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Giubiasco bei Bellinzona stammenden Cesare Mariotti (1852-1891) sind dagegen nicht politischen Inhalts (Poesie in vernacolo giubiaschese. Bellinzona 1900. 57 Seiten). Diese beiden Sammlungen bilden einen blassen und weit abstehenden Reflex der mailändischen Gedichte von Carlo Porta, des ausgezeichnetsten Dialektdichters von Italien, und vertreten die Tessiner Mundarten von rein lombardischem Typus. Sämtliche mundartlichen literarischen Veröffentlichungen des Tessin beschränken sich übrigens auf die Dialekte vom lombardischen Typus.
Der alpinen Dialektgruppe gehören einzig die vor kurzem anonym erschienenen Poesie in dialetto di Cavergno-Valmaggia (im Archivio glottologico italiano. XVI, Seiten 550-588) an. Begünstigter als der Kanton Tessin erscheint in dieser Hinsicht das Bergell, das einen würdigen Schilderer seiner Bräuche und einer sehr bedeutsamen Epoche seiner Geschichte (des grossen Kampfes zwischen Katholiken und Reformierten) gefunden hat in Giov. Maurizio aus Vicosoprano († 1885), dem Verfasser von La Stria ossia i stinqual da l'amur. Tragicomedia nazionale bargajota. Quädar dii costüm da la Bragaja ent el secul XVI (= Die Hexe oder die Liebesneckereien; vaterländische Tragikomödie aus dem Bergell. Bergeller Sittengemälde ans dem 16. Jahrhundert). (Bergamo 1875. 188 Seiten). Das Wenige, was aus dem Puschlav vorhanden ist, kann in dem in der Bibliographie genannten Buch von Michael nachgelesen werden.
5. Bibliographie
(für den Tessin vergl. auch Salvioni, C. Bibliografia dei dialetti ticinesi [Bellinzona 1900] und im Bollettino storico della Svizzera ital. XXIII). - Allgemeines: Cherubini, Fr. Vocabolario milanese-italiano. 5 vol. Milano 1839-1856. - Salvioni, C. Fonetica del dialetto di Milano. Torino 1884. - Monti, P. Vocabolario della città e diocesi di Como (Milano 1845). - Monti, P. Saggio di Vocabolario della Gallia Cisalpina e celtico... (Milano 1856). - Monti, P. Appendice al Vocabolario... (Milano 1856). - Ascoli im Archivio glottologico italiano (I, S. 249 ff.). - H. Morf in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen von 1885. - C. Salvioni in La Lettura (I, S. 718 ff.) und in Studi di filologia romanza (VII, S. 183 ff. und VIII, S. 1 ff.) - Puschlav: Michael, Joh. Der Dialekt des Poschiavothals. Halle 1905. - Bergell: Maurizio, G. La Stria ossia i stinqual da l'amur. Bergamo 1875. - Ascoli im Archivio glottologico ital. II, S. 442 f. -
A. Redolfi in der Zeitschrift für romanische Philologie. VIII, S. 161 ff. -
H. Morf in den Götting. Gelehrten Anzeigen (1885) und den Nachrichten der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen (1886). - Bergell und Mesolcina: C. Salvioni in den Rendiconti del r. Istituto lombardo (Ser. II, vol. 35, S. 905 ff.). - Bellinzona und Riviera: C. Salvioni im Archivio glottologico ital. (XIII, S. 355 ff.). - V. Pellandini und C. Salvioni im Bollettino storico della Svizzera ital. XVII und XVIII. - Bleniothal: Demaria, L. Curiosità del vernacolo bleniese. Bellinzona 1889. - Valmaggia und Locarno: C. Salvioni im Archivio glottolog. ital. (IX, S. 188 f.; XIV, S. 437 ff.; XVI, S. 549 ff.), im Bollettino storico della Svizzera ital. (XIX, S. 133 ff.) und in der Romania (XXVIII, S. 409 ff.). - Lugano: G. Cossa im Giornale dell' I. R. Istituto Lombardo. XVI, S. 286 ff. -
C. Salvioni im Bollettino storico della Svizzera ital. XIII, S. 94 ff. -
V. Pellandini im Schweizer. Archiv für Volkskunde. 1904 - Lugano und Mendrisio: C. Salvioni im Bollettino stor. della Svizzera ital. XXIII, S. 141 ff. -
Ortsnamen: Flechia in den Memorie dell'Accademia delle Scienze di Torino. Ser. II, t. XXVII. - C. Salvioni im Bollettino stor. della Svizzera ital. (XI, S. 214 ff.; XV, S. 22 ff.; XX, S. 33 ff.; XXI, S. 49 ff. und 85 ff.; XXII, S. 85 ff.; XXIII, S. 77 f.; XXIV, S. 1 ff. und 57 ff.; XXV, S. 93 ff.) und im Archivio storico lombardo (XXXI, S. 372 ff.).
