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GEOGRAPHISCHES LEXIKON DER SCHWEIZ
T
(FORTSETZUNG)
GEOGRAPHISCHES LEXIKON DER SCHWEIZ
T
(FORTSETZUNG)
(Val) (Kt. Graubünden, Bez. Vorderrhein). 2400-1200 m. Oberste Thalstufe des Vorderrheins und Bündner Oberlandes, oberhalb Disentis. Das Tavetsch hat eine Länge von etwa 12 km und, von einem Gebirgskamme zum andern gemessen, eine durchschnittliche Breite von fast 15 km. Die Gebirgsgrenzen sind: im N. der Oberalpstock (3330 m), Piz Ner (3059 m), Piz Giuf (3098 m) und Crispalt (3080 m);
im W. der Piz Sum Val (2983 m), Piz Tiarms (2915 m), Piz Nurschallas (2744 m), der Six Madun oder Badus (2931 m), Piz Ner und Piz Portgèra (2767 und 2753 m);
im S. der Piz Ravetsch und Piz Borel (3010 und 2963 m), Piz Tenelin (2851 m), Piz Blas (3023 m) und Piz Rondadura (3019 m);
im O. der Piz del Laiblau (2963 m), Piz Vitgira (2984 m) und der Piz Ganneretsch (3043 m).
Die Vergletscherung ist im Gebiet des Oberalpstockes, des Ganneretsch, Piz del Laiblau, Piz Blas-Piz Rondadura und Piz Ravetsch am bedeutendsten. An Pässen ist in erster Linie der Oberalppass (2052 m) mit seiner imposanten, postalisch und militärisch wichtigen Alpenstrasse zu nennen; er leitet aus dem Tavetsch nach Andermatt im Kanton Uri hinüber und berührt den ¼ Stunde langen, forellenreichen Oberalpsee, den man leicht auch über den Pass da Tiarms (2154 m) von Ruèras oder Tschamut (Chiamut) durch das kurze Tiarmsthälchen her erreichen kann.
Von Ruèras durch Val Milar führt ein Uebergang (2479 m) über die Mittelplatten in das Etzlithal, Seitenzweig des Maderanerthals, sowie der Krüzlipass (2350 m) von Sedrun und Ruèras durch Val Strim ebendahin. Südl. der Oberalp folgen der Lohlenpass (2388 m) und Maigelspass (etwas über 2400 m), die beide Val Maigels mit dem Unteralpthal und Andermatt verbinden. In den Kanton Tessin endlich führen folgende, über rauhe Joche und Gletscherfelder strebende Passpfade: der Passo Pian Bornengo (2636 m) aus Val Maigels, der Passo Vecchio (2715 m) aus Val Cornera und der Nalpspass (2754 m) aus Val Nalps. Der Passo Rondadura (2714 m) hingegen leitet aus dem Hintergrund des Nalpsthales in östl. Richtung nach Santa Maria im Medelserthal und auf den Lukmanier hinüber.
Von den Seitenthälern des Tavetsch, das im Tomasee (2344 m) die obern und im Lai Maigels am Fusse des vergletscherten Badusstockes die untern Rheinquellen besitzt, sind die südl. viel länger und weniger steil als die nördl. Deren kürzestes ist Val Gierm im O.; am längsten sind das schöne Val Nalps (3 Stunden lang) und das Val Cornera (2 Stunden lang), zwischen denen die dunklen Berge der vergletscherten Kette Piz Blas-Piz del Ufiern-Piz Serengia-Piz Paradies-Piz del Malèr bis nahe zum Hauptthal sich nach N. ziehen. Kürzer ist die ähnlich gestaltete und ebenfalls vereiste Parallelkette Piz Ravetsch-Plaunca Cotschna zwischen Val Cornera und seinem westl. Nebenarm Val Maigels. Von den nördl. Seitenzweigen des Tavetsch münden Val Strim, deren längstes, unterhalb Zarcuns-Camischolas, Val Milar und Val Giuf bei Ruèras und Val Tiarms oberhalb Tschamut zum Vorderrhein aus.
