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unter Avrona in die Clemgiaschluchten hinab. Das gesamte Scarlthal umfasst topographisch 102 km2, wovon etwa 47 auf Weiden, 15 auf Wald, 37 auf Fels und Schutt und 3 auf Eis (Gletscher von Sesvenna) entfallen. Lauterburg schätzt die mittlere Wassermenge der Clemgia bei der Alp Mingér Dadora auf 1,71 m3 in der Sekunde, die gesamte Bruttowasserkraft des Baches von der Alp Mingér bis zur Mündung auf 11520 PS, die produktive Wasserkraft auf 922 PS. Heute rechnet man noch 1500 Sekundenliter beim Minimalwasserstand der Clemgia.
Das Elektrizitätswerk Schuls fasst das Wasser etwa 800 m s. der Kraftstation (1193 m) in 1273,6 m Höhe und leitet es mit einem Gefälle von 1‰ durch einen S.-N. verlaufenden Stollen von 667 m Länge, 2 m Höhe und 1,5 m Breite nach dem Wasserschloss. Zwischen diesem und dem Maschinenhaus beträgt die Druckhöhe 80 m. Eine Druckleitung von 60 cm Durchmesser speist zwei Turbinen zu je 225 PS. Bei künftigem weiterem Bedarf kann eine zweite Druckleitung angesetzt und im Maschinenhaus noch eine 500pferdige Turbine montiert werden.
Das Fahrsträsschen nach Scarl führt von der Innbrücke bei Schuls über das Schuttplateau von Gurleina steil hinan, zieht dann durch schönen Lärchenwald und gewinnt, das Wiesenidyll San Jon links lassend, die Waldterrasse von Plan da Fontanas, wo der von Vulpera-Avrona links der Clemgiaschluchten herkommende Fussweg den Scarlbach übersetzt. Durch spärlichen Wald (Bergföhren, Arven, Legföhren) gelangt man auf die trümmerbedeckte, wilde Höhe und dann beim Crappendos («überhängender Fels») vorbei hinab in das enge Felsenthal zwischen den zerrissenen Wänden des Piz Lavetscha-Piz Pisoc und dem Piz San Jon-Piz Madlain.
Etwa 1 Stunde vor dem Dörfchen Scarl fliesst die intermittierende Johannisquelle (Fontana San Jon), die am längsten Tag (d. h. am Johannistag) erscheint und am kürzesten wieder verschwindet, sodass dann das Quellbett trocken liegt. Die Intermittenz ist in dieser Form angezweifelt und zum Teil bestritten worden, doch ist sicher, dass sie überhaupt besteht und dass dieser sog. Hungerbrunnen zeitweise vollständig versiegt. Nun setzt man zwischen schauerlichen Felswüsten einigemale über die Clemgia, worauf sich das einsame, mit Bergföhrengestrüpp bewachsene Val Mingér öffnet, wo 1904 noch ein Bär geschossen worden ist.
Links von dessen Eingang zweigt sich über der Alp Mingér Dadora das enge und felsige Val Foraz ab. Von der rechten Thalseite hängt die wilde Trockenrinne des Val del Poch herab, in dessen Nähe die ehemaligen Bleigruben (silberhaltiger Bleiglanz und Galmei) am Hang des Mot Madlain liegen. Im sog. Schmelzboden gelangen wir an den für die Verarbeitung dieser Erze eingerichteten und jetzt verfallenen Hüttenwerken vorbei. Hier mündet der Bach des Val Tavrü; kurz nachher fliesst der Sesvennabach ein und sind wir in Scarl (1813 m) angelangt.
