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Reicher und mannigfaltiger an Trachten als das Wallis war der weitverzweigte Kanton Graubünden mit seinen isolierten, oft völlig abgeschlossenen Thälern. Das meiste ist freilich verschwunden, vergessen. Wenn alle Trachten des Kantons beisammen wären, würden sie eine eigene kleine Sammlung für sich bilden, wie aus dem Album für rätische Trachten ersichtlich ist. Die Leiter der im Jahr 1899 stattgehabten Calvenfeier hatten sich grosse Mühe gegeben, die Darsteller in möglichst getreuen Trachten auftreten zu lassen. Manch' vergessene Truhe und manch' dunkler Winkel wurden deshalb durchsucht und förderten Originalstücke Tageslicht.
Im südlichen Tessin findet sich eine Tracht, die stark an Italien erinnert. Die Frauen der Brianza stecken rund herum in die Zöpfe des Hinterkopfes mehr als zwanzig silberne Löffelpfeile, die wie ein Strahlenkranz in der Sonne blitzen. Die Hirtinnen des Maggia- und Verzascathales haben ein so kurzes Mieder, dass die Schnürung oberhalb der Brust sich befindet. Der Rock ist aus 16 je 20 cm breiten Streifen von dickem, haarigem Wollenstoff zusammengesetzt. Die Füsse stecken in Zoccoli, und die Waden werden durch dicke Wollstoffrohre geschützt.
Im Jahr 1896 verfiel der Lesezirkel Hottingen-Zürich auf die Idee, ein schweizerisches Trachtenfest, verbunden mit Vorführung alter Spiele, Tänze, Gesänge und sonstiger Gebräuche, zu veranstalten. Jedes Thal wurde durchstöbert; alte Leute wurden ausgefragt, alte Bilder besehen; man suchte das Verborgene, das Vergessene hervor. Dies gelang vortrefflich, so dass die ganze Veranstaltung zu einem geradezu vaterländischen Fest wurde. Aus allen Gauen kamen Leute, mit alten Schätzen beladen, herbei, um mitzumachen.
Der Direktor des damals im Bau begriffenen Schweizerischen Landesmuseums benutzte freudig die Gelegenheit, für eine Trachtensammlung zu erwerben, was irgendwie erhältlich war. Als dann zwei Jahre später zur Eröffnung des Landesmuseums nochmals ein Trachtenfest arrangiert wurde, war es möglich, so zu sagen in zwölfter Stunde noch mehr Erwerbungen zu machen. Das Landesmuseum besitzt heute die weitaus reichhaltigste und interessanteste Trachtensammlung der Schweiz. Von grosser Bedeutung ist nun, dass auch die kantonalen Museen angeregt wurden, ihr Augenmerk den Trachten zu schenken. Somit bleiben die verschwindenden Trachten doch nicht nur in Bildern, sondern auch in Originalen der Nachwelt erhalten.
Der Lesezirkel Hottingen hat aber durch das Fest noch eine andere wertvolle Anregung gegeben, diejenige zur Erstellung eines Prachtwerkes für Schweizertrachten des 18. und 19. Jahrhunderts. 36 Tafeln zeigen in vortrefflich ausgeführten Farbenbildern fast ausnahmslos Originaltrachten, die jetzt meistens im Besitz des Landesmuseums sind. Als man sich bewusst wurde, dass nicht blos in der Schweiz, sondern auch in andern Ländern die charakteristischen Volkstrachten zu verschwinden drohen, wurden vielerorts Anstrengungen gemacht, dies zu verhindern, denn nicht nur die Trachten verschwinden, sondern mit ihnen auch die alten Bräuche und alten Sitten.
Man glaubte, dem Verschwinden der Trachten dadurch am ehesten Einhalt tun zu können, dass man ländliche Feste veranstaltete und die Träger und Trägerinnen der besten Trachten auszeichnete. Wie es aber Bräuche gibt, die nicht mehr in die fortschreitende neue Zeit hineinpassen, so passen auch die Trachten nicht mehr hinein. Sie haben ihre Entwicklung durchgemacht, ihre Blütezeit überschritten und sind im Zerfall. Ihre längere oder kürzere Lebenszeit ist einzig von der Abgeschlossenheit der Bewohner von der übrigen Welt abhängig. Je mehr sich entlegene Thäler und Gegenden dem Verkehr, den fremden Menschen öffnen, desto schneller verschwindet alles Eigenartige, alles Originelle der Einheimischen.
[Frau Julie Heierli].
D. SPRACHEN UND MUNDARTEN.
Die kleine Schweiz besitzt nicht nur eine reich entwickelte Fauna und Flora, eine Mannigfaltigkeit landschaftlicher Bilder, die jährlich Tausende von Fremden in unser Land locken, sondern ihr vornehmster Reichtum besteht in der zu einer festen Einheit gefügten Verbindung germanischer und romanischer Sitte. Die Romanen wiederum spalten sich auf Grund alter ethnischer Unterschiede und geschichtlicher Vorgänge in ein französisches, italienisches und rätisches Kulturgebiet. Die deutschen Schweizer fühlen sich kulturell eins mit ihren germanischen Stammesbrüdern, die Westschweiz hängt nach Frankreich hinüber, der Tessin und einige Bündner Thäler gravitieren nach Italien, und das Rätische ist heute auf einen Teil Graubündens beschränkt. Das Alpenmassiv, besonders der Gotthard, bildet den natürlichen Scheide- und Schutzwall dieser Sprachgebiete.
Als die örtlichen Mundarten mit dem Fortschreiten der Kultur durch Schriftsprachen zurückgedrängt oder sogar ersetzt wurden, griffen der Norden und die Innerschweiz naturgemäss zum Hochdeutschen, der Westen zur Sprache von Paris, die italienischen Landesteile zum Gemeinitalienischen. Nur das Rätische wurde selber zur Schriftsprache erhoben, offiziell gedruckt und in den Schulen gelehrt. Es zeigte sich aber, dass in dieser Stärkeeine Schwäche lag: die dialektische Spaltung, sowie der Mangel eines grossen internationalen Verbandes ermöglichte der rätischen Schriftsprache nur eine bescheidene und temporäre Existenz.
Im Folgenden sollen in raschen Zügen die Geschicke und die charakteristischen Merkmale der deutschen, französischen, italienischen und rätischen Sprache und Mundarten auf Schweizerboden beleuchtet werden.
I. Deutsch.
Die letzte eidgenössische Volkszählung vom ergab für die Schweiz bei einer Gesamtbevölkerung von 3315443 Seelen 2312949, d. h. annähernd 70% Deutsch-sprechende. Davon bewohnen etwa 2 1/5 Millionen ein geschlossenes Gebiet, das ungefähr zwei Dritteile des gesamten schweizerischen Territoriums ausmacht: es umfasst die ganze Nord-, Ost- und Mittelschweiz, reicht im Süden, sich stark verengernd, bis zur schweizerisch-italienischen Landesgrenze und schiebt sich so gleichsam als trennender Keil zwischen die romanischen Landesteile im Westen einerseits, im Süden und Südosten anderseits. Längs der Nord- und zum grössten Teil auch der Ostgrenze hängt es unmittelbar mit dem übrigen deutschen Sprachgebiet zusammen, dessen südwestlichen Ausläufer es bildet.