Innerhalb diesen wilden und grossartigen Berg- und Gletschergebietes breitet sich das Tavetsch als weite, grüne Mulde aus. Obwohl die Thalstufe freundlicher Bilder nicht entbehrt, bleibt der Charakter der Landschaft im ganzen ein ernster und strenger. Die Dörfer der untern Lagen stehen meist auf begrünten alten Schuttkegeln. Hauptort des Thales, dessen Bevölkerung in 13 Ortschaften und Weilern zerstreut lebt, ist Sedrun oder Tavetsch (1398 m), Molken- und Luftkurort 8,8 km wsw. Disentis, als Mittelpunkt für naturhistorische Exkursionen sehr geeignet.
Die nahen Dorfgruppen
Zarcuns und
Camischolas liegen im schönsten und fruchtbarsten Teil des
Thals, in welchem in geringer
Entfernung
Ruèras (1401 m) und die Ruine Pultmenga
(Pontaningen) folgen. Letztere war der Stammsitz der Familie gleichen Namens,
der der Abt Peter von
Pontaningen, der Begründer des
Trunser Bundes, angehörte. Wie
Sedrun den Verwüstungen
des Drunbaches ausgesetzt blieb, sind
Ruèras und das weiter oben folgende schöne Dörfchen
Selva (1538 m) von Lawinen gefährdet,
die im Tavetsch oft und schrecklich gewütet haben. So fanden z. B. 1749 in
Ruèras und Umgehung 100 Menschen und 237 Stück
Vieh im Lawinenschnee ihren Tod. Das oberste
Dorf,
Tschamut oder Chiamut (1640 m), liegt 6,5 km wsw.
Sedrun. Es lehnt sich
vorn an einen freundlich überwachsenen Felsenhügel an, der als niedrige, abschliessende
Schwelle auf die andere
Seite der
Strasse sich hinaufzieht und hinten absenkt zu
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einem ziemlich breiten, tiefen Thalkessel. Ausblick auf die ansteigende Oberalpstrasse und auf den Gebirgskranz des Badus, Piz Cavradi, Piz del Malèr und Piz Calmot. Der ärmlich gebaute Ort macht dank dieser landschaftlichen Lage einen bedeutenden Eindruck. Er ist zugleich Luftkurort und die letzte grössere Siedelung im Thal. Die Bergstrasse steigt nun in mächtigen Kehren und mit imposanten Schutzwehren versehen aufwärts; an ihr sind auf den Felsen Rundhöcker und Gletscherschliffe zu sehen. Zu den obern Rheinquellen (dem Tomasee) gelangt man, indem man bei Surpalix abbiegt, zwei Alpenbäche überschreitet und das Plateau der Alp Palidulscha gewinnt, wo eine Fülle ernster Schönheit ausgebreitet liegt. Herrlich präsentiert sich dem Auge auch der aus den Siarraseen dem Rhein zustürzende zweite klare Bach. Nach den grossen Strassenkehren in Surpalix folgt die Passhöhe (5,6 km hinter Tschamut) und in der Nähe, tiefer unten, der prächtige Oberalpsee über der graubündnerisch-urnerischen Grenze.
Die Bevölkerung des Tavetsch (810 Ew.) ist romanischen Stammes und katholischer Konfession. Der Charakter ist entschlossen und energisch, der Schlag kräftig und gesund, doch herrscht wenig Wohlstand. Berühmt war der Maler Diog von Ursern (1762-1834), der, mütterlicherseits von Tschamut stammend, sich in Rom an klassischen Mustern herangebildet hatte und als Porträtist grossen Ruhm erwarb. Von ihm stammen die Freskomalereien des Turms in Sedrun. Hauptreichtum des Thales sind die fruchtbaren Wiesen und trefflichen Weiden.
Der Tavetscher Käse und Alpenhonig sind gesucht. Im Thal werden noch Roggen, Gerste, Flachs und Erbsen gepflanzt und zwar bis Tschamut (1640 m); doch reicht der Getreidebau an der O.-Mark Graubündens höher, so im Scarlthal bis 1813 m und im Samnaun bis 1832 m. Der Wald geht bis über 1900 m hinauf. Der Kirschbaum reicht nach Brügger im Tavetsch bis 1290-1320 m, in Curaglia im Medelserthal bis 1230 m. Ueberhaupt steigen sowohl der Wald als die Kulturgewächse im Lukmaniergebiet höher hinan als am Gotthard.
