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Bald nachher sind das 1903 durch eine Lawine verschüttete Schirmhaus VI (Refuge de la Barrière genannt; 1993 m) und das seit kurzem erstandene Hotel Simplon Kulm erreicht, von wo man in wenigen Minuten zum Passscheitel (2010 m) gelangt. Einzig grossartig und überwältigend ist hier die Rundsicht. Gegen N. umschliesst den Horizont in weitem, reichem Kranze die blendende Kette der Berneralpen mit ihren zahllosen Gletschern und firnbedeckten Zinnen. Unter allen imponiert das Aletschhorn und der wie eine Riesenschlange in langen Windungen sich krümmende Grosse Aletschgletscher. Zu unsern Füssen, in blauen Duft gehüllt, verlieren sich die Schluchten, durch die wir heraufgestiegen sind.
Gegen O. tauchen hinter den Wänden des Hübschhorns die drei vergletscherten Spitzen des Monte Leone-Massivs hervor, und im W. zieht sich vom Glishorn her eine Gebirgskette über das Erzhorn, Faulhorn, Schienhorn, Mayenhorn, Sirwoltenhorn und Rauthorn zur Gruppe der Fletschhörner (Rossbodenhorn, Laquinhorn und Weissmies) empor. Gegen S. öffnet sich ein weites Hochplateau, überdeckt mit reichen Matten; der hier sanfte Krummbach schlingt sich durch deren Mitte, und zahlreiche Büsche von Alpenrosen bedecken die Halden und Rundhöcker inmitten einer reichen Alpenflora.
Ein riesiges Gebirge, in vollendet edler Formenschönheit, überragt das idyllische Weideland: das Massiv der Fletschhörner. Mächtige Gletscher, in ihrem Sturze gefrornen Wasserfällen gleichend, hängen von ihnen herab und verbreiten ein Meer von Licht und Schimmer, die unser ungewohntes Auge nicht lange zu ertragen vermag. 23,9 km von Brig entfernt steht das Simplonhospiz (2001 m), von dem aus die Strasse am rechtsseitigen Gehänge eines frischgrünen Thälchens herniedersteigt, in dessen Grund man das am alten Weg stehende ehemalige Hospiz, den Stockalperschen Alten Spital (1872 m), erblickt. In dessen Nähe sind von Pater Barral (Immensee) ausgedehnte Gebäulichkeiten angelegt worden, die nun leer stehen.
Nachdem man einen Felsvorsprung umschritten, hinter dem sich das Schirmhaus VII (Engeloch genannt; 1795 m) birgt, überschreitet man in 1617 m den Krummbach und erreicht kurz hinter dem Weiler Eggen die Ueberreste der im März 1901 vom Rossbodengletscher herabgekommenen mächtigen Eis- und Schneelawine, worauf bald das Dorf Simpeln (1479 m) folgt, das 32,4 km von Brig und 11,2 km von der Landesgrenze gegen Italien entfernt liegt. Unterhalb Simpeln beschreibt die Strasse im tiefern Abschnitt des Laquinthales eine grosse Schlinge und erreicht dann den Weiler Gsteig oder Algaby (Schirmhaus VIII; 1232 m), wo sich Krumm- und Laquinbach zur Doveria vereinigen und hinter welchem die 5 km lange, prachtvolle und grossartige Schlucht von Gondo beginnt, deren stellenweise nahezu senkrecht aufstrebenden Felswände vielfach 700 bis 900 m Höhe erreichen.
Auf die Gallerie von Algaby folgt bald ein verfallenes Gebäude (die sog. Alte Kaserne; 1171 m) und dann der über die Doveria (oder Diveria) gespannte «Ponte Alto», eine kühne Steinbrücke. Bei dem «Casermetta» genannten Schirmhaus IX (1071 m) setzt man mit dem Pont de la Caserne wieder auf das linke Doveriaufer über und durchschreitet die 220 m lange und je 8 m hohe und breite Gallerie von Gondo, über deren ersten Oeffnung die Inschrift Aere Italo MDCCCV. Nap. Imp. in den Stein gehauen ist.