1. Sprachgrenze.
Die heutige Westgrenze gegen das französische Sprachgebiet setzt ein in der Nordostecke des bernischen Amtsbezirkes Pruntrut, durchzieht den Norden des Amtes Delsberg, überschreitet zwischen Liesberg und Soyhières das Birsthal und folgt, vorerst noch in östlicher Richtung, dann nach Südwesten zurückweichend, der bernisch-solothurnischen Kantonsgrenze, weiterhin dem Höhezuge westlich von Biel und vom Bielersee, steigt südlich von Ligerz zum See hinunter und geht diesem und dem Zihlkanal nach zum Neuenburgersee.
Dann springt sie zum Nordrand des Murtensees über, verlässt den See mit der waadtländischen Grenze nördlich von Faoug und zieht sich in südöstlicher Richtung mit zahlreichen Ausbuchtungen nach links und rechts erst quer durch den freiburgischen Seebezirk, nachher längs der Grenze zwischen dem Saane- und Sensebezirk (doch Pierrafortscha dem deutschen Gebiet überlassend) bis zur Berra im Norden des Greierzerlandes, wendet sich eine Strecke östlich, dann wieder südlich zwischen Jaun und Charmey hindurch zur Dent de Ruth und weiter, mit der bernisch-waadtländischen Kantonsgrenze zusammenfallend, zum Oldenhorn. Von hier an begleitet sie die Grenze zwischen Bern und Wallis bis zum Wildstrubel, steigt dann der Ostgrenze des Bezirkes Siders nach bis zur Rhone hinunter, die sie östlich von Siders überschreitet, und streicht jenseits über den Gebirgskamm zwischen dem Eifischthal (Val d'Anniviers) und dem Turtmanthal zur Dent d'Hérens, wo sie auf die schweizerisch-italienische Landesgrenze trifft.
Die Südgrenze folgt dieser zunächst bis gegen den Lyskamm, biegt dann nach Süden in italienisches Gebiet aus, um die am Süd- und Südostfuss des Monte Rosa gelegenen deutschen Gemeinden (Gressoney und Issime im Lysthal, Alagna im Sesiathal, Rima und Rimella im Sermenta- und Mastalonethal, Macugnaga im Anzascathal) aufzunehmen, und kehrt beim Monte Moro zur Schweizergrenze zurück. Südlich vom Ofenhorn tritt sie neuerdings auf italienischen Boden über, umfasst südlich die isolierten Bergdörfchen Agaro (Ager) und Salecchio (Saley),
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durchschneidet bei der Geschenbrücke südlich von Unterwald (Foppiano) das Formazzathal, umzieht, noch weiter östlich ausgreifend, das tessinische Dorf Bosco, die einzige deutsche Gemeinde dieses Kantons, und geht sodann in nördlicher Richtung der West- und Nordgrenze des Tessin entlang über den Nufenen- und Gotthardpass zum Piz Ravetsch. Von hier zieht sie sich, nunmehr als Scheide zwischen Deutsch und Rätoromanisch, über die Gebirge, die Graubünden im Westen und Norden gegen Uri und Glarus begrenzen, bis zur Ringelspitze, wo sie den Bündner Boden betritt.
Das deutsche Sprachgebiet dieses Kantons zeigt eine sehr vielgestaltige Grenze. Es zerfällt in ein nördliches, mit der deutschen Ostschweiz unmittelbar zusammenhängendes Hauptgebiet und in mehrere kleinere Gebiete, von denen drei, im Südwesten, rings vom Rätoromanischen, zum Teil auch vom Italienischen umgebene Sprachinseln bilden, darunter eine von ansehnlichem Umfang. Die Grenze des erstgenannten Gebietes verläuft von der Ringelspitze in südlicher Richtung, stösst westlich von Tamins auf den Vorderrhein, überschreitet diesen östlich von Ems, ersteigt die Wasserscheide zwischen dem Domleschg und Churwalden, geht zwischen Parpan und Lenz hindurch und hinunter ins Thal der Albula, südlich an Filisur vorbei, dann der Süd- und Ostgrenze des Bezirkes Ober Landquart nach und erreicht in der Silvrettagruppe die österreichische Grenze. In der Nordostecke des Kantons liegt, ohne Zusammenhang mit dem übrigen schweizerdeutschen Gebiet, die nach dem Tirol sich öffnende deutsche Thalschaft Samnaun.
Von den deutschen Sprachinseln im Südwesten ist die grösste, im Hinterrhein-, Safien- und Valserthal, nur mehr durch einen schmalen Streifen romanischen Landes vom nördlichen Hauptgebiet getrennt. Ihre Grenze läuft von der Mündung des Safier Rheins (Rabiusa) in den Vorderrhein südwärts über den Berggrat zwischen Safien und dem Heinzenberg, steigt über den Heinzenberg hinunter, Präz und Sarn dem romanischen, Flerden, Tartar und Cazis dem deutschen Gebiet zuweisend, zur Thalsohle des Domleschg, umschliesst Fürstenau, geht dem Rhein und der Albula entlang bis zum Muttener Tobel, dann südwestlich um Mutten und Rongellen herum, wobei sie das Hinterrheinthal neuerdings kreuzt, zum Piz Beverin und von hier in südlicher Richtung, das Hinterrheinthal ein drittes Mal durchschneidend, zwischen dem romanischen Andeer und dem deutschen Sufers hindurch zum Surettahorn an der italienischen Grenze.
Nun zieht sie sich westlich über die Gebirgskette, die den Bezirk Hinterrhein im Süden von dem italienischen Val San Giacomo und dem Bezirk Moësa trennt, zum Vogelberg (Adula), von da nördlich der bündnerisch-tessinischen Kantonsgrenze nach zum Plattenberg, weiterhin über die Wasserscheide zwischen dem Vrin- und Valserthal, überschreitet dieses zwischen St. Martin (deutsch) und Tersnaus (romanisch) und trifft, zunächst dem Gebirgszug zwischen dem Lugnez und Safien folgend, dann links abbiegend, oberhalb Valendas auf den Vorderrhein, der bis zur Mündung der Rabiusa die Nordgrenze der Sprachinsel bildet. Ein paar Stunden weiter westlich, über Ilanz hinaus, liegt auf der rechten Thalseite die isolierte deutsche Gemeinde Obersaxen, im Südosten endlich, auf den obersten Terrassen des Averserthals, die Sprachinsel Avers mit dem Hauptort Cresta.
Fassen wir die also gezogenen Sprachgrenzen näher ins Auge, so zeigt sich bald, dass sie nicht in ihrem ganzen Verlauf von gleicher Beschaffenheit sind. Nur zum Teil haben sie den Charakter scharfer Sprachscheiden; am ehesten da, wo sie mit starken natürlichen oder politischen Grenzen zusammenfallen. Im übrigen aber entspräche es den Tatsachen meist besser, von Grenzzonen statt von Grenzlinien zu sprechen. Wenn wir trotzdem auch in solchen Fällen Grenzlinien ziehen, so ist das nur dadurch möglich, dass wir die sprachliche Mehrheit eines Ortes für dessen Zuweisung zu einem der beiden sich berührenden Sprachgebiete als entscheidend betrachten und von den etwa vorhandenen Minderheiten absehen.
