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einem Gegenstück der Urneralpen, ausgefüllt wird. Bei aller Verschiedenheit der beiden Flügelgruppen ist doch ihre Trennung vom Zentralstock eine auffallend ähnliche und zwar einerseits durch die Mulde des Urserenthales, andererseits durch diejenige des Val Bedretto. Dabei ist dieser Teil der Alpen dadurch höchst eigentümlich gestaltet, dass die Gebirgsmassen sich hier in grossen Bogenwällen anordnen, die durch die tiefen Gräben des Tosa- und Tessinthales voneinander getrennt sind.
Die Gotthardgruppe bildet den nördlichsten Teil, d. h. den Scheitel des äussern Walles, wie der Bogen Basodino-Campo Tencia dem Scheitel des innern Bogens entspricht. Zu dem dazwischen liegenden Graben fällt das Gotthardmassiv in kurzen, steilen Abstürzen ab, während nach aussen, zur Muldenzone Goms-Urseren-Tavetsch, die Abdachung sanfter ist und durch Querthäler und Querkämme reicher gegliedert erscheint. Das ganze gleicht einigermassen einer pultförmigen Scholle, längs deren erhöhter Südkante auch die höchsten Gipfel aufgereiht sind und deren Pultfläche von radienförmig nach NW., N. und NO. ausstrahlenden Erosionsrinnen durchschnitten wird.
Längskämme und Längsfurchen zeigen sich nur in beschränktem Mass und in verkümmerten Formen, obwohl sie in der ursprünglichen Anlage des Gebirges dominiert haben mögen, wie auch die Gesteinsmassen, aus welchen sich dieses zusammensetzt, alle in Zügen von SW. nach NO. angeordnet sind. Aber die ursprünglich vielleicht vorherrschenden Längskämme und Längsthäler wurden durch die ununterbrochene Verwitterung und Abtragung und durch die sich immer tiefer einschneidenden Erosionsthäler bis auf kleine Reste verwischt, so dass die Querkämme und Querthäler im Relief die Oberhand erhielten.
Solche Querthäler sind das Eginen- und Gerenthal (inkl. das Thälchen der Gornerlialp) im Wallis, das Wyttenwasserthal, das Thal des St. Gotthardpasses (inkl. Val Tremola an der S.-Flanke) und das Unteralpthal im Kanton Uri und Tessin, der obere Teil von Val Maigels samt seiner einstigen Fortsetzung über Palidulscha, das Val Cornera, Val Nalps und Val Medels in Graubünden. Grössere Längsthäler sind ausser den beiden Grenzmulden von Urseren und Bedretto nur noch der Thalzug von Val Canaria-Val Cadlimo und das Val Piora. Ausserdem mögen an ganz kleinen Längsthälern noch genannt werden das Thälchen des Gerengletscher (Wallis), die Muttenalp, die untern Teile des Val Lucendro und Val Maigels, der oberste Teil des Unteralpthals und das Thal der Alp Sella, welches etwas südl. vom Gotthardhospiz in das Querthal des Val Tremola übergeht. Dieses ist das einzige grössere Thal der Gotthardgruppe, das seinen Ausweg nach S. findet. Es verschiebt den wasserscheidenden Hauptkamm über Monte Prosa und Pizzo Centrale ziemlich weit nach N. Den bedeutendsten Längskamm bildet natürlich die S.-Kante des Gotthardmassivs vom Pizzo Gallina am Nufenenpass über Piz Lucendro, Fibbia, Monte Prosa, Pizzo Centrale und Giubing bis zum Piz Rondadura am Lukmanierpass, die zugleich der N.-Wand der Längsthalfurche Val Bedretto-Canaria-Cadlimo entspricht.
Kleinere Längskämme finden wir in der Kette des Piz Taneda zwischen Val Piora und Val Cadlimo, dann vom Giubing zum Scara Orell am Gotthardpass und in einigen Seitenzweigen der Querkämme, wie z. B. zu beiden Seiten der Muttenalp und in den Saashörnern n. vom Gerengletscher. Man zählt neun Querkämme, die alle von der S.-Kante nach N., bezw. nach NW. und NO. streichen (4 westl. und 5 östl. vom St. Gotthardpass) und von W. nach O. allmählig an Länge zunehmen. Es sind die Ketten der Galmihörner und der Mettlihörner (im Wallis), die der Muttenhörner vom Wyttenwasserstock zum Furkapass, der Ywerberhörner vom Piz Lucendro zum Winterhorn, des Kastelhorns vom Pizzo Centrale zum St. Annaberg und Gurschenstock, des Badus vom Piz Alv zum Oberalppass, des Ravetschgrates (inkl. Piz Cavradi) zwischen Val Maigels und Val Cornera, des Piz Paradis zwischen Val Cornera und Val Nalps und des Piz Ganneretsch zwischen Val Nalps und Val Medels.
