mehr
Die wichtigsten seit dem Erscheinen der Crania helvetica antiqua gemachten Funde werden in folgenden Arbeiten beschrieben und erklärt: Verneau, R. Un nouveau crâne humain d'une cité lacustre (in L' Anthropologie. Paris 1894). - Schenk, Alex. Étude sur les ossements humains des sépultures néolithiques (lacustres?) de senvirons de Lausanne (im Bulletin de la Soc. vaud. des Sc. nat. 1898). - Pittard, E. Sur des restes humains provenant de diverses stations lacustres de l'âge du bronze en Suisse (in den Archives des sc. phys. et nat. Genève 1899). - Pittard, E. Sur de nouveaux crânes provenant de diverses stations lacustres de l'époque néolithique et de l'âge du bronze en Suisse (in L' Anthropologie. 1899). - Pittard, E. Un nouveau crâne humain d'une station lacustre du lac de Neuchâtel (im Bull. de la Soc. des sc. Bucarest 1900).
Wenn wir alle diese Funde miteinander vergleichen, können wir uns das Bild der ethnischen Vorgänge in Kürze folgendermassen wiederherstellen: Nach dem Rückzug der Gletscher haben sich die Magdalenier, die wahrscheinlich gleich allen damaligen Bewohnern von Europa Dolichocephalen gewesen sind, im Gebiet der heutigen Schweiz (besonders im Kanton Schaff hausen) niedergelassen. Seit dem Beginn der neolithischen Zeit und vielleicht schon früher lebten auf unserm Boden Dolichocephalen von kleiner Statur (Nachkommen der Magdalenier?), die als Zeugen ihrer Anwesenheit namentlich die schönen Gräberfunde von Chamblandes hinterlassen haben.
Erbauer und Bewohner der ersten schweizerischen Pfahlbauten werden wahrscheinlich neolithische Brachycephalen (Protobrachycephalen vom Typus von Grenelle), denen sich gegen die Mitte der neolithischen Periode schon mesocephale und dolichocephale Elemente (neolithische Dolichocephalen nach Hamy, Typus von Genay etc.) zugesellten. Diese letztern erhielten dann gegen Ende der neolithischen und zu Beginn der Metallzeit die Oberhand und scheinen zur Bronzezeit alle ihre Vorgänger vollkommen verdrängt und überflutet zu haben. Mit dem Ende der Bronzezeit tauchen dann endlich von neuem (?) Brachycephalen auf, deren Schädelform noch ausgesprochener brachycephal zu sein scheint als diejenige ihrer Vorgänger aus der neolithischen Periode.
Dieser Versuch einer ethnischen Synthese bedarf aber noch der Vorbehalte. Erstens müssen wir noch neue Entdeckungen abwarten, die ohne Zweifel nicht auf sich warten lassen werden, und zweitens ist stets zu bedenken, dass die im Schlamm der Seen gemachten Funde nicht immer chronologisch derart sicher einzureihen sind, wie man es wünschen möchte.
Eine besondere Erwähnung verdienen unter der prähistorischen Bevölkerung noch die Pygmäen oder Zwergrassen. Diese Pygmäen, deren Reste in verschiedenen Grabstätten aufgedeckt wurden, stellen keine Fälle von zufälliger Missbildung dar, sondern sind normale Individuen. Sie bilden auf Grund der Gesamtheit ihrer körperlichen Merkmale eine besondere «Rasse», von der übrigens auch in andern Gegenden Europas, sowie in andern Kontinenten Vertreter entdeckt worden sind.
Die Funde von Pygmäenskeletten in der Schweiz werden immer häufiger (Géronde im Wallis, Moosseedorf im Kanton Bern, Schweizersbild und Dachsenbühl im Kanton Schaffhausen, Chamblandes in der Waadt etc.) und gehören Individuen beider Geschlechter an. Ihre Körperlänge ist sehr gering, doch genügt die Anzahl der bereits veröffentlichten Zahlenangaben zur Aufstellung eines Mittels von bleibender Giftigkeit leider noch nicht. Als Beispiel einer besonders kleinen Statur nennen wir diejenige eines im Ergolzwiler Moos (Basel Land) aufgefundenen Frauenskelettes mit blos 1,33 m Körperlänge. Aus der Station am Schweizersbild hat Kollmann von drei Erwachsenen, deren kleinster 1,35 m und deren grösster 1,50 m mass, ein Mittel von 1,424 m erhalten, während Schenk an einer erwachsenen Frau von Chamblandes eine minimale Körperlänge von 1,356 m fand. Ausserhalb der Schweiz sind noch kleinere Individuen gefunden worden. Studer und Bannwarth haben 1894 die Ansicht geäussert, dass die mesocephalen Pygmäen von Chamblandes von den Uferländern des Mittelmeeres hergekommen seien. Grund zu dieser (übrigens sofort angezweifelten) Annahme gaben Schalen von marinen Muscheln, die man bei den Skeletten fand und die ohne Zweifel als Schmucksachen gedient haben.