Dies gilt zunächst von einem grossen Teil unserer Westgrenze. Und zwar liegen hier die Dinge im grossen und ganzen so, dass die französischen Grenzorte stark von deutschen Elementen durchsetzt sind, während auf der deutschen Seite das französische Element meist in verschwindender Minderzahl ist, wenn nicht ganz fehlt. Am ausgeprägtesten tritt dies längs der jurassischen Grenze bis zum Neuenburgersee hervor. Hier finden wir in den Gemeinden des französischen Grenzgebietes fast überall starke deutsche Minderheiten; an einzelnen Orten ist nach Ausweis der Statistik nahezu die Hälfte der Bewohner deutsch, ja es kommen vorübergehend selbst deutsche Mehrheiten vor, wie etwa in Courrendlin (Amtsbezirk Moutier), wo im Jahr 1900 neben 898 Deutschen blos 841 Welsche gezählt wurden. Im Gegensatz zu dieser ausgesprochenen Zweisprachigkeit des französischen Grenzgebietes ist das deutsche ebenso ausgesprochen einsprachig.
Nur Biel mit seiner Umgebung, wo nahezu ⅓ der Bevölkerung zum Französischen sich bekennt, macht eine gewichtige Ausnahme, in geringerm Grade auch das solothurnische Grenchen. Man weiss, dass dies mit der stark entwickelten Industrie dieser Orte, speziell mit der Uhrenindustrie zusammenhängt, die einen starken Zuzug aus dem Westen zur Folge gehabt hat. Dem gegenüber hat die deutsche Einwanderung in die bernischen Jurabezirke (Orte wie Delémont etwa ausgenommen) einen vorwiegend landwirtschaftlichen Charakter.
«Der romanische Einwanderer kommt im Dienste der Industrie mit Vorliebe in städtische Gemeinden herüber; der deutsche Auswanderer geht als Bauer, Knecht, Handwerker, Kleinhändler, Dienstbote hinüber und nimmt die vom industriell gewordenen Romanen verlassenen Posten ein, besonders auch auf dem Lande, und häufig genug bezieht der deutsche Pächter einsam gelegene Bauernhöfe. Es ist, als ob sich in diesen wirtschaftlichen Verhältnissen noch der alte Gegensatz zwischen der gesellschaftlichen Natur des Welschen und der individualistischen des Germanen ausspräche» (Morf). Im freiburgischen Mittelland sind die Verhältnisse von denen im Jura nicht wesentlich verschieden: auch hier fast durchgängig ein beträchtlicher deutscher Einschuss in die französische Grenzbevölkerung, während auf deutscher Seite das welsche Element wieder nur an einigen Punkten stärker hervortritt.
Doch sind die Ursachen dieser Erscheinung hier zum Teil andere: die Industrie spielt kaum irgendwo eine nennenswerte Rolle, die Grenze verläuft ganz durch ein wirtschaftlich, dazu geographisch und politisch einheitliches Gebiet;
dagegen machen sich teilweise konfessionelle Gegensätze geltend.
Wir werden auf die Sache zurückzukommen haben. Erst oberhalb der Stadt Freiburg gewinnen die Grenzverhältnisse allmählich eine andere Gestalt. Zwar hält noch in Marly die deutsche Bevölkerung der welschen beinahe die Wage, und in Pierrafortscha findet sich eine ansehnliche welsche Minderheit, weiter südlich aber erscheinen anderssprachige Elemente hüben und drüben nur noch in geringer Zahl, und die Sprachgrenze scheidet ziemlich reinlich deutsches und welsches Idiom. Dies gilt auch von ihrem weitern Verlauf durchs Hochgebirge. Einzig im Rhonethal ändert sich vorübergehend das Bild: hier finden wir wieder sprachlich gemischte Bevölkerung zu beiden Seiten der Grenze;
in Siders stehen sich Deutsch und Französisch numerisch fast in gleicher Stärke gegenüber, anderseits sitzen französische Minderheiten auf deutschem Gebiet bis nach Brig hinauf.
Dass die Südgrenze vom Matterhorn bis zur Ringelspitze eine scharfe Sprachscheide bildet, wenigstens soweit sie mit natürlichen und politischen Grenzen zusammengeht, begreift sich leicht. Auch in den jenseits des Alpenwalls gelegenen deutschen Thalschaften am Süd- und Ostfuss des Monte Rosa, im Formazzathal und in Bosco findet eine Einmischung anderssprachiger, d. h. hier italienischer Elemente in erheblichem Masse nicht statt; dagegen ist die eingesessene Bevölkerung auf dem Wege, die angestammte Sprache nach und nach zu gunsten der italienischen Landessprache aufzugeben, die ihr durch Staat, Kirche, Wirtschafts- und Verkehrsverhältnisse in gleichem Masse aufgedrängt wird.
Das Italienische ist schon seit längerer Zeit überall Amtssprache, an den meisten Orten auch Schul- und Kirchensprache, die deutsche Schriftsprache kaum gekannt und noch weniger im Gebrauch; nur im mündlichen Verkehr der Gemeindegenossen behauptet sich die deutsche Mundart, verliert aber selbst da mehr und mehr an Boden. Charakteristisch dafür ist der Ausdruck «Altweibersprache», mit dem sie nach Studer fast allenthalben bezeichnet wird. Verhältnismässig am kräftigsten wurzelt das Deutsche noch in
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Gressoney, im Pommat und im tessinischen Bosco. - In Graubünden ist deutsches und romanisches Gebiet grossenteils noch ziemlich scharf gegeneinander abgegrenzt. Nur in den romanischen Thalschaften, die sich gegen den deutschen Norden öffnen oder von den dorther kommenden Hauptverkehrsadern durchzogen sind, finden wir eine stark mit deutschen Elementen durchsetzte Bevölkerung, und die dort verlaufenden Sprachgrenzen erscheinen zu gemischtsprachigen Zonen erweitert. So am Unterlauf des Hinterrheins, in den Bezirken Imboden und namentlich Heinzenberg, wo das Deutsche in einzelnen Gemeinden (Almens, Pratval, Rotenbrunnen) dem Romanischen numerisch bereits gleichkommt oder es sogar überflügelt hat.
Diese Tatsache ist deswegen von besonderer Bedeutung, weil hier der schmale romanische Gebietsstreifen verläuft, der die deutschen Hauptgebiete im Norden und Südosten voneinander trennt und zugleich die Verbindung herstellt zwischen den romanischen Kerngebieten im Südosten und Westen. Beträchtliche deutsche Minderheiten weisen auch Ilanz im Vorderrheinthal, Bergün im obern Albulathal und Andeer im Schamser Thal auf. Im Ober Engadin (Pontresina, St. Moritz) ist eine deutsche Sprachinsel in der Bildung begriffen. Dem gegenüber sitzen Romanen auf deutschem Gebiet nur da in grösserer Zahl, wo die Mehrheit erst vor kurzem ans Deutsche übergegangen ist. Dass übrigens die Daten der Volkszählungsstatistik hier so wenig wie anderswo einen vollen Einblick in das wirkliche Machtverhältnis der beiden konkurrierenden Sprachen gewähren, wird sich später zeigen.
2. Geschichtliche Entwicklung der deutschen Sprachgrenze.
Die deutsche Besiedelung der Schweiz geht in die Zeit der Völkerwanderung zurück. Bis ins 5. Jahrhundert bildete unser Land einen Teil des römischen Weltreichs; der helvetische Westen gehörte zur Provinz Gallia Belgica, der rätische Osten zur Provinz Raetia, der auch das Wallis angegliedert war. Die Grenze zwischen den beiden Provinzen lief vom Ausfluss des Rheins aus dem Untersee südlich zum Gotthard. Ihr Verlauf im Innern des Landes ist nicht sicher zu ermitteln; nach der gewöhnlichen Annahme zog sie sich zwischen dem obern Zürich- und dem Walensee hindurch längs der Glarner West- und der Urner Ostgrenze zum Crispalt und von da nach der Furka hin; aber es ist möglich, dass auch ein Teil der Waldstätte, zum wenigsten Uri, zu Rätien gehörte oder doch von Räten bewohnt war (vergl. W. Oechsli: Die Anfänge der schweiz. Eidgenossenschaft. S. 15). Während der halbtausendjährigen Römerzeit waren römische Kultur und Sprache im Lande zur Herrschaft gelangt.