Alle diese Querkämme sind nicht schon ursprünglich bei der Auffaltung des Gebirges entstanden, sondern erst nachträglich durch Erosion aus dem Gebirgskörper herausmodelliert worden. Nach dem bereits gesagten steht zu erwarten, dass die Gipfelhöhen in ihnen von S. nach N. abnehmen. Im allgemeinen ist dies auch wirklich der Fall; doch gibt es Ausnahmen, indem z. B. der Badus (2931 m) höher ist als der Piz Alv (2771 m) und der Piz Ganneretsch (3043 m) höher als der Piz Rondadura (3019 m). Dies kann jedoch nicht befremden, da die Gipfel überhaupt nur Ruinen, d. h. von der Erosion bis jetzt noch stehen gelassene Reste eines einst geschlosseneren Gebirges sind, und es von allerlei lokalen Umständen (wie Härte und Lagerung des Gesteins, Nähe der Erosionsfurchen etc.) abhing, ob nun gerade ein weiter nach ¶
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S. oder ein weiter nach N. gelegener Gipfel widerstandsfähiger war oder weniger stark angegriffen wurde und darum höher blieb. Im allgemeinen zeigt aber die Verteilung von Eis und Schnee, der sicherste Massstab für die Beurteilung grösserer Massenerhebungen, dass wirklich die Kulminationslinie des Gotthardmassivs an dessen S.-Rand liegt. Denn wenn auch dieses Massiv nicht gerade stark vergletschert ist, so sehen wir doch seine grösseren Eismassen im ganzen an den S.-Rand gelehnt und von da in die nördl. Thäler hinunterhängen, so die Gletscher am Piz Rotondo, Wyttenwasserstock und Leckihorn, am Piz Lucendro, Pizzo Centrale, Piz Ravetsch, Piz Blas und Piz Rondadura.
Immerhin zeigen auch einige der Querketten ziemlich ausgedehnte Firnfelder, wie die der Muttenhörner, des Kastelhorns, des Ravetschgrates, sowie der Paradis- und der Ganneretschkette. Die Neigung der ursprünglichen Pultfläche war eben bis nahe an den N.-Rand nur eine mässige, was ferner aus dem Umstand hervorgeht, dass auch die bis nahe an die Urseren-Tavetschermulde vorgeschobenen Gipfel meist noch 2700-2800 m Höhe erreichen. Da endlich auch die Scharten des Hauptkammes, d. h. die von N. nach S. führenden Querjoche - mit der einzigen Ausnahme des St. Gotthardpasses (2114 m) selbst - nur selten bis unter 2700 m eingeschnitten sind, so tritt die Berechtigung, dieses ganze Gebirge trotz seiner zahlreichen Kämme und Schluchten, Gipfel und Joche als ein schwach nach N. geneigtes Plateau mit ursprünglichen seichten Längsrinnen und erst nachträglich durch Erosion herausmodellierten Querthälern und Querkämmen aufzufassen, deutlich genug hervor.
Das Gotthardgebirge ist zwar nur von mässiger Höhe, hat aber doch ein ernstes hochalpines, dabei allerdings etwas eintöniges und einförmiges Gepräge. Dazu trägt schon der Umstand viel bei, dass es so weit von allen durch reiche Vegetation blühenden und mit zahlreichen menschlichen Siedelungen belebten Niederungen entfernt ist und man solche auch von seinen Höhenpunkten aus nicht zu erblicken vermag. Verschärft wird dieser Charakter des Gebirges noch durch die weitgehende Verwitterung seines Felsgerüstes, die sich in den wilden Blockhaufen der Gipfel und in den endlosen grauen Trümmerhalden der Abhänge kundgibt, durch die Dürftigkeit der Vegetation, die nur an den äussersten Rändern des Massivs Baumwuchs aufweist, durch die vielen düsteren, von Moor und Fels umgebenen kleinen Seen und endlich durch die Gleichartigkeit der krystallinschieferigen Gesteine und die gleichmässig steile bis senkrechte Aufrichtung ihrer dickbankigen Schichten, wodurch auch die Gipfel grosse Aehnlichkeit der Formen und ein rauhes, oft abschreckend wildes Aussehen erhalten.
Die relativ geringe Vergletscherung vermag diesen letztern nur wenig von dem blendenden Glanz und der zauberhaften Schönheit zu verleihen, die man sonst an unsern Alpengipfeln bewundert. Am meisten weist diesen Schmuck noch die südwestlichste Partie des Massives auf, die im Pizzo Rotondo (3197 m), Pizzo Pesciora (3123 m), Mutthorn (3103 m), Wyttenwasserstock (3084 m), Kühbodenhorn (3073 m), Leckihorn (3069 m) etc. dessen höchste Spitzen enthält. Sonst aber sehen die Kämme und Hörner ernst, grau und zerfallen aus und erreichen besonders im östl. Teil, im Ravetschgrat und in den Ketten des Piz Paradis und des Piz Ganneretsch, einen Charakter von ungewöhnlicher Rauhheit und Wildheit.
Selbst die etwa 50 kleinern und grössern Bergseen und Wassertümpel, die über das Gotthardgebiet zerstreut sind, machen mit ihren meist milchig-trüben oder dunkeln Gewässern, mit ihrer oft moorigen oder steinigen Umgebung und in ihrer verlorenen und frostigen Lage vielfach einen unfreundlich-düstern Eindruck. Doch fehlt es nicht ganz an lieblichen Bildern, namentlich an solchen Stellen, wo die Seen nicht zu klein sind, vielleicht auch noch gesellig auftreten und noch innerhalb der Weideregion liegen.
Immer wird der Wanderer freudig überrascht sein, wenn er z. B. an die inmitten eines weiten Gipfelkranzes eingesenkten und von Alpenrosengebüschen umrahmten ziemlich weiten Becken des Lago di Lucendro oder des Lago di Sella herantritt. Das mattengrüne, vom Lago Ritom und mehreren andern Seen geschmückte Val Piora gehört sogar zu den anmutigsten und reizendsten Hochgebirgslandschaften der Schweiz, ist aber freilich auch an den äussersten SO.-Rand des Gotthardgebietes gerückt. Wie hier, wenn auch nicht mit solcher Anmut, finden wir die Seen in geselliger Anhäufung noch an manchen Stellen des St. Gotthardmassives, so im benachbarten Val Cadlimo, dann gegen den Piz del Laiblau nw. vom Lukmanier, auf der Hochfläche von Siarra ö. unter dem Badus und besonders auch am St. Gotthardpass selber, wo sich die Strasse zwischen den verschiedenen Wasserbecken hindurchwindet. ¶