Die besten Nachweise über die schweizerischen Pygmäen vermitteln die Arbeiten von Prof. Kollmann, so namentlich seine Abhandlung über Die Pygmäen und ihre systematische Stellung innerhalb des Menschengeschlechtes (in den Verhandlungen der Naturf. Gesellsch. in Basel. 16, 1902) und seine die in der Höhle am Dachsenbühl gefundenen Skelette betreffende Monographie in Nüesch's schon genanntem Werk Der Dachsenbühl... (Neue Denkschriften. 39, 1903).
Historische Zeit und Gegenwart.
Es ist schon bemerkt worden, wie wenig wir die anthropologischen Eigenschaften der heutigen Bewohner unseres Landes kennen. Das gleiche gilt auch, wenn wir um einige Jahrhunderte zurück schauen. Eine eingehende Untersuchung dieser Verhältnisse würde auf grosse Schwierigkeiten stossen, weil sich die dazu notwendigen Materialien für mehrere Kantone wohl kaum beschaffen liessen. Menschliche Skelette können blos dann gesammelt werden, wenn Nachgrabungen antike Gräber zu Tage fördern oder Erdarbeiten alte Friedhöfe blosslegen. Da aber die bei diesen Anlässen gefundenen Skelette von ihren Entdeckern meist sofort zerstört werden, verschwinden allmählig die einzigen Dokumente, die uns eine Wiederherstellung des ethnischen Typus unserer Vorfahren erlauben würden, für immer.
In der Mehrzahl der katholischen Kantone hat die fromme Sitte der Aufbewahrung menschlicher Knochenreste in Beinhäusern tausende von immer vollkommen authentischen und auch ihrem Alter nach ziemlich gut zu bestimmenden Schädeln vor dem Untergang gerettet. Diese Beinhäuser bilden für uns eine wertvolle Quelle, die noch lange nicht erschöpft ist. Leider verschwinden aber heute viele dieser Beinhäuser. His und Rütimeyer haben 1867 in ihren Crania Helvetica auf Grund der Untersuchung von 100 Schädeln aus sog. historischer Zeit und von rund 150 zeitgenössischen Schädeln vier in der Schweiz hauptsächlich vorkommende Schädeltypen aufgestellt: den Typus von Sion (Sitten) aus vorrömischer Zeit, den Hohbergtypus aus der Römerzeit und bis zum 5, Jahrhundert n. Chr. reichend, den Typus von Bel Air aus der Burgunder- und Alemannenzeit (5.-9. Jahrhundert) und den Typus von Disentis (vom Mittelalter bis zur Neuzeit).
Die mittleren Indices betragen für den ersten Typus 77,2; für den zweiten 70,7; für den dritten 73,8 und für den vierten 86,5. Diese Einteilung hat aber heute für den Anthropologen blos noch historischen Wert, indem sie seither durch zahlreiche neue Funde modifiziert und überholt worden ist. Immerhin dürfte aber der Disentistypus als Norm für den Schädeltypus der meisten Graubündner und eines grossen Teiles der schweizerischen Brachycephalen überhaupt gelten.
Die Anzahl der untersuchten Skelette der verschiedenen historischen Völkerschaften, die unser Land durchzogen oder sich auch in ihm niedergelassen haben und daher als unsere Vorfahren gelten können, ist mit Hinsicht auf die geringe Volkszahl jener Zeiten eine verhältnismässig sehr kleine. Die meisten Dokumente dieser Art stammen bis jetzt. ¶
mehr
aus den Zeiten der Burgunder und der Alemannen, bieten aber auch keine genügend grosse Serie, um uns völlig zufrieden zu stellen. Die wichtigsten die Schädel - es handelt sich stets hauptsächlich um Schädel - aus jener Zeit betreffenden Veröffentlichungen sind das schon genannte Werk über die Crania Helvetica von His und Rütimeyer, sowie die zahlreichen Mitteilungen von Kollmann, die fast alle in den Verhandlungen der Natur forschenden Gesellschaft zu Basel (von 1883-1892) abgedruckt wurden.
