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spornartig vorspringende Thälistock (auf der Siegfriedkarte irrtümlich Tellstock genannt) trennt den Grossen Thälifirn vom Kleinen Thälifirn. Die am Punkt der Vereinigung dieser beiden Firnfelder beginnende Mittelmoräne verliert sich in der am Fuss der Gerstenhörner und oberhalb der Saaswand liegenden sog. Moränenbucht, einer chaotischen Anhäufung von Felsblöcken, die in verworrenstem Durcheinander abgelagert sind. Die an den Flanken der Gelmer- und Gerstenhörner hängenden kleinen Eisfelder stehen beim jetzigen Minimalstadium mit dem Hauptgletscher nicht mehr in Verbindung und nähren daher das vom Thälifirn ausgehende und noch vor seiner Ankunft in der Moränenbucht durch Ablation verschwindende Eisband ebenfalls nicht mehr.
Wie sich diese Verhältnisse beim Vorstossen und Maximalstand des Gletschers gestalten würden, wissen wir nicht. Der Grosse Firn wird von den Ausläufern des Galenstocks nur wenig gegliedert, aber doch genug, um die Entstehung einer Moräne zu ermöglichen die am Fuss des Galengrates oberhalb des Belvédère am linken Ufer strandet. Nach den Zeichnungen von Besson 1777 und Zeller 1852 scheint es, als ob der kleine Gletscher w. vom Furkahorn und Galengrat sich während einer Vorstossperiode mit dem Hauptgletscher vereinigen würde; betrachtet man aber die Zeichnung von Konrad Escher 1794, so steigen einem darüber wieder Zweifel auf.
Auf der erwähnten Ablenkung der Mittelmoränen gegen die Ufer hin beruht die relative Reinheit des eigentlichen Körpers des Rhonegletschers. Unterhalb des Eisfalles finden sich (wenigstens bei Minimalstand) keine Steine mehr, und auch die Muschel wird blos durch äolischen Staub verunreinigt, der auf ihrer Oberfläche sich zu braunen Schmutzbändern anordnet. Doch erscheinen mitten in der Muschel im Drittel gegen das rechte Ufer hin horizontal geschichtete Sand- und Kieslagen, die wahrscheinlich vom Boden einer einst im obern Gletscherabschnitt befindlichen Gletschermühle herstammen und infolge von Ueberschiebung ausgebreitet worden und an die Eisoberfläche gelangt sind.
Bemerkenswert rein ist das Eis des Endstückes des Gletschers, und am ganzen Stirnrand der Muschel zeigt sich keine Spur von Untermoränen. Die um 1880 in die Gletscherstirn rechts vom Austritt des Gletscherbaches und während der letzten 20 Jahre links davon eingehauenen künstlichen Grotten gehen durch das klarste Eis und haben fast nirgends einen Gesteinsbrocken angetroffen. Ich kenne von keinem andern Gletscher her ein so prachtvolles, tiefes und starkes Blau wie es die sog. Azurgrotte des Rhonegletschers oder die unter dem Gletscher ausgeschmolzenen Höhlen bieten, in die ich seinerzeit ohne zu grosse Gefahr hineinkriechen konnte.
Berühmt ist der Rhonegletscher durch seinen prachtvollen Eisfall, in dem das Eis über die Felsenschwelle zwischen der Saaswand und dem Belvédère an der Furkawand hinunterstürzt. Mit seiner Höhe von etwa 450 m ist er etwa 10mal höher als der Niagarafall und 20mal höher als der Rheinfall bei Schaffhausen. Das Eis steigt hier in mächtigen Treppenstufen ab, die eine über die andere stürzen und der Reihe nach zu elegant geformten und äusserst vielgestaltigen Blättern, Nadeln und Pyramiden zerreissen.
Beim Minimalstand des Gletschers misst die höchste Vertikalstufe des Falles 32 m Höhe. Einen so imposanten Eisfall weisen nur wenige andere Gletscher auf, keiner aber zeigt ihn dem bewundernden Blick der Naturfreunde unter so günstigen und bequemen Zugangsbedingungen. Die grosse Furkastrasse zieht sich auf Kilometer vor und am Fuss des Falles hin, nähert sich ihm dann beim Anstieg an der Furkawand mit jeder Schlinge immer mehr und lässt uns endlich beim Belvédère das Schauspiel in seiner ganzen Grossartigkeit geniessen.