Von Schuls bis hierher 3 Stunden. Das zu Schuls gehörende Alpendörfchen zählt heute nur noch wenige Häuser, während es zu Campell's Zeiten (etwa 1570) deren rund 70 hatte. Die Kriegsfurie liess eben im 17. Jahrhundert auch diese Gegend veröden. Theobald schildert in seinen Naturbildern die Lage von Scarl wie folgt: «Da wo die Bäche von Scarl und Sesvenna sich vereinigen, liegt ein kleines Dörfchen mit einer weissen Kirche in der Mitte traulich am Fusse der sanft ansteigenden Gneis- und Verrucanoberge, gegenüber die schroffen Kalkmassen des Piz Madlain. Als Hintergrund erscheinen innen im Sesvennathal der Piz Cornet und Cristannes, zwei Kalkberge, deren Schichtensystem bei gewaltig kühnen Umrissen der Bergform so zerrissen ist, dass ich mich nicht leicht an etwas Aehnliches erinnere.» Eine halbe Stunde oberhalb Scarl hört der Fahrweg auf, worauf ein Saumpfad nach O. zum Scarljöchl und ein anderer im breiter gewordenen Thal (schöne Arven) durch die Alpen Astras nach dem Scarlpass leitet (Scarl-Fuldera 3 Stunden und Schuls-Santa Maria im Münsterthal 8 Stunden).
Scarl (1813 m) hat noch etwas Getreidebau und ist mit Samnaun (1846 m) die höchste Stelle, wo im Engadin und in Graubünden überhaupt solcher betrieben wird. Die Wälder haben Lärchen, Fichten, Arven (Pinus cembra), Föhren (Pinus silvestris mit der Abart P. engadinensis), Bergföhren (Pinus montana) und Legföhren (Pinus montana var. uncinata, pumilio und mughus). Die Flora trägt ostalpinen Charakter. Einige seltene Arten sind: Thalictrum alpinum, Ranunculus rutaefolius, Papaver aurantiacum, Oxytropis sordida, Arabis coerulea, Senecio abrotanifolius, Silene quadrifida, Athamanta hirsuta, Linnaea borealis, Primula glutinosa (Sesvennastock), Avena distichophylla etc. Die Alpweiden im Scarlthal gehören Schuls, das überhaupt einen Reichtum daran aufweist, wie wenige Gemeinden Graubündens. Zur Benutzung für das Dorfvieh nebst Sömmerungsvieh dienen die Alpen Sesvenna (2093 m), Tavrü (2117 m), Praditschöl, Astras Dadora und Astras Dadaint (2138 und 2160 m), Tamangur Dadora und Tamangur Dadaint (2135 und 2120 m); die Alpen Tablasot (2090 m), Plazér (2097 m), Schambrina (2148 m) und Mingér (1715 m) werden verpachtet. Die Torflager im obern Scarlthal (Tamangur, Astras und Plazér) sind wohl die grössten des Unter Engadin.
Sehr kompliziert sind die geologischen Verhältnisse des Scarlthales: der Vordergrund überrascht durch die Zusammendrängung zahlreicher Gesteinsarten auf geringem Raum und durch tektonische Störungen, der übrige und ausgedehnteste Abschnitt des Thales durch die Grösse der Störungen und die imposante vertikale Verbreitung der Triasglieder. An der Ueberschiebungslinie des Innthales stossen gneisähnliche Serizitquarzite und Quarzitphyllite unvermittelt an den Tonschiefern des Unter Engadin ab und gehen in Muskovitglimmerschiefer und Gneis über.