IV. Rätoromanisch.
1. Statistik der Rätoromanen im Verhältnis zu den Deutschen.
Die Verteilung der Rätoromanen über Graubünden nach Dichtigkeitsgraden im Jahre 1900 ergibt sich aus der beigegebenen schraffierten Karte. Die nachfolgende Tabelle zeigt den Prozentsatz an Romanen in den einzelnen Kreisen in den Jahren 1860, 1870, 1880, 1888, 1900, um hiedurch einen Ueberblick über die Abnahme des Romanischen und Zunahme des Deutschen zu ermöglichen. Dabei ist zu beachten, dass viele Kreise ganz deutsche Ortschaften enthalten, nämlich Kreis Ruis: Obersaxen;
Kreis Lugnez: Vals und St. Martin;
Kreis Ilanz: Valendas und Versam;
Kreis Trins: Tamins und Felsberg;
Kreis Thusis: Thusis, Masern, Urmein und Tschappina;
Kreis Alvaschein: Mutten;
Zieht man die deutschen Ortschaften ab, so wird natürlich der romanische Prozentsatz höher; z. B. hätte Kreis Ruis ohne Obersaxen durchschnittlich 99% Romanen.
PROZENTSATZ AN RÆTOROMANEN IN DEN EINZELNEN KREISEN (1860-1900).
Kreis. | 1860 | 1870 | 1880 | 1888 | 1900 | Einwohnerzahl 1900 |
---|---|---|---|---|---|---|
Disentis | 100 | 99 | 98 | 98 | 98 | 5917 |
Ruis | 63 | 67 | 68 | 69 | 71 | 1866 |
Lugnez | 77 | 79 | 76 | 77 | 76 | 3533 |
Ilanz | 75 | 74 | 73 | 72 | 72 | 4900 1) |
Trins | 55 | 55 | 56 | 56 | 51 | 2850 1) |
Rhäzüns | 82 | 87 | 84 | 84 | 81 | 2780 1) |
Domleschg | 70 | 65 | 61 | 61 | 54 | 2460 1) |
Thusis | 39 | 33 | 28 | 31 | 28 | 3100 1) |
Schams | 88 | 86 | 84 | 80 | 77 | 1498 |
Oberhalbstein | 94 2) | 94 2) | 94 | 95 | 97 | 2321 |
Alvaschein | 89 | 85 | 87 | 88 | 81 | 1556 1) |
Belfort | 75 | 75 | 72 | 74 | 70 | 1230 1) |
Bergün | 63 | 63 | 56 | 59 | 47 | 1210 1) |
Ober Engadin | 85 | 74 | 65 | 60 | 59 | 4400 1) |
Obtasna | 93 | 90 | 87 | 88 | 86 | 2329 |
Unter Tasna | 92 | 92 | 86 | 85 | 81 | 2486 |
Remüs | 77 | 73 | 68 | 69 | 68 | 1468 |
Münsterthal | 85 | 89 | 81 | 78 | 78 | 1505 |
1) Italienische Bahnarbeiter abgerechnet.
2) Unter Berichtigung der falschen Zurechnung des Dialektes von Marmels und Stalls zum Italienischen.
Das Verhältnis der Rätoromanen zur Gesamtbevölkerung Graubündens stellt sich wie folgt:
Die mit * bezeichneten Zahlen sind jedenfalls etwas zu hoch, da 1850 die Sprachangehörigkeit gemeindeweise uniformiert wurde.
In der ganzen Schweiz belief sich die Zahl der Rätoromanen 1880 auf 38705, 1888 auf 38357, 1900 auf 38651, blieb also seit 1880 konstant. In Prozenten ausgedrückt zeigt sich jedoch ein stetiger Rückgang: 1850 1,77%;
1860: 1,68%;
1870: 1,58%;
1880: 1,36%;
1888: 1,30%;
1900: 1,17%.
2. Sprachgrenzen.
Das rätoromanische Gebiet erstreckte sich einst nordwärts bis zum Bodensee, ostwärts wahrscheinlich bis zum Ziller- und Pusterthal, von dort südöstlich ins Friaul und Triestinische; im Westen mag man sich die Grenzlinie etwa von Steckborn direkt nach Süden gelegt und dann der Westgrenze der Kantone St. Gallen, Schwyz und Unterwalden folgend denken. Von diesem grossen zusammenhängenden Gebiet sind nur Bruchstücke übrig geblieben: das Romanische in Graubünden, die Dialekte einiger Thälchen östlich von Bozen und Brixen (namentlich des Grödner- und Gaderthales) und das starkbevölkerte Gebiet des Friaulischen. Durch die alemannische Invasion ging schon im 5. bis 8. Jahrhundert der Teil nördlich von Bünden dem Rätischen verloren ausser dem Walensee (d. h. wälscher See), Glarus (?), ¶
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Sarganserland, Rheinthal bis Oberried und Götzis (etwas nördlich von Feldkirch), sowie dem Walgau. Etwa vom 9. bis 11. Jahrhundert mag sich das Romanische annähernd in dieser Ausdehnung behauptet haben, vom 13.-16. Jahrhundert ging es dann allmählig bis ungefähr auf sein jetziges Gebiet zurück, wobei auch die meist im 13. Jahrhundert eingewanderten Walserkolonien eine grosse Rolle spielten. Im Walgau, Prätigau, Schanfigg gab's noch im Anfang des 16. Jahrhunderts Romanisch-Redende, auch in Chur war der Prozentsatz an Romanischen damals jedenfalls noch beträchtlich (vgl. das «Welsche Dörfli»). Im Montafun soll das Romanische sogar erst im 18. Jahrhundert erloschen sein.