Wenn ich meine nun auf 35 Jahre zurückgehenden eigenen Erinnerungen mit den seit 140 Jahren vom Rhonegletscher gemachten Zeichnungen vergleiche, glaube ich sagen zu können, dass der Eisfall beim Minimalstand des Gletschers schöner und wilder zerrissen ist als beim Maximalstand, da die Muschel noch bis etwa zur Hälfte der Eiskaskade hinaufreichte. Ein in ⅔ der Höhe und im rechtsseitigen Viertel des Falles am erfolgter Einsturz des Eises, der wie durch ein Fenster hindurch den über die Felsenschwelle schäumenden Gletscherbach sehen liess, hat gezeigt, wie wenig mächtig hier während einer Rückzugsperiode die Dicke des Eises ist, d. h. blos 5-10 m. Die abstürzenden Eisblöcke regelieren am Fuss des Falles wieder zu einem neuen, einheitlichen Gletscherfeld, einer konvex aufgewölbten, mächtigen Eismasse mit radial ausstrahlenden Gletscherspalten. Diese nach ihrer Aehnlichkeit mit einer Jakobsmuschel so genannte «Muschel» ist beim Minimalstand des Gletschers zu kurz und nicht scharf geformt und wird dann richtiger mit einer Löwenpfote verglichen, zeigt ¶
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sich bei mittlerem Gletscherstand in vollendeter Schalenform und kann beim Maximalstand im Verhältnis zur Breite wieder zu lang werden. Die Stirn des Rhonegletschers liegt nun beim Minimalstand in dem dem Gletscher eigenen Thälchen (1904: 250 m hinter der Mündung des Muttbaches). Sie setzt bei jedem Vorstoss über den Muttbach hinweg, der dann in einem Eistunnel unter der Muschel durchfliesst und sich ebenfalls noch unter dem Eis mit dem eigentlichen Gletscherbach (d. h. der jungen Rhone) vereinigt. Es liegen keine Beobachtungen oder Ueberlieferungen darüber vor, dass dieser Eistunnel jemals verstopft oder verschlossen worden sei und dass sich dann - ähnlich wie dies bei andern Gletschern in analogen Fällen leider nur zu oft der Fall ist - infolge Aufstauung des Wassers des Muttbaches durch das Eis des Rhonegletschers oberhalb der linken Seitenmoräne ein temporärer Gletschersee gebildet hätte. Während der letzten Rückzugsphase von 1860-1890 haben wir beobachtet, dass der an den Fuss des Längisgrates anstossende Teil der Muschel durch die Ueberreste der im Winter auf ihn niedergegangenen Lawinen vor der Ablation geschützt wurde und so einen sehr schmutzigen toten Gletscher bildete, der nur langsam schmolz und weit über die rascher zurückschmelzende Gletscherstirn hervorragend blieb.
Die Wassermenge des dem Rhonegletscher entspringenden Baches ist vom eidgenössischen hydrometrischen Bureau mehrfach gemessen worden und betrug per Sekunde im Augustmaximum 1902 8,8 m3, im Februarminimum 1903 noch 0,1 m3. Es trifft somit beim maximalen Wasserstand auf je einen km2 des 22,8 km2 messenden Einzugsgebietes des Gletschers eine Wassermasse von 0,4 m3 per Sekunde. Der auf den obern Abschnitt des Gletschers gefallene Schnee ist seit 1898 gemessen worden und kann nach diesen Messungen auf 142 cm Wasser geschätzt werden, was je einem km2 der Fläche pro Jahr im Mittel 0,04 m3 Wasser per Sekunde liefern würde.
Die maximale Wasserführung des Muttbaches betrug im August 1902 mit 0,8 m3 per Sekunde blos einen Zehntel derjenigen der Rhone. In Gletsch erhält diese letztere einen von den Chroniken Rottanquelle geheissenen, berühmten Zufluss, der einige hundert Meter nw. vom Hotel in Gletsch als Thermalquelle von 15 Sekundenliter Stärke dem Boden entspringt. Seine unveränderliche Temperatur ist von Hor. Bén. de Saussure 1783 zu 14,5 °R., d. h. 18,1 °C bestimmt worden. Eine von Ch. Dufour vorgeschlagene Korrektion ändert diese Zahl in 17,9 °C, was genau der von uns selbst 1870-71 beobachteten Temperatur entspricht. Diese in 1765 m Höhe entspringende und im Winter mitten in ihrer eisstarrenden Umgebung warm bleibende Quelle hat von jeher die Gemüter der Bergbewohner und der Reisenden, die alle voller Erstaunen und Respekt von ihr sprechen, lebhaft beschäftigt.
Infolge seiner Lage am Rand einer grossen Poststrasse und in der Nähe von sehr komfortabeln Gasthöfen und Schutzhütten bildet der Rhonegletscher für den Naturforscher, der sich hier keine Nahrungs- und Unterkunftssorgen zu machen braucht, ein vorzügliches Studienobjekt. Hier haben Ch. Dufour und F. A. Forel 1871 und 1872 ihre Untersuchungen über den Betrag der Kondensation des Wasserdampfes auf dem Gletscher angestellt und durch direkte Beobachtungen und Messungen gezeigt, dass der Niederschlag des verdichteten Wasserdampfes in einer Stunde eine Höhe von 0,1-0,3 mm erreichen kann, was einer stündlichen Wassermenge von 100-300 m3 auf einen km2 entspricht. Es ist somit die direkte Kondensation auf dem Eis und Schnee des Hochgebirges ein für die Erhöhung der Wasserführung der alpinen Flüsse wichtiger Faktor (vergl. Bulletin de la Soc. vaud. des sc. nat. 10 [1870], S. 621).
Hier am Rhonegletscher hat auch die Schweizerische Gletscherkommission seit 1874 die ersten längere Zeit andauernden, systematischen Beobachtungen über den Gang eines Gletschers vorgenommen. Diese nach dem Vorschlag von Eugen Rambert vom Schweizer Alpenklub und der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft 1869 gemeinsam bestellte Kommission hat sich, unter verschiedener äusserer Form, bis heute erhalten und stand der Reihe nach unter dem Präsidium von Eduard Desor aus Neuenburg, Ludwig Rütimeyer und Eduard Hagenbach-Bischoff aus Basel. Als Aufgabe stellte sie sich die Herstellung einer physischen und topographischen Karte eines bestimmten Gletschers, sowie das Studium des Fliessens dieses Gletschers und der diese Erscheinung bedingenden Ursachen. Als Studienobjekt wurde der Rhonegletscher ausersehen.
Die Kommission hatte das Glück, sich zugleich die Mitwirkung des der Reihe nach von H. Siegfried, J. Dumur, J. J. Lochmann und L. Held geleiteten Eidgenössischen topographischen Bureaus zu sichern, dessen Ingenieure ¶