Die Legföhre (Pinus montana) z. B. nimmt an den Gehängen der Schöllenen in Uri einen der tiefsten Standorte ein in einer Höhenregion, wo im Tavetsch und Medels noch Flachs, Getreide und Kartoffeln wachsen; ja das Urserenthal erscheint fast waldlos. Dies alles entsprechend der höhern Temperatur und dem trockenere Klima der Gegend am Lukmanier gegenüber dem Gotthard im engern Sinne. Gleiche Höhenlagen der Lukmanier-Region besitzen eine nicht unbedeutend höhere Jahres- und namentlich Sommertemperatur als der Gotthard und nähern sich mit ihrem Klima mehr den Ostalpen, während das letztere Gebiet sich dem Klimatypus der Westalpen anschliesst.
Botanisch bietet die Oberalpgegend nicht so viele Seltenheiten wie das Engadin, das Avers und das Albulathal, doch ist die Flora charakteristisch und von Interesse. Auffallend erscheinen im Tavetsch die Dörrgerüste (Histen, Chichnes), die man zum Trocknen und für das Ausreifen des Getreides aufrichtet. Geologisch ist das Tavetsch die Fortsetzung der Urserenthalmulde. Es besteht zur Hauptsache aus den gleichen kristallinen Schiefern wie diese. Diese Schieferzone stellt eine muldenförmige Einlagerung in die Schenkel der Riesenfächer des Aar- und Gotthardmassivs dar.
Der Nordschenkel der Mulde ist zerdrückt oder verkümmert. Gesteine sind Gneis, Serizitphyllite und -gneise, Glimmergneis, Granitgneis und Bankgranit. Auf der südl. Thalseite lehnen sich an die Serizitphyllit- und Gneiszone glimmerreiche und typische Gneise; im N., vom Oberalpstock über den Crispalt reichend, tritt Protogin- oder Granitgneis auf. Typische Hornblendeschiefer sind auf beiden Thalseiten seltener entwickelt. Bei Tschamut, Selva, im obern Val Medels und Val Nalps treten schmale Züge von Talkschiefer (Lavezstein) und Chloritschiefer auf.
Die Talkschiefer von Tschamut fanden bis heute Verwendung für den Bau der bekannten Tavetscheröfen. In die kristallinen Schiefer greift von O., dem Somvixerthal her, eine nur sehr schmale Sedimentfalte von Anthrazitschiefer, Verrucano, Rötidolomit der Trias und schwarzen Bündnerschiefern vor, die das Val Cornera nicht mehr erreicht. In den Bündnerschiefern findet man Belemniten und Pentacrinus tuberculatus. Bedeutende Moränen in Val Maigels, an den Siarraseen, unter dem Pass da Tiarms und in Val Giuf, auch viele Gletscherschliffe und Rundhöcker. Das Thal ist reich an Mineralien: Bergkristall in den verschiedensten Varietäten, Adular, Anorthit, Albit, Danburit, Milarit, Apatit, Turnerit, Titanit, Brookit, Anatas, Magneteisen, Eisenglanz, Bleiglanz, Zinkblende, Disthen, Zirkon, Turmalin, Beryll etc. Das Tavetsch gehört mit der Umgebung von Disentis und dem Val Medels zu den mineralreichsten Gegenden von Graubünden.
Bibliographie. Heim, Alb. Geologie der Hochalpen zwischen Reuss und Rhein. (Beiträge zur geolog. Karte der Schweiz. 25). Bern 1891. - Theobald, G. Das Bündner Oberland. Chur 1861. - Theobald, G. Naturbilder aus den rät. Alpen. 3. Aufl. von Chr. Tarnuzzer. Chur 1893. - Coaz, J. Das Bündner Oberland. (Itinerarium des S. A. C.). St. Gallen 1874. - Tarnuzzer, Chr. Illustr. Bündner Oberland. (Europ. Wanderbilder. 256-258). Zürich 1903.