Seit dem 16. Jahrhundert hat sich das Gebiet des Romanischen in Graubünden wenig mehr verändert. Wann Thusis (mit Masein, Urmein) und Tamins germanisiert wurden, ist unklar, um 1750 war Thusis schon deutsch. Im 19. Jahrhundert gingen Sils im Domleschg und Samnaun verloren. Zahlreiche Ueberbleibsel im Wortschatz zeugen in den verdeutschten Gegenden von der früheren Sprache. Die jetzigen Grenzen zeigt die schraffierte Karte. Die rechts-links schraffierten Orte (Filisur, Rongellen, Fürstenau) sind schon überwiegend deutsch.
Stark im Rückgang begriffen ist das Romanische in Ilanz, Bonaduz, am Heinzenberg, im grössten Teil des Domleschg, im Albulathal von Tiefenkastel aufwärts (wo die Rätische Bahn den Vorgang beschleunigen wird), im Fremdenquartier des Ober Engadin, d. h. St. Moritz-Pontresina, denen sich Samaden anschliesst. Auch in Schuls beginnt ein ähnlicher Einfluss des Fremdenverkehrs sich fühlbar zu machen. Das übrige Unter Engadin ist noch sehr gut romanisch. Etwas schwereren Stand hat das Münsterthalische.
Sehr fest steht das Oberhalbstein, das stärkste Bollwerk aber bildet die kompakte Masse des Oberländischen. Die sehr exponierte grosse Ortschaft Ems hält sich noch recht gut, wenn auch in den Wortschatz viel Deutsches eindringt. In den Schulen (Statistik von 1895) dominiert im Oberland (ausser Ilanz) durchaus das Romanische; in 15 Schulen wird dort überhaupt kein Deutsch gelehrt, in 39 erst vom fünften bis siebenten Schuljahr an. In den übrigen romanischen Gegenden beginnt das Deutsche meist im vierten Schuljahr, zum Teil auch früher. Von Ems bis Andeer sind viele Schulen ganz deutsch. Die Predigt ist in den bedrohten Gegenden im Ganzen etwas konservativer als die Schule, doch hängt viel von der jeweiligen Person des Pfarrers ab; an vielen Orten wird abwechselnd deutsch und romanisch gepredigt.
In neuerer Zeit hat namentlich im Oberland und Engadin ein bewusster Widerstand gegen das Vordringen des Deutschen eingesetzt. Man will die angestammte Muttersprache nicht so leichten Herzens hergeben. Sie wird eifrig gepflegt in der Schule (treffliche romanische Schulbücher) und im öffentlichen Leben, in Zeitungen und sonstiger Literatur. Unter diesen Umständen dürften die Prophezeiungen eines baldigen Unterganges des Rätoromanischen kaum so rasch in Erfüllung gehen. Auch dem Eindringen deutscher Wörter, überhaupt den Germanismen, suchen puristische Bestrebungen entgegenzuarbeiten. Im Engadin hat sich das Romanische auch gegen das Italienische zu wehren (Italienismen gelten vielfach als «schön»),
doch war diese Gefahr früher grösser als jetzt.
Bibliographie: Sartorius von Waltershausen, A.: Die Germanisierung der Rätoromanen in der Schweiz (in den Forschungen zur deutschen Landes-, und Volkskunde). Stuttgart 1900. - Berther: Carschen e digren della populaziun romontscha el cantun Grischun (in: Ischi; herausgegeben von Decurtins. Band II, 61-86).
3. Geschichte der Dialekte.
Ueber die Sprache der alten Rätier wissen wir nichts Bestimmtes. Keltisch scheint sie nicht gewesen zu sein. Die Römer hielten sie für ein verwildertes Etruskisch. Auch das Ligurische kommt in Frage. Ueberreste des Alträtischen mögen in einzelnen Ortsnamen und unerklärten romanischen Wörtern stecken. Im Jahre 15 v. Chr. wurde Rätien von den Römern erobert, und die rätische Sprache ging im Lateinischen unter. Aus diesem, d. h. dem Vulgärlateinischen, entstand in ganz allmäkligem Uebergang das Rätoromanische, in ähnlicher Weise wie die übrigen romanischen Sprachen. Etwa vom Jahr 500 an mag man von «Romanisch» reden. Vom Italienischen und seinen Dialekten unterscheiden sich die rätoromanischen Dialekte so stark, dass man sie als selbständigen Sprachzweig neben Italienisch, Französisch, Spanisch usw. stellt. Ein Hauptunterscheidungsmerkmal ist der rätoromanische Plural auf -s, ein anderes das Fehlen des Conditionalis, dessen Funktion durch den Conjunktiv Imperfecti mit versehen wird.
Für den Wortschatz war, wie in allen romanischen ¶