Zwischen diesen metamorphosierten alten Sedimenten traten beim Bau des Stollens für das Elektrizitätswerk Schuls zahlreiche Gänge von Saussurit- und Pegmatitglimmergabbro auf. In der sog. Vitriolhöhle an der W.-Seite der Clemgiaschluchten, 10 Minuten unter dem Plateau von Avrona, verwittert aus dem Sedimentgneis massenhaft Schwefelkies zu Eisensulfat und Eisenhydroxyd. Auf den Gneis des untern Zuges folgt in grosser Mächtigkeit Serpentin, in welches Gestein die tiefsten und wildesten Bachschluchten der Clemgia eingeschnitten sind; dann tritt wieder Gneis (mit Granitgängen oder -stöcken) auf, der auf der linken Bachseite oberhalb Avrona mit grauen Kalkschiefern vielfach verquetscht erscheint; über ihm folgen zu beiden Seiten paläozoische Schiefer und Kalke in schmalem Band. Hie und da ist in der Umgebung Gneisverrucano vorhanden, dann beginnen unter mächtiger Schuttbedeckung die Triasglieder vom alpinen Muschelkalk bis zum Hauptdolomit. Die ältern Schichten der Trias sind zum Teil stark reduziert oder durch Druck und Stauchung zusammen- und auch ¶
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übereinandergeschoben, sodass eigentliche Presszonen vorhanden erscheinen. Der Arlbergdolomit ist hier an Verbreitung stark im Ruckstand; am meisten entwickelt ist der Hauptdolomit, in welchem aber hinter Crappendos in schmalen Sätteln nochmals Arlbergdolomit auftaucht. Die Schichten des Hauptdolomites sind am Piz San Jon und Piz Pisoc dermassen zusammengestaucht, dass sie in den beiden Bergstöcken Höhen von 3000 m erreichen; doch bleibt der Grundplan des Gebirgsbaues eine grosse Mulden- und Sattelaufbiegung des Hauptdolomites, der am hintern Gipfel des Piz San Jon, am Piz Madlain und an den Paraits Sesvenna diskordant von Steinsberg- oder Liaskalk und Liasschiefer (Allgäuschiefer) überlagert ist.
Hinter dem Felsentobel Trigl kehrt sich die Schichtfolge des Gebirges wieder um: es folgen auf den Hauptdolomit obere Rauhwacke oder Raiblerschichten, Arlberg- oder Wettersteindolomit und alpiner Muschelkalk vor dem Schmelzboden von Scarl, dann in der Umgebung dieses Dörfchens (namentlich linksseitig) Verrucano in grosser Verbreitung und endlich Gneis (und Phyllite) in Val Sesvenna und durch die obersten Alpen des Scarlthales bis zu den Jochen, die nach dem Val Avigna und dem Münsterthal hinüberleiten.
Der Sesvennastock aber ist ein Granit- und Granitgneismassiv, durch dessen grossartige Faltungen und Ueberbiegungen der Sedimente die gewaltigen Ueberschiebungen am Piz Cornet und am hintern San Jongipfel, auf welch' letztern wieder Triasschichten und sogar Gneis über die Liasschiefer zu liegen kamen, entstanden sind. In der Umgebung von Scarl ändert das Scharnier einer SO.-Ueberschiebung plötzlich sein O.-W.-Streichen und biegt in die N.-S.-Richtung um.
Seinen Namen hat das Thal nach dem in ihm stehenden Alpendörfchen Scarl erhalten, dessen kleine Kirche 1525 erbaut und dem h. Karl (S-charl = St. Karl) geweiht worden ist. Sprich: Sch-dscharl.
Bibliographie.
Coaz. J., und C. Schröter. Ein Besuch im Val Scarl. Bern 1905 (diesem Werke haben vor zwei Illustrationen entnommen); Theobald, G. Geolog. Beschreibung der n. Gebirge von Graubünden. (Beitr. zur geolog. Karte der Schweiz. 2). Bern 1863; Theobald. G. Naturbilder aus den rätischen Alpen. 3. Aufl. Chur 1893; Schiller, W. Geolog. Untersuchungen im ö. Unter Engadin. I. (in den Berichten der Naturforsch. Gesellsch. zu Freiburg i. B. 14. 1904); Grubenmann. Ulr. Gesteine von Schuls (in den Eclogae geolog. Helvetiae. 8, 1904); Grubenmann, Ulr., und Chr. Tarnuzzer. Geolog. Verhältnisse des Unter Engadin. (Beitr. zur geolog. Karte der Schweiz. 1906); Caviezel, M. Das Engadin in Wort und Bild Samaden 1896.
[Dr. Ch. Tarnuzzer.]