Freilich nicht überall gleich durchgreifend, verhältnismässig am wenigsten im Norden. Einmal war hier die keltische Bevölkerung, schon wegen der grössern Entfernung vom Mittelpunkt des Reichs, lange nicht in dem Masse von römischen Elementen durchsetzt wie z. B. im Südwesten, sodann wurde die Entfaltung römischen Wesens frühzeitig gestört durch die deutschen Alemannen, die schon seit der Mitte des 3. Jahrhunderts das Land mit unaufhörlichen verheerenden Einfällen heimsuchten, wobei das ihnen zunächst ausgesetzte nördliche Helvetien naturgemäss am meisten litt.
Die Alemannen sind uns zu Anfang des 3. Jahrhunderts zum erstenmal bezeugt; sie sassen damals am obern Main noch jenseits des römischen Grenzwalls, wo sich allem Anschein nach ihr Stammesverband durch Zusammenschluss des suebischen Kernvolks der Semnonen mit andern kleinern suebischen Teilvölkern und Volksteilen erst gebildet hatte. 1) [1) Der byzantinische Geschichtschreiber Agathias nennt die Alemannen nach einem Gewährsmann des 3. Jahrhunderts «ein zusammengelaufenes Mischvolk» (ξυγκλυδες άνθρωποι και μιγάδες); das bedeute ihnen ihr Name. In der Tat heisst Alamanni (ahd. Alaman, Alamanna, = got. alamans) nichts anderes als «die Menschen insgesamt, alle Menschen».
Gleichbedeutend mit Alemannen kommt seit ihrer Festsetzung im südlichen Deutschland die uralte, ursprünglich umfassendere Bezeichnung Suebi, Suāvi, ahd. Swāba, d. h. «Schwaben» wieder auf, und diese wurde später der eigentlich und einzig volkstümliche Name des Stammes.] Durch das 3. und 4. Jahrhundert dauerten ihre furchtbaren Angriffe auf die römischen Grenzlande, unternommen zu dem Zwecke, sich innerhalb des Limes festzusetzen; aber erst seit dem 5. Jahrhundert hatten sie nachhaltigen Erfolg: im Laufe dieses Jahrhunderts dehnten sie ihre Sitze dauernd nach Westen und Süden über den Rhein, ostwärts bis zum Lech aus.
Doch hat man mit guten Gründen vermutet, dass die endgiltige alemannische Besiedelung der nordrätischen und helvetischen Ebene erst zu Anfang des 6. Jahrhunderts erfolgte, als die Alemannen, von den Franken vernichtend geschlagen und aus ihren nördlichen Gebieten (am Main, untern Neckar, in der Pfalz usw.) verdrängt, den Schutz des Ostgotenkönigs Theodorich suchten und dieser ihnen die nördlichen Grenzen seines Reiches öffnete, die ausser Rätien wenigstens nominell auch einen ansehnlichen Teil des alten Helvetien einschlossen (vergl. H. von Schubert: Die Unterwerfung der Alamannen durch die Franken. Strassburg 1884). Nordhelvetien war also spätestens seit Beginn des 6. Jahrhunderts deutsch geworden. Das Land lag infolge der vorangegangenen endlosen Kriegsstürme wohl grösstenteils öde, die Keime höherer Kultur, welche die Römerzeit gepflanzt hatte, waren verkümmert, und die noch vorhandene kelto-römische Bevölkerung an äusserer und innerer Kraft zu sehr verarmt, um sich neben den in Massen ein- und vordringenden, als Herren auftretenden Alemannen auf die Dauer zu behaupten, geschweige denn ihnen die eigene Nationalität aufzuzwingen. - Ganz anders waren die Verhältnisse, unter denen ein zweiter Germanenstamm, die ostgermanischen Burgunden, auf unserm Boden sesshaft wurde.
Nachdem ihr sagenberühmtes Reich um Worms am Mittelrhein nach kurzem Dasein unter den Schlägen der Römer und Heunen zusammengebrochen war, wurden die Reste des Volkes 443 von Aëtius in der alten Sabaudia südlich vom Genfersee angesiedelt und begründeten dort, anfänglich noch unter der Oberhoheit Roms, ein neues römisch-germanisches Reich, das sie später auch über den Südwesten und Westen unseres Landes ausdehnten. Die Beziehungen zu der einheimischen Bevölkerung wurden auf Grund des Hospitalitätsverhältnisses geregelt; darnach hatte jeder Provinziale einen bestimmten Teil seines gesamten Besitzes an die germanischen Gäste abzutreten.
Nach dem selben Grundsatz verfuhren die Burgunden meist auch bei ihren weitern Eroberungen. So sassen Germanen und Gallo-Römer in buntester Mischung durcheinander; die Notwendigkeit des engen Zusammenlebens und täglichen Verkehrs führte bald zu nachbarlicher Annäherung in Sprache und Lebensgewohnheiten, und zwar auf Kosten germanischer Eigenart. Nicht nur weil das römische Element ohne Zweifel numerisch weit stärker war, sondern ganz besonders weil dem für das Fremde ohnehin empfänglichen Germanen die feinere römische Kultur als erstrebenswertes Vorbild erschien.
Dazu kam, dass die innere Politik der burgundischen Könige im wohlverstandenen Interesse des Staates ebenfalls auf eine Milderung der vorhandenen Gegensätze und Verschmelzung der beiden Nationalitäten angelegt war. Nach der herrschenden Annahme wäre die «Verrömerung» der Burgunden in wenig mehr als einem Jahrhundert zum Abschluss gelangt: schon um die Mitte des 6. Jahrhunderts konnte ein zeitgenössischer Geschichtschreiber die Franken den Burgunden als Germanen gegenüberstellen. Indessen ist wohl möglich, dass sich germanische Art und Sprache in einzelnen Gegenden, wo die Verhältnisse günstiger für sie lagen, wie etwa in den nordöstlichen Grenzgebieten, länger erhielten; ganz unwahrscheinlich ist aber, jedenfalls durch keine wirklichen Beweise gestützt, dass sich Burgunden irgendwo der Romanisierung gänzlich entzogen und in späterer deutscher Bevölkerung fortlebten, «alemannisiert» wurden.
Bei ihrem Vordringen nach Norden und Nordosten mussten die Burgunden schliesslich mit den von Norden kommenden Alemannen zusammenstossen, deren feindliche Nachbarn sie schon am Mittelrhein gewesen waren. Leider sind wir über die daraus sich ergebenden Auseinandersetzungen zwischen den beiden Stämmen sehr schlecht unterrichtet. Nur dass sie nicht friedlicher Art waren, auch als das fränkische Szepter beide Völker vereinigte (seit 534 bezw. 536), steht fest; ferner spricht manches dafür, dass sie mit wechselndem Erfolge betrieben wurden, dass einerseits die Alemannen ihre Herrschaft zeitweilig weit nach Westen vorschoben, anderseits die Burgunden vorübergehend den grössten Teil des schweizerischen Mittellandes bis zur Reuss in ihren
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Besitz brachten. Natürlich darf daraus nicht auf entsprechende Schwankungen der ethnischen Grenze geschlossen werden, da politischer Machtbereich und Volksbereich einander nicht bedingen. Wenn z. B. -
in viel späterer Zeit allerdings - der Name Burgund urkundlich weit nach Osten, sogar über den Zürichgau bis nach Engelberg ausgedehnt erscheint, so hat das selbstverständlich nur politische, keinerlei ethnographische Bedeutung. Selbst die ganz oder halb germanischen Orts- und auch Gaunamen, die wir auf heute romanischem Sprachboden gerade im Westen so häufig antreffen, beweisen lediglich für Niederlassungen germanischer Grundherren und für die einstige Ausdehnung germanischer Herrschaft und Verwaltung, nicht aber dafür, dass die betreffenden Gebiete einmal wirklich durchgreifend germanisiert worden sind.
