt die seit langen Jahren im Ausland lebenden Söhne des Kantons in nicht minderem Mass als den eben erst Ausgewanderten oder im Kanton verbliebenen Landsmann.
25. Geschichtliche Uebersicht.
Als älteste Bewohner des Landes betrachtet man die keltischen oder gallischen Lepontier, von denen die Leventina ihren Namen erhalten haben soll. Später (ums Jahr 200 v. Chr.) gehörte der Tessin zur Gallia Cisalpina. An verschiedenen Orten vorgenommene Ausgrabungen haben uns unzweifelhaft Beweise für die Römerherrschaft geliefert, und es scheint als ob Bellinzona und Stabio schon vor der Römerzeit befestigte Plätze und Militärlager gewesen seien. Nach dem Zerfall des römischen Weltreiches kam das Tessingebiet der Reihe nach unter die Herrschaft der Goten, Longobarden und Franken (770), um dann von 1100-1353 unter den Herrschern von Como und Mailand zu stehen.
Bis 1402 gehörte dann das Land ausschliesslich den Visconti von Mailand, aus welcher Zeit Bellinzona und Locarno heute noch Denkmäler besitzen. Nach 1402 begannen die Eroberungszüge der Eidgenossen. 1403 besetzten die Urner die Leventina, und 1410 kam Bellinzona an die Eidgenossen. Es folgten zahlreiche Kämpfe zwischen den Eidgenossen und Mailand, worauf das Bleniothal, die Riviera und Bellinzona 1510 endgiltig zu gemeinsamen Vogteien von Uri, Schwyz und Nidwalden, sowie Mendrisio, Lugano, Locarno und die Valle Maggia 1512 zu solchen der 12 alten Orte wurden.
Dieses oft harte Untertanenverhältnis dauerte bis 1798. Von den Versuchen der Tessiner, das Joch der Eidgenossen abzuschütteln, ist namentlich der Aufstand der Leventina von 1755 zu erwähnen, der von den Urnern mit Hilfe ihrer Verbündeten rasch unterdrückt und strenge geahndet wurde (Hinrichtung von elf der Führer der Bewegung). Die von der französischen Revolution in die Welt hinausgeworfenen freiheitlichen Ideen führten 1798 auch im Tessin zum Sturz der Herrlichkeit der eidg.
Landvögte. Sogleich entbrannten aber zwischen den Tessinern selbst heftiger Zwist, indem ein Teil den Anschluss an die Zisalpine
Republik forderte und in der Nacht des 15. Februar einen Ueberfall von
Lugano wagte, der jedoch von den «Freiwilligen»
(Volontari) glücklich abgeschlagen werden konnte. Nun erklärten sich die
Tessiner für den Anschluss an die Eidgenossenschaft,
die auf ihre einstigen Hoheitsrechte verzichtete
, worauf das Land, in die beiden Kantone
Lugano und
Bellinzona getrennt, zum
integrierenden Bestandteil der helvetischen Republik ward. 1803 stellte die Mediationsakte die Autonomie
des nun zu einem einzigen eidgenössischen
Stand geeinten Kantons Tessin
ausdrücklich fest, worauf man zum erstenmal zur Wahl eines Grossen
Rates von 110 Mitgliedern und eines Kleinen Rates (als vollziehender Behörde) von 9 Mitgliedern schritt.
Die Jahrhundertfeier von 1798 und 1803 sind in Lugano 1898 und in Bellinzona 1903 mit grossem Pomp begangen worden. Die erste Kantonsverfassung von 1803 wurde 1815 durch einen weniger demokratischen Bundesvertrag und dieser wieder 1830 durch eine neue Verfassung ersetzt. Die politischen Fehden der folgenden Jahre führten zur Revolution von 1839, mit welcher die Liberalen die sog. gemässigte Regierung stürzten. Während dann die Gegenrevolution der Gemässigten vom Jahr 1841 scheiterte, hatte diejenige von 1855, die von den Konservativen im Verein mit einer Fraktion der liberalen Partei (den sog. Fusionisten) inszeniert ward, den Erfolg, dass sie ¶
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die Verfassung des nämlichen Jahres zeitigte, die mit verschiedenen Partialrevisionen heute noch zu Recht besteht. 1803-1878 hatte der Kanton die drei Hauptorte Locarno, Lugano und Bellinzona, die sich als Sitz der Regierung alle sechs Jahre ablösten. 1878 wurde sodann Bellinzona als Regierungssitz und einziger Kantonshauptort bestimmt. Am brach eine Revolution der Radikalen gegen die seit 1877 am Ruder befindliche katholisch-konservative Regierung aus, die eine eidgenössische Intervention notwendig machte. Seither ist der Kanton dank dem Zusammenwirken und dem versöhnlichen Geist der geachtetsten Führer beider Parteien in eine Aera ruhiger Arbeit getreten, die auf den verschiedenen Gebieten des sozialen und wirtschaftlichen Lebens des Landes schon zahlreiche gute Früchte getragen hat.