Eine Zusammenfassung aller Beobachtungen und Untersuchungen an diesen Schädeln ergibt als angenähertes Resultat die folgende prozentuale Verteilung: Dolichocephalen 40%, Mesocephalen 28%, Brachycephalen 32%. Es existieren also die beiden Haupttypen der Dolichocephalen und der Brachycephalen in wenig von einander verschiedener Proportion gleichzeitig nebeneinander, während der hohe Prozentsatz der Mesocephalen eine starke Vermischung beider Haupttypen anzeigt.
Die verhältnismässig grosse Anzahl der Dolichocephalen weist klar auf den zu jener Zeit vorherrschenden Einfluss des germanischen oder kymrischen Typus hin. Die schweizerischen Nachkommen der eingewanderten Burgunder haben diesen dolichocephalen Typus bis auf heute beibehalten. Einige bestimmte Gebiete unseres Landes würden es verdienen, in dieser Hinsicht eingehend durchforscht zu werden. Wir wissen, dass mitten in den Gegenden mit brachycephaler Bevölkerung da und dort einige dolichocephale Inseln vorhanden sind. Es erscheint als sehr wahrscheinlich, dass sich mit dem Tage, an dem wir anthropologische Dokumente über die Gesamtheit unseres Landes besitzen, viele bis jetzt rätselhafte Tatsachen aufklären werden. Eine andere noch nicht gelöste Frage, um die man sich bekümmern sollte, ist die, zu wissen, ob und warum der von uns eben namhaft gemachte starke Prozentsatz der Dolichocephalen heute von den Brachycephalen überflügelt worden ist.
Auf der Karte der Verteilung der Schädelindices über Europa, die J. Deniker seinen Mitteilungen über Les races de l' Europe (Association franç. pour l'avancement des sciences; session de 1897) und Les six races composant la population actuelle de l'Europe (Anthropolog. Institute of Great Britain an Ireland. 1904) beigegeben hat, fällt unserm Land die wenig schmeichelhafte Ehre zu, zusammen mit der Türkei und einigen wenigen andern Gebieten nahezu in Weiss gelassen zu sein. Wir zählen mit peinlicher Sorgfalt alle Arten von Tieren, die in unserm Land leben, während dieselben Angaben über den Menschen bis jetzt fehlen.
Neben dem schon erwähnten Werk von His und Rütimeyer, das die Schweiz als Ganzes behandelt, kann man eine Arbeit von Kollmann und Hagenbach über Die in der Schweiz vorkommenden Schädelformen (in den Verhandl. der Naturf. Gesellsch. zu Basel. 1884-85) erwähnen, in der 232 aus allen Zeiten stammende schweizerische Schädel des Basler Museums untersucht werden. Davon haben 53% einen die Zahl 80 (82 am Lebenden) übersteigenden Index, während der mittlere Index der ganzen Serie annähernd 81,7 beträgt und dem subbrachycephalen Typus angehört.
Andere Arbeiten beziehen sich auf räumlich enger begrenzte Gebiete. Leider genügt die Anzahl der gemessenen Schädel nicht überall zur Aufstellung eines stabilen Mittels, doch tragen diese Untersuchungen wenigstens zu einer etwelchen Kenntnis der anthropologischen Verhältnisse einzelner Kantone bei. Am meisten bekannt sind jetzt in dieser Hinsicht Genf (Pittard), Neuenburg (?) (Pittard), Waadt (Schenk und Pittard), Wallis (Scholl, Bedot, Pittard), Graubünden (Beddoe, Scholl, Pittard, Wettstein), ein Teil der Zentralschweiz (His und Rütimeyer, Beddoe, Schürch). Vergl. auch die Art. Graubünden, Waadt und Wallis des Lexikons. Wir wollen nun im folgenden die hauptsächlichsten Resultate dieser Untersuchungen noch kurz aufführen. 1) [1) Um Raum zu sparen, lassen wir eine Anzahl von Veröffentlichungen bei Seite, die sich auf eine zur Aufstellung von allgemeinen Resultaten zu kleine Anzahl von Schädel stützen.]
239 lebende Personen beider Geschlechter, die in Genf von Pittard gemessen worden sind, haben einen mittleren Kopfindex von 80,6 (= 78,6 für den nackten Schädel) 1) ergeben. [1) Um den Kopfindex am Lebenden zu erhalten, fügt man dem Schädelindex zwei Einheiten bei.]
Wie gewöhnlich weisen die Frauen einen höhern Index (82) auf als die Männer (80,2).