Ueber den Verlauf der ältesten Grenze zwischen alemannischem und burgundisch-romanischem Volkstum fehlen uns tatsächlich irgendwie sichere Zeugnisse. Denn was man sonst etwa dafür angesehen und ausgegeben hat, wie Rassenmerkmale, Häuserbau, Kunsterzeugnisse u. s. w., ist teils von vornherein hinfällig, teils verschiedener Deutung fähig und darum ohne Beweiskraft. Auch das Zeugnis der Flurnamengebung, dieser für die jüngere Geschichte der Sprachgrenze äusserst wertvollen und ergibigen Quelle, versagt für so weit zurückliegende Zeiten ganz, indem, wie H. Morf für die Westschweiz gezeigt hat und auch anderswo sich bestätigt, durchschnittlich ein Jahrtausend fremdsprachiger Siedelung genügt, den sprachlichen Charakter der Flurnamen von Grund aus umzugestalten, so dass also, wo heute romanische bezw. deutsche Flurbezeichnungen an einem Orte fehlen, dadurch romanische bezw. deutsche Besiedelung für das 6. und noch spätere Jahrhunderte nicht ausgeschlossen ist.
Erst für das 9./10. Jahrhundert sind somit auf Grund der toponomastischen Tatsachen, deren Erhebung wir hauptsächlich den bekannten Forschungen J. Zimmerli's verdanken, einigermassen sichere Grenzbestimmungen möglich. Und zwar hat sich ergeben, dass die deutschromanische Grenze, wenigstens südlich vom Berner Jura, damals erheblich weiter östlich verlief als heutzutage, stellenweise nahezu die Aare berührte. Es liegt kein Grund vor, in diesem Stand der Dinge etwa das Ergebnis eines romanischen Vorstosses in früher alemannisches Gebiet hinein zu sehen: die allgemeinen geschichtlichen Verhältnisse und die Analogie der spätern Entwicklung machen es im Gegenteil wahrscheinlich, dass der burgundisch-romanische Siedelungsbereich ursprünglich noch tiefer ins schweizerische Mittelland einschnitt, als wir mit unsern Hilfsmitteln zu erkennen vermögen.
Wie hinsichtlich der Westgrenze, so fehlt auch über die älteste südliche Ausdehnung des deutschen Gebietes jegliche bestimmte Kunde. Doch ist man wohl allgemein darin einig, dass die alemannischen Siedelungen anfänglich nur das flachere Land erfüllten 1) [1) Für etappenweise Ausbreitung auch hier scheinen gewisse sich wiederholende Ortsnamengruppen zu sprechen (vergl. den Anzeiger für schweiz. Geschichte. 1886, 1 ff.).] und sich erst nach und nach in die Thäler der Vor- und Hochalpen vorschoben.
Ursachen und Verlauf dieser Bewegung im einzelnen sind in Dunkel gehüllt; als sicher darf gelten, dass es sich um eine friedliche Durchdringung des nur wenig dicht von Romanen bevölkerten Alpenlandes handelte. Die Germanisierung der Urschweiz vollzog sich zwischen dem 6. und 9. Jahrhundert, wo sie durch urkundliche Zeugnisse feststeht. Aber es fragt sich, ob sie damals schon ganz abgeschlossen war; wenigstens scheinen die freilich vereinzelten romanischen Flurnamen, die sich über Schwyz, Unterwalden und besonders Uri zerstreut finden, für teilweise längere Dauer des romanischen Elementes zu sprechen.
Dass überhaupt die eingewanderten Alemannen mit der romanischen Alpenbevölkerung geraume Zeit hindurch in enger Berührung gelebt haben müssen, lehrt die starke Einwirkung, welche ihre alpwirtschaftliche Terminologie von derselben erfahren hat und welche sich nur daraus erklärt, dass die Romanen auch auf diesem Gebiete die Lehrmeister der Germanen gewesen sind. Um die selbe Zeit ungefähr wie die Waldstätte mag das Berner Oberland zum Teil von den Alemannen besiedelt worden sein: hier wie dort hat die vordeutsche romanische Bevölkerung nicht nur in Ortsnamen, sondern auch in einzelnen Flurnamen (so in der Gegend des Brienzersees) Spuren ihres Daseins hinterlassen.
Wahrscheinlich ins 9. Jahrhundert sind endlich die Anfänge der deutschen Kolonisation des Oberwallis zu setzen, das nach Ausweis zahlreicher, über das ganze Gebiet verteilter undeutscher Ortsbezeichnungen bis dahin ebenfalls eine romanisierte Bevölkerung hatte. Gegen eine spätere Zeit der deutschen Besiedlung spricht das fast gänzliche Fehlen romanischer Flurnamen in den obersten Zenden, gegen eine frühere der Charakter der deutschen Ortsnamen, die mit wenigen Ausnahmen dem jüngern sog. Flurnamentypus angehören (J. Zimmerli: Die deutsch-französische Sprachgrenze III, 88). Woher die deutschen Siedler kamen, ist nicht überliefert. Da indessen der Osten, Süden und Westen 1) [1) Der Osten (das Ursernthal) war im 9. Jahrhundert und auch später noch sicher romanisch.
Warum an burgundische Einwanderung von Westen her nicht zu denken ist, begründet Zimmerli a. a. O. zutreffend damit, dass Anzeichen burgundischer Siedelung im Mittel- und Unterwallis völlig fehlen.] so gut wie ausgeschlossen sind, kann nur der Norden, das Berner Oberland in Frage kommen, und zwar in erster Linie das Haslethal, schon deswegen, weil die Germanisierung des Rhonethals ohne Zweifel von oben nach unten vorgeschritten ist. Dass zwischen dem Oberwallis und Berner Oberland alter Zusammenhang und Verkehr bestand, ist eine vielfach beglaubigte Tatsache; dazu kommt die ausserordentlich nahe sprachliche Verwandtschaft zwischen den beiden Gebieten, die durch unsere Annahme die einfachste Erklärung findet 2). [2) Natürlich würde die (z. B. von Studer: Walliser und Walser, S. 31 ff. vertretene) umgekehrte Annahme, dass das Berner Oberland vom Wallis aus besiedelt worden sei, diese Tatsachen ebenso gut erklären, sie scheitert aber, von andern Schwierigkeiten abgesehen, schon daran, dass dann die Herkunft der deutschen Walliser ein völliges Rätsel bliebe. Dass später vom Wallis aus einzelne Kolonien nach dem Oberland entsandt wurden, soll damit nicht bestritten sein, steht auch mit unserer Annahme nicht im Widerspruch.]