Gegenüber einer am alten Weg liegenden Befestigungsanlage führt die Strasse mit einer Brücke über den wild herabstürmenden Alpienbach (oder Fressinone) und erreicht dann den Weiler Gondo oder Ruden (857 m; 42 km von Brig entfernt) mit dem achtstöckigen Stockalperturm (Schirmhaus X), sowie kurz nachher nahe der Kapelle San Marco (802 m) die durch eine Granitsäule markierte italienische Grenze. Jenseits des Weilers und der Gallerie Paglino zieht die Strasse durch das italienische Dorf Iselle (657 m; 46,6 km von Brig entfernt), die erste Station der Simplonbahn an der Südflanke der Alpen, wo sie über den Richtungsstollen des Tunnels geht und am italienischen Eingang des Simplontunnels vorbeiführt. Nachdem man das heute von Arbeiterhäusern umrahmte Schirmhaus XI hinter und das Dorf Varzo auf der Höhe über sich gelassen, überschreitet man auf dem Ponte Boldrini (560 m) die Cairasca. Während die Eisenbahn neben dem Weiler Gabbio auf dem rechten Ufer der Doveria durchgeht, bleibt die Strasse links vom Fluss, bis auch sie ihn mit der aus weissem Marmor erbauten berühmten Brücke von Crevola (4,5 km oberhalb Domodossola) überschreitet.
Diese in ihrem Verlauf soeben kurz skizzierte Simplonstrasse ist als Militärstrasse auf Befehl Napoleons erbaut worden, der seine Absicht, den Simplon mit einer strategischen Strasse zu überziehen, zum erstenmal in einem vom datierten Rapport an das Direktorium kund gibt. Er schreibt darin aus seinem Generalquartier in Mailand, dass er mit dem Wallis Unterhandlungen angeknüpft habe, um im Namen Frankreichs und der Zisalpinischen Republik einen Vertrag abzuschliessen zu dem Zwecke, den französischen Truppen den Durchzug vom Genfersee durch das Rhonethal bis zum Langensee zu sichern, wobei er beifügt, dass er durch einen ausgezeichneten Ingenieur einen Kostenvoranschlag für die zu diesem Zweck zu erbauende Strasse habe aufstellen lassen.
Nachdem er erster Konsul geworden, beauftragte Napoleon am den in Genf niedergelassenen Chef-Ingenieur des Département du Léman, Nicolas Céard, mit der Oberleitung der Bauarbeiten, zu deren Ausführung er ihm zwei unter den Ingenieuren Lescot und Duchesne stehende Ingenieurbrigaden zuteilte. Am d. h. wenige Wochen vor der Schlacht bei Austerlitz, konnte der Inspektor Céard, der den Beginn der Bauarbeiten unter seiner Leitung vom datiert, von Sesto Calende aus nach Paris berichten, dass der Simplon nun für Infanterie und ¶
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Kavallerie gangbar sei und in wenigen Tagen auch für den Uebergang von Artillerie bereit sein werde. Zugleich mit der Strasse über den Pass im engern Sinne hatte man auch die Zugangsstrassen von Morez (im Jura) und Arona (Italien) her erstellt. So war z. B. von der Tour Ronde am savoyischen Ufer des Genfersees bis Glis am Walliser Fuss des Simplon eine Strassenstrecke von 35,4 km Länge vollständig neu erstellt und eine solche von 117,9 km ausgebessert und korrigiert worden.
Das Strassenstück Glis-Domodossola kostete 7586102 Fr., von welcher Summe 4106637 Fr. auf Frankreich und 3479465 Fr. auf die Zisalpinische Republik entfielen. Für den gesamten Strassenzug von der Tour Ronde bis Arona, der den Bau von 601 Brücken und Uebergängen, sowie von 525 m in den Fels gesprengten Gallerien notwendig gemacht hatte, beliefen sich die Kosten auf 9750000 Fr. Die Breite der Simplonstrasse beträgt 7,2-8,4 m und ihre durchschnittliche Steigung 3,5%. Einige Abschnitte steigen freilich beträchtlich steiler an, erhöhen sich aber nirgends auf über 11%. Um vollkommen frei über diese für ihn so wichtige Heerstrasse verfügen zu können, setzte es Napoleon durch, dass das Wallis am zum französischen Département du Simplon umgewandelt wurde.
Geschichtliches.