80 aus verschiedenen Zeitabschnitten stammende u. von Schenk (Étude préliminaire sur la craniologie vaudoise im Bulletin de la Soc. vaud. des Sc. nat. 1899) gemessene Waadtländer Schädel haben Indices, die von 73,16 bis 93,24 schwanken. Der mittlere Kopfindex beträgt 83,68 und zeigt Brachycephalie an. Die Brachycephalen bilden 76,25% und die Dolichocephalen 11,25% der ganzen Reihe. Weitere, von Pittard gemessene, 59 Waadtländer haben einen mittleren Kopfindex von 84,07 ergeben, der einem Schädelindex von 82,07 entspricht. Diese Zahlen weichen von denen Schenk's nur unbedeutend ab.
Am besten ist das Wallis durchforscht worden. Nähere Angaben darüber werden wir im Artikel "Wallis" des Lexikons machen. An einer Reihe von aus dem Saasthal stammenden Schädeln hat Scholl (Ueber rätische und einige andere alpine Schädelformen) im Jahr 1891 einen mittleren Schädelindex von 87,8 gefunden. Bedot untersuchte 1895 und 1898 (Notes anthropologiques sur le Valais im Bull. de la Soc. anthropol. Paris. 1898) den Kopfindex der Rekruten, zu welchem Zweck er das Wallis in vier Zonen einteilte, deren an Lebenden gemessene mittlere Indices folgende sind: 85,18;
85,22;
82,10;
84,31 (Gesamtmittel 83,72).
Im Jahr 1898 hat das Gorns einen mittleren Index von 85,7 (Pittard) geliefert. Andererseits hat Pittard aus mehr als 400 Schädeln des Rhonethales zwischen Brig und dem Genfersee einen mittleren Index von 84,48 (85,48 am Lebenden) berechnet. Vergl. verschiedene Veröffentlichungen von Pittard (namentlich in der Revue mensuelle de l'École d' Anthropol. de Paris) von 1899 bis 1901 und desselben Verfassers Etude de diverses séries de crânes anciens de la vallée du Rhône (Neuchâtel 1899). Der mittlere Kopf- oder Schädelindex der Walliser weist auf Brachycephalie hin.
Gut untersucht ist auch der Kanton Graubünden. Die seiner Zeit von Baer (1859), His und Rütimeyer (1867), Hamy (1882) und Hovelacque (1892) gemessenen Schädel ergaben einen mittleren Schädelindex von 85 (87 am Lebenden). Beddoe erhielt aus 36 von ihm untersuchten Schädeln einen mittleren Index von 83,6 und Scholl aus 35 Davoserschädeln einen solchen von 85,3, während ihm 10 Schädel aus dem Puschlav die Zahl 85 und beide Serien zusammen ein Mittel von 87 für den Lebenden ergaben.
Auf Grund der Messungen von 47 Schädeln aus dem Rheinthal erhielt Pittard einen mittleren Index von 83,96 (etwa 86 am Lebenden), welche Zahl derjenigen von Scholl ziemlich nahe kommt (vergl. drei Mitteilungen von Eug. Pittard im Bulletin de la Soc. d'anthropol. de Lyon. 1901 und 1902). Wettstein (Zur Anthropologie und Ethnographie des Kreises Disentis. Zürich 1902) hat 252 Schädel aus Disentis und Umgebung untersucht und einen mittleren Index von 85,4 herausgerechnet. Wenn wir aus allen im Kanton Graubünden gemessenen Schädeln das Gesamtmittel berechnen, so erhalten wir dafür die Zahl 84,71, die eine ausgesprochene Brachycephalie anzeigt. Da jede der einzelnen Serien für sich ebenfalls ausgesprochen brachycephalen Typus zeigt, darf das aus den Einzeluntersuchungen sich ergebende Resultat wahrscheinlich auch für den ganzen Kanton als giltig betrachtet werden.
Das zentralschweizerische Gebiet der Kantone Luzern, Unterwalden und Uri ist durch die Arbeiten von His und Rütimeyer, die die Schädel des Beinhauses von Emmetten (Unterwalden) untersucht haben, von Beddoe (Schädel von Stans) und besonders von O. Schürch bekannt geworden, welch' letzterer 455 Schädel gesammelt hat, die aus dem anatomischen Museum zu Bern und aus den Beinhäusern von Hasli (Luzern), Buochs und Stans (Unterwalden), sowie Altorf und Schattdorf (Uri) stammen (vergl. Schürch, O. Neue Beiträge zur Anthropologie der Schweiz. Bern 1900).
Die Schädel von Emmetten gehörten zu 66% dem Disentisertypus (Index 86,1) und zu 34% dem reinen oder gemischten Typus von Sitten (Index 81,6 an). Das Mittel von 84,6 (86,6 am Lebenden) weist auf Brachycephalie hin. Beddoe hatte an den Schädeln von Stans den Index 83,6 ¶