Mit etwas grösserer Sicherheit lässt sich die ältere Entwicklung der östlichen Sprachgrenze bestimmen, wenn schon auch hier, besonders was die zeitliche Fixierung der einzelnen Vorgänge angeht, manches zweifelhaft bleibt. Sicher ist zunächst, dass im Norden jenes Gebietes, das nach unsrer frühern Grenzbestimmung ehemals zur Provinz Rätien gehörte noch lange nach der alemannischen Einwanderung Reste romanischer Bevölkerung, seien es Rätoromanen oder romanisierte Helvetier, sich behauptet haben.
Wir wissen, dass noch im 7. Jahrhundert in der Gegend von Bregenz romanisch gesprochen wurde; noch zu Anfang des 8. Jahrhunderts werden die Bewohner des alten Arbon Romani (bei Walahfrid Strabo Retiani) genannt, ja noch im 10. Jahrhundert scheint in der Nähe von St. Gallen das romanische Idiom fortgelebt zu haben (vergl. A. Holtzmann: Kelten und Germanen. S. 131 ff.). In gleicher Richtung weist eine sprachliche Tatsache. Die heutige Mundart im obern und mittlern Thurgau und im angrenzenden Teil des Kantons St. Gallen, dem sog. Fürstenland 3), [3) ohne die Stadt St. Gallen selbst, die wie das angrenzende Appenzell die Affrikata hat.] teilt mit der Mundart im Rheinthal vom Hirschensprung aufwärts bis über Chur hinaus, im ganzen St. Galler Oberland, im Gaster- und Glarnerland - also auf ausnahmslos alträtischem Boden - die Eigentümlichkeit, dass urdeutsches k in den Verbindungen nk und kk statt der sonst 4) [4) mit Ausnahme des Nordwestens, wo die Erscheinung aber, wie sich zeigen wird, anders zu beurteilen ist.] im Südalemannischen herrschenden Affrikata kχ als reine Fortis k (gg) erscheint: teŋkə, tekkə (= denken, decken) für teŋkχə, tekχə. 5) [5) Eine erklärende Tabelle der im Abschnitt «Sprachen und Mundarten» zur Verwendung gekommenen phonetischen Zeichen findet der Leser weiter hinten.] Es scheint mir sicher, dass das nicht als «unterbliebene Lautverschiebung», sondern aus einer Veränderung zu erklären ist, die das alemannische Deutsch in romanischem Munde erfuhr, indem dieser den ihm fremden Laut kχ durch das ihm geläufige k ersetzte, wie das ja noch jetzt deutschsprechende Romanen tun. 6) [6) Dass die Mundart neben der «romanischen Fortis» doch das tiefe schweizerische χ hat (in χind, starχ usw.), ist freilich auffällig. Im Churer Rheinthal, das erst viel später zum Deutschen übergegangen ist (s. u.), wird denn auch weiter vorn artikulierter Reibelaut gesprochen, der mehr wie starkes bezw. geminiertes h klingt (im Anlaut kh). Aehnliches werden wir auch für das nördliche Gebet vorauszusetzen haben; im Laufe der Jahrhunderte ist dann aber aus der Nachbarschaft das tiefe χ eingedrungen und als einzige Erinnerung an die romanische Zunge unsre Fortis geblieben, die übrigens in der Gegenwart auch vor der gemeinschweizer. Affrikata kχ im Zurückweichen begriffen ist.]
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Darnach wäre also anzunehmen, dass es sich bei der Germanisierung jener Gebiete weniger um eine Verdrängung des romanischen Elements durch die alemannische Einwanderung als um einen Sprachwechsel der eingesessenen romanischen Bevölkerung handelte und dass die eingewanderten Alemannen, die zwar die besitzende und herrschende Klasse bildeten, aber in Minderheit waren, sich in dem einen Punkte der sprachlichen Mehrheit fügten. Jedenfalls haben wir hier einen weitern Beweis für die längere Erhaltung romanischer Sprache in den westlichen Bodenseegegenden.
Wie lange sie sich erhielt, lässt sich nicht mit Sicherheit angeben doch muss man aus dem ganz deutschen Charakter der Flurnamengebung schliessen, dass der Uebergang zum Deutschen im 9. und 10. Jahrhundert im wesentlichen abgeschlossen war, um Jahrhunderte früher als im südlichen churrätischen Gebiet. Auffälligerweise fehlt nun aber jenes lautliche Merkmal den Mundarten im Toggenburg, Appenzellerland und untern Rheinthal, die doch auch zum alten Rätien gehörten. Ob das damit zusammenhängt, dass diese Gebiete zur Zeit der alemannischen Besitznahme nur schwach von Romanen bevölkert waren, so dass das deutsche Element von Anfang an überwog? Ich sehe keine andre Möglichkeit der Erklärung 1). [1) Die Verhältnisse müssen also ähnlich gewesen sein wie im westlich anstossenden Helvetien, wo das Romanische auch keine erkennbare Spur in der deutschen Mundart zurückgelassen hat.] Verhältnismässig früh muss auch der westliche Teil des Gasterlandes und das Glarnerland deutsch geworden sein.
Immerhin erlauben noch heute erhaltene Reste romanischer Flurnamen im letztern Kanton nicht, die Germanisierung früher als etwa ins 11. Jahrhundert zu setzen; beträchtlich länger hielt sich das Romanische auf dem Kerenzerberg am Südufer des Walensees. Jenseits einer Linie, die ungefähr von Schännis im Gaster, die oberste Thalstufe des Toggenburgs (Wildhaus 2) einschliessend, [2) Wenn Wildhaus heute im Gegensatz zum angrenzenden Rheinthal jene «romanische Fortis» nicht (mehr?) hat, also tekχə, teŋkχə spricht, so ist das natürlich toggenburgischer Einfluss, wie denn die heutige Mundart von Wildhaus der Toggenburger Mundart auch sonst näher steht als der Rheinthaler.] zum Hirschensprung im Rheinthal verlief, das heisst innerhalb der Grenzen Churrätiens, sass noch im 9. Jahrhundert fast unvermischte romanische Bevölkerung (vergl. dazu das Zeugnis der Flurnamen bei W. Götzinger: Die romanischen Ortsnamen des Kantons St. Gallen. 1891). Gerade das 9. Jahrhundert aber leitete die entscheidende Wendung zu gunsten des Deutschtums ein: zu Anfang desselben verliert Churrätien durch Einführung der fränkischen Grafschaftsverfassung seine bisherige Sonderstellung, vermöge deren römische Einrichtungen und Kulturtradition sich im Lande lebendig erhalten hatten; 843 kommt es an das ostfränkische Reich, gleichzeitig wird das Bistum Chur aus dem Verbande mit Mailand gelöst und ans Erzbistum Mainz angeschlossen; das Jahr 917 endlich bringt die Vereinigung mit dem Herzogtum Alemannien.
Damit waren die Fäden, die Rätien an den romanischen Süden, an Italien geknüpft hatten, endgiltig durchschnitten und das Land politisch und kulturell deutschem Einfluss preisgegeben. Freilich vermochte sich dieser, zumal in der Sprache, nicht so schnell durchzusetzen, ist doch Rätien zum Teil heute noch romanisches Land. Wohl erscheinen fortan mehr und mehr Deutsche als Inhaber der geistlichen und weltlichen Aemter und in ihrem Gefolge zahlreiche deutsche Dienstleute; das Deutsche wird die Sprache der tonangebenden Kreise, später an Stelle des Lateins auch die Sprache des amtlichen Verkehrs: es herrscht in den Urkunden und Rechtsaufzeichnungen selbst in Gebieten, die noch jetzt romanisch sind. 3) [3) Auch die deutschen Burgnamen auf romanischem Gebiet finden hier ihre Erklärung.] Aber die Masse des Volkes verharrte zunächst überall bei dem angestammten rätoromanischen Idiom; nur langsam, Schritt für Schritt gewann hier das Deutsche Boden. Am frühesten naturgemäss in Unterrätien, wo der Einfluss der alemannischen Nachbarschaft sich am stärksten geltend machte. Im Churer Rheinthal und in Chur selbst ist das Deutsche als Volkssprache erst um die Wende des 15. Jahrhunderts zu unbestrittener Herrschaft gelangt, zu einer Zeit, da es, wie wir sehen werden, in den von den Walsern kolonisierten bündnerischen Hochthälern längst feste Wurzeln geschlagen hatte.