Dem Simplon sind in vergangener Zeit die verschiedensten Namen beigelegt worden: Semplun, Xemplun, Simpilion, Sempione, Sompano, Simpelberg, Sümpeler, Mons Sempronius, Scipionis Mons, Brigerberg, Mons Brigae und sogar Saint Plomb! Der Pass ist möglicherweise von den Anwohnern der beidseitigen Flanken schon vor der Römerzeit begangen worden, worauf die 1899 in Glis aufgedeckten Gräber aus der Steinzeit und die in der Umgebung von Brig zu wiederholten Malen entdeckten Reste aus der Bronze- und Eisenzeit hinweisen dürften. Da also die N.-Flanke des Simplon schon in vorhistorischer Zeit besiedelt gewesen ist, erscheint es durchaus natürlich, dass diese Leute, die Viberer, mit ihren Nachbarn jenseits des Gebirges, den Lepontiern, in Verkehr traten.
Mit der Römerherrschaft, die zur Zeit des Augustus die alten Völkerstämme des Rhonethales aus ihren Stammsitzen vertrieb, beginnt ein zweiter, weniger unsicherer Abschnitt in der Geschichte des Passweges. Man hat bei Vogogna im Val d'Ossola eine in den Fels gehauene Inschrift entdeckt, nach welcher unter dem Konsulat des C. Domitius Dexter und des Ti. Manlius Fuscus auf Befehl des Venustus Condianus, Statthalters der Provinz der Alpes Atractianae, von M. Valerius Optatus und Cajus Valerius Thales ein Weg über den Berg gezogen worden ist, dessen Erstellung die Summe von 13600 Sesterzen gekostet habe.
Diese Angaben lassen uns den Zeitpunkt des Wegebaues ums Jahr 195 n. Chr. festsetzen. Angesichts der lächerlich geringen Summe von 13600 Sesterzen (zu etwas mehr als 10 Rappen nach heutigem Gelde) und der kurzen Zeit, in welcher der Bau vollendet gewesen sein muss, schliesst man, dass es sich dabei keineswegs etwa um eine Via publica oder Heerstrasse, sondern um einen einfachen Pfad gehandelt habe. Die grosse römische Heerstrasse war eben damals der Grosse St. Bernhard. Dabei nahm dieser Römerweg über den Simplon einen ganz andern Verlauf als die spätere mittelalterliche Strasse.
Zwischen dem Engeloch (heutiges Schutzhaus VII) und Varzo vermied er die Schluchten der Doveria und blieb auf den Höhen links über diesem Fluss. Von Varzo an ging er über Trasquera und dann mit starker Steigung in der Richtung gegen Alpien. Auf der Walliserseite folgte der Pfad den Gehängen des Alpienthales am Kellenhorn, um dann über Gorevetsch und Piannezza zu ziehen. Das kleine Plateau von Geschera oder Keschera hiess noch im Jahre 1523 Planum Castellum (Kastell-Ebene), weil hier nach Römersitte ein die Strasse sicherndes Kastell vorhanden war.
Von hier an ging es über Wengen, Kellenhorn, Kastellberg und Kessikumme am Fuss des Glatthorns vorbei und weiterhin über Hohmatten bis zum Engeloch, von wo an bis Brig das Tracé mit dem spätern Weg zusammenfiel. Die Verbindung Alpien-Kessikumme am Fuss des Kellenhorns vorbei ist noch jetzt begangen und unter dem Namen «Bockspfad» bekannt. Dass der Weg über den Simplon zur Römerzeit nicht als Heerweg, sondern als blosse Handelsverbindung gedient hat, zeigt auch ein in Sitten aufgefundener Meilenstein aus der Mitte des 3. Jahrhunderts, der die Inschrift Leuga XVII trägt und damit die genaue Entfernung von dieser Stadt bis auf die Passhöhe angibt.
Der Ausdruck «Leuga» als Angabe der Distanzen aber fand bloss bei Handelswegen, nicht dagegen bei Heerstrassen Verwendung, welch letztere in «milia» eingeteilt waren. Der Untergang des römischen Reiches im 5. Jahrhundert unterbrach den nun einmal bestehenden Verkehr über den Simplon nicht mehr. Es ist wahrscheinlich, dass die Barbaren auf ihren Wanderungen und Kriegszügen diesen Wegmehrfach benutzt haben. So zogen z. B. die Burgunder unter ihrem König Gundobald 489 über den Simplon nach ¶