[Dr Rossi und G. Mariani.]
26. Hervorragende Männer.
Der Tessin hat sich besonders auf dem Gebiet der Kunst einen weltberühmten Namen gemacht. Von Baumeistern und Architekten seien genannt: Fontana (1543-1607), der Erbauer des Obelisken auf dem Platz vor der St. Peterskirche in Rom; Trezzini, der einen hervorragenden Anteil an der Gründung von St. Petersburg nahm; Domenico Pelli, Giacomo Albertolli (1742-1841), Pietro Morettini, Simone Cantoni, Luigi Rusca, Pietro Nobile.
Maler und Baumeister: Maderni, Borromini und Serodini aus dem 17. Jahrhundert;
dann Giacomo Discepoli, P. F. Mola, C. Tencalla, Fedele Albertolli, Giuseppe Reina, P. und A. Mercoli, G. B. Gilardi, Rusca, Adamini;
Luigi Canonica, der Erbauer der Arena in Mailand;
F. Somaini, Antonio Ciseri.
Bildhauer: Lorenzo Vela (1812-1897), Professor an der Akademie in Mailand, und Vincenzo Vela († 1891), Schöpfer des «Spartacus» und des «Sterbenden Napoleon», dessen Haus in Ligornetto der Eidgenossenschaft gehört und zu einem nationalen Museum umgewandelt ist.
Komponist: Giovanni Frippo.
Theologen und Philosophen: F. Soave (1743-1806), G. B. Torricelli, G. Branca; M. Farina, Bischof von Padua; Bischof J. M. Luvini und Erzbischof G. Fraschina.
Mathematiker: C. F. Gianella († 1790).
Geograph und Statistiker: Bundesrat Stefano Franscini (1796-1857).
Naturforscher: Luigi Lavizzari († 1875), G. Stabile, A. Riva.
Geschichtsforscher und politische Schriftsteller: G. Cetti, G. A. Oldelli, Abt Vanelli, G. Curti, G. G. Nessi, A. Cattaneo, A. Baroffio.
Rechtsgelehrte und Volkswirtschafter: V. d'Alberti, Luvini-Perseghini, A. Albrizzi, C. Lurati, S. Beroldingen, G. Bernasconi, C. Cattaneo, Severino Guscetti, G. Ferrini.
Aerzte und Philanthropen: A. Carnuzio, P. und F. P. Magistretti, T. A. Rima.
Pädagogen: A. Fontana, G. Bagutti, A. Lanzoni, Balestra, G. Ghiringhelli.
Schriftsteller: Pietro Peri, Antonio Caccia, Buzzi etc.
27. Bibliographie.
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Baroffio, A. Dell'invasione francese nella Svizzera. Lugano 1873. - Baroffio, A. Dei paesi e delle terre costituenti il cant. del Ticino fino all'anno 1798. - Lugano 1879. - Bertoni, A. Delle condizioni acquarie del Ticino. Lugano 1851. - Bianchi. Cenni storici sul Lukmanier. Lugano 1860. - Brusoni. Da Milano a Lucerna. Bellinzona 1901. - Brusoni. Guida delle Alpi centrali. Bellinzona 1898. - Brusoni. Guida delle Alpi Ossolane tra Locarno e il Sempione. Bellinzona 1901. - Hardmeyer, J. Locarno und seine Thäler. (Europ. Wanderbilder. 89/91). Zürich 1885. - Hardmeyer, J. Lugano und die Verbindungslinie zwischen den drei oberitalien. Seen. (Europ. Wanderbilder. 114/116). Zürich 1886. - Hardmeyer, J. Die Gotthardbahn. (Europ. Wanderbilder. 30/32). Zürich 1888; 6. Aufl. Zür. 1908. - Hardmeyer. J. Die Monte-Generosobahn (Europ. Wanderbilder. 180), Zürich 1890. - Rahn, J. R. I Monumenti artistici del medio evo nel cant. Ticino. Bellinzona 1894. - Rahn, J. R. I dipinti del Rinascimento nella Svizzera italiana. Bellinzona 1892. - Riva. L'ornitologo Ticinese. Lugano 1865. - Stabile. Fossiles des environs du Lac de Lugano. Lugano 1861. - Bianchi, G. Gli Artisti Ticinesi; dizionario biograf. Lugano 1900. - Balli, F. La Valle Maggia a volo d'uccello. Torino 1884. - Boniforti. Il Lago Maggiore e suoi dintorni. Milano 1858. - Spitteler, C. Der Gotthard. Frauenfeld 1897. - Atti della Società elvetica di Scienze naturali adunata in Locarno 1903. Zurigo 1904.