Es erübrigt nun noch, im Anschluss an die bisherigen Ausführungen die Entwicklung der Sprachgrenze seit dem spätern Mittelalter bis zur Gegenwart zu verfolgen. Mit Bezug auf die Westgrenze wurde im allgemeinen festgestellt, dass dieselbe im Mittelalter teilweise in erheblichem Masse östlicher verlief als heutzutage. An Hand der toponomastischen Tatsachen und urkundlicher Nachrichten ergibt sich, dass folgende heute deutschen Gebiete einst zum romanischen Sprachbereich gehörten: 1. die Umgebung von Biel (das trotz seines deutsch klingenden Namens wahrscheinlich selbst keine deutsche Gründung ist) und das Westufer des Bielersees. 2. das sog. Berner Seeland zwischen Bielersee, Zihl und Neuenburger See, der heutige Bezirk Erlach. 3. der südlich angrenzende Teil des Freiburger Seebezirks mit Murten als Zentrum und 4. das Gebiet der Gemeinden Giffers, St. Silvester, Plasselb und Plaffeien im Sensebezirk.
Die Zeit dieser deutschen Eroberungen ist vielfach nicht genau festzustellen. Sicher ist, dass sie im Norden, Westen und Süden des Bielersees noch ins Mittelalter zurückgehen. Wie früh deutsche Sprache im Berner Seeland mächtig wurde, zeigt der dieser Gegend angehörige Graf Rudolf von Neuenburg (Fenis), der älteste bekannte Minnesänger unsres Landes, der gegen Ende des 12. Jahrhunderts provenzalische Liebeslyrik in deutschen Strophen nachahmte.
Bestimmte Daten lassen sich für das Westufer geben. Die Weinberge von Twann waren seit alter Zeit im Besitz deutschschweizerischer Grundherren, die sie wohl durch deutsche Hintersassen bebauen liessen. Schon fürs 13. Jahrhundert bezeugen dort deutsche Flurnamen den im Fluss befindlichen Germanisierungsprozess. Nicht viel später wird dieser in den nördlicher gelegenen Orten Tüscherz und Vingelz vor sich gegangen sein. Das südlichere Ligerz dagegen ist anscheinend erst seit dem 17. Jahrhundert davon ergriffen und erst seit etwa 100 Jahren völlig deutsch geworden. In dem benachbarten zu Neuveville gehörigen Weiler Chavanne vollzieht sich der Uebergang zum Deutschen vor unsern Augen. - Im Freiburger Seebezirk reichen die ältesten Vorstösse des Deutschen ohne Zweifel ebenfalls tief ins Mittelalter zurück.
Doch war der westliche Teil des Murtenbiets bis ins 15. Jahrhundert noch rein oder vorwiegend romanisch, desgleichen Murten selbst, wenn sich auch deutsche Elemente unter seiner Einwohnerschaft schon in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts nachweisen lassen. Kräftig setzte die Germanisierung erst seit dem ausgehenden Mittelalter ein und führte im Laufe des 16.-18. Jahrhunderts zu einer nachhaltigen Verschiebung der Sprachgrenze, zum Teil sogar über die heutige Grenze hinaus. Indessen hat eine jüngere rückläufige Bewegung vorgeschobene Posten wie Cressier, Courtaman, Courtepin, Barberêche teils dem Welschtum neuerdings gewonnen, teils deren Wiedergewinnung vorbereitet. Anderseits sind noch im 19. Jahrhundert eine Anzahl Orte (Meyriez, Greng, Coussiberlé, Courlevon) dem deutschen Gebiet zugewachsen. - Wieder ins Mittelalter zurück gehen die Verluste, die das romanische Gebiet südöstlich von Freiburg, im Thal der obern Gérine und von Plaffeien erlitten hat.
Auch hier griff die deutsche Offensive über die jetzige Sprachgrenze hinaus, noch weit kräftiger als im Seebezirk, und erfüllte die Gegenden westlich gegen die Saane, südwärts bis La Roche im Greierzerland, nordwärts bis Marly, mit deutschen Ansiedlern. Zu einer durchgreifenden Germanisierung kam es indessen nicht, überall behauptete sich das romanische Element neben dem deutschen in wechselnder Stärke. So blieben die Dinge bis ins 18./19. Jahrhundert, wo das exponierte Deutschtum dieses Gebietes dem Umschwung der Verhältnisse grösstenteils zum Opfer fiel. Nur Marly hat nach mannigfachen Schwankungen seinen gemischtsprachigen Charakter bis
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zur Gegenwart bewahrt, ebenso Pierrafortscha, wo das deutsche Element noch überwiegt. - Von grosser Bedeutung für die Entwicklung der sprachlichen Machtverhältnisse in freiburgischen Landen war der Verlauf der Sprachbewegung in der Hauptstadt. Durch die deutschen Zähringer 1177 als Stützpunkt ihrer Hausmacht gegen Westen gegründet, war Freiburg ursprünglich eine deutsche Stadt. Sie büsste aber diesen Charakter schon sehr bald ein. Ihre Lage an der deutsch-romanischen Grenze, die Vorteile, die sie in politischer und ökonomischer Beziehung dem Ansiedler bot, die Vorliebe des Welschen für städtisches Zusammenleben, all das hatte einen erheblichen Zuzug aus dem welschen Hinterlande zur Folge; dazu kam, dass der Klerus (die Stadt gehörte zum Sprengel von Lausanne) überwiegend französisch war und seinen starken Einfluss in diesem Sinne geltend machte.
Seit der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts herrschte das Französische in der städtischen Kanzlei; auch die ältesten Schulen waren französisch. Eine Wendung zu gunsten des Deutschen brachte dann im 15. Jahrhundert die politische Annäherung an die deutsche Eidgenossenschaft, und mit seinem Eintritt in den Bund nach Abschüttelung der savoyischen Herrschaft wurde Freiburg offiziell wieder deutsch, das Deutsche die einzig anerkannte Amts-, Schul- und Kirchensprache, und das Französische sah sich auf den Privat- und Familienverkehr zurückgedrängt. An Zahl hielt die französische Bevölkerung der deutschen nach wie vor ungefähr die Wage. Im 17. und 18. Jahrhundert, in der Zeit der literarischen, überhaupt kulturellen Hegemonie Frankreichs, erlangte das Französische insofern wieder das Uebergewicht, als die gebildeten und sozial höher stehenden Kreise sich ihm zuwandten.
Um so leichter konnte es geschehen, dass die politische Umwälzung um die Wende des 18. Jahrhunderts mit dem alten Regiment auch die offizielle Herrschaft des Deutschen beseitigte. 1830 wurde das Französische ausdrücklich als Staatssprache des neuen Kantons Freiburg erklärt und genoss fortan der selben Förderung von oben herab, die unter den frühern Verhältnissen dem Deutschen zu gute gekommen war. Dass seitdem grundsätzlich die Gleichberechtigung beider Sprachen proklamiert wurde, änderte daran in Wirklichkeit nicht viel, zumal in der Hauptstadt, deren Verwaltung in allen Zweigen ausschliesslich französisch blieb.
Auch die Kirche hielt an der alten Bundesgenossenschaft mit dem Französischen fest. So konnte es nicht ausbleiben, dass das numerische Verhältnis des französischen und deutschen Elements sich zu Ungunsten des letztern verschob, das bei der jüngsten Zählung nur noch ⅓ der Bevölkerung ausmachte (5595 Deutsche auf 9701 Welsche). Dass es nicht noch stärker zurückging, ist der anhaltenden starken Zuwanderung aus dem deutschen Kantonsteil und der übrigen deutschen Schweiz zuzuschreiben. Die alte lokale Scheidung zwischen der deutschen Unterstadt und der französischen Oberstadt hat heute keine Berechtigung mehr.
Auf den engen Zusammenhang, der zwischen der Entwicklung der westlichen Sprachgrenze und gewissen grossen Tatsachen unsrer Geschichte besteht, hat namentlich H. Morf (Deutsche und Romanen in der Schweiz. S. 24 ff.) hingewiesen. Jene mittelalterlichen Vorstösse des Deutschen am Bielersee und im Freiburger Mittelland fallen ohne Zweifel zusammen mit der Ausbreitung der zähringischen Herrschaft im 12. und Anfang des 13. Jahrhunderts. Eine neue, dem Deutschtum günstige Epoche leiteten die Burgunderkriege ein: teils wurde der ältere deutsche Besitzstand befestigt, teils neues Gebiet hinzugewonnen.
Letzteres war besonders in der Herrschaft Murten der Fall, die 1476 an Bern und Freiburg kam und unter dem Einfluss Berns nicht nur endgiltig germanisiert, sondern auch der Reformation zugeführt wurde, womit ein neues wichtiges Moment in die Sprachbewegung eintrat. Einen französischen Rückstoss, dessen Wirkungen noch heute nicht abgeschlossen sind, brachte die französische Revolution und die durch sie herbeigeführte Umbildung der Eidgenossenschaft. In Freiburg gewinnt dadurch das Französische die Oberhand und gefährdet, von Staat und katholischer Kirche begünstigt, eine der noch nicht gefestigten deutschen Positionen um die andere. Anderseits erweist sich das deutsche protestantische Murten als «kirchliches und wirtschaftliches Germanisierungszentrum» und hält den von der Hauptstadt ausgehenden romanisierenden Einflüssen innerhalb seiner Einflusssphäre erfolgreich das Gegengewicht. Im Zeichen dieses Gegensatzes steht die moderne freiburgische Sprachbewegung.
In ähnlichen, auch zeitlich entsprechenden Etappen wie im Freiburgischen verlief die Entwicklung der deutschen Sprachgrenze im Wallis. Als ältestes deutsches Gebiet, von dessen Besitznahme früher die Rede war, haben die obersten Thalstufen bis gegen Brig und Naters hinunter, also die Bezirke Goms und Mörel zu gelten; es ist als solches gekennzeichnet durch das Fehlen romanischer Flurbezeichnungen Von hier aus wurde, wahrscheinlich im 12./13. Jahrhundert, das Gebiet bis zur Mündung der Lonza (Bezirke Brig, Visp und Raron) dem Deutschtum gewonnen: hier finden sich noch zerstreut romanische Flurnamen an der Lonzamündung die letzten deutschen Ortsnamen (Steg, Hohtenn).
Ein neuer Vorstoss, seit dem 14. Jahrhundert erkennbar, führte zur Germanisierung des Bezirks Leuk und schuf dem Deutschen auch in Siders und Sitten das Uebergewicht. Wieder ist der Flurnamenbefund charakteristisch: im Bezirk Leuk sind romanische Flurnamen noch häufig, schon in Leuk machen sie ⅔ des ganzen Bestandes aus, in Salgesch, dem untersten Dorf des Bezirks, ebenso in Siders und Sitten bilden sie die Regel. Auch im Wallis liegt der Zusammenhang der sprachlichen Verschiebungen mit dem Gang der Landesgeschichte offen zu Tage: sie sind nichts als Begleiterscheinungen des grossen Kampfes, den die in ihrer Mehrheit deutschen Bauerngemeinden des Oberwallis mit dem Haus Savoyen, bezw. dem ihm dienstbaren Landadel und dem Bischof von Sitten um die Vorherrschaft im Rhonethal führten und der 1475 mit der Eroberung des Unterwallis endete, das fortan (bis 1798) Untertanenland des Oberwallis war. Nur in der ältern Zeit geschah die Ausbreitung der deutschen Siedelungen wohl auch wie anderwärts mit Zustimmung oder auf direkte Veranlassung und Befehl der Feudalherren, um unbebaute Gegenden ihres Besitzes zu bevölkern und nutzbar zu machen; wie denn die deutsche Besiedelung des Lötschenthals den Herren von Thurn zugeschrieben wird, denen das Thal im 13. und 14. Jahrhundert gehörte.
Schon im 14. Jahrhundert scheinen die obern Gemeinden des Zendens Leuk deutsch geworden zu sein; im untern Teil vollzog sich der Uebergang im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts: Salgesch war im 15. Jahrhundert noch romanisch, Leuk um die Mitte des 16. noch doppelsprachig. Das Gleiche ist aus der selben Zeit für Siders bezeugt, ebenso für Sitten, wo die ersten sichern Anzeichen deutscher Einwanderung im Anfang des 15. Jahrhunderts auftreten. Während aber Leuk später vollständig verdeutscht wurde, war das in Siders wohl niemals der Fall, und noch weniger in Sitten, wenn auch das Deutsche im 17. und 18. Jahrhundert nicht nur das ganze öffentliche Leben beherrschte, sondern auch die entschiedene Mehrheit der Bevölkerung für sich hatte.
Dazu kam, dass, im Gegensatz zu den obern Bezirken, in Siders und Sitten die Germanisierung sich im wesentlichen auf das Weichbild dieser Orte beschränkte, während das umliegende Land romanisch blieb (das bei Sitten gelegene und wirtschaftlich mit ihm zusammengehörige Bramois ausgenommen). Wie in Freiburg, so leitete im Wallis die Umwälzung von 1798 eine Wendung zu gunsten des Französischen ein. Das Oberwallis verlor seine politischen Vorrechte. Indem die Verfassung von 1840 für die Bestellung der Staatsbehörden den Grundsatz der proportionalen Vertretung aufstellte, musste die politische Vorherrschaft dem numerisch weit stärkern romanischen Landesteil zufallen.
Das Französische wurde, wenn auch nicht gesetzlich, so doch in Wirklichkeit die eigentliche Staatssprache. Die Folge war ein rascher Rückgang des Deutschtums vor allem in der Hauptstadt. Während noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts ¾ ihrer Bewohner deutsch sprachen, hatten die Deutschen schon 1860 die Mehrheit eingebüsst und machten im Jahr 1900 kaum mehr ¼, noch dazu den wirtschaftlich schwächsten Teil der Bevölkerung aus. In der gleichen Richtung ging die Entwicklung im benachbarten Bramois, das um 1800 noch 60-70% Deutsche zählte, heute aber eine starke französische Mehrheit hat. Ebenso in Siders, wo das deutsche