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von Truns, Tavanasa unter Brigels, dann besonders Ilanz an der grössten Thalgabelung des Oberlandes und darum auch von jeher politisches und Verkehrszentrum desselben, Kästris, Schleuis und Sagens im erweiterten Becken der Gruob, aber auch hier nicht am Rhein, sondern am ansteigenden Fuss des Berghangs. Die Seitenthäler sind in ihren Flussrinnen meist so eng, dass schon aus diesem Grund hier keine Ansiedelungen möglich sind, ausgenommen Vals in einem etwas erweiterten Thalkessel. Auf Terrassen der rechten, weniger sonnigen Seite des Rheinthals finden wir ausser Obersaxen nur Mompè-Medels bei Disentis, Luvis und Seewis bei Ilanz, Valendas und Versam. Dagegen ist die rechte Thalseite des Lugnez von einer ganzen Reihe von Orten besetzt (Riein, Pitasch, Duvin, Camuns und Tersnaus), da hier der Gegensatz zwischen Sonnenseite und Schattenseite nicht so gross ist wie im Rheinthal. Dasselbe gilt auch vom Val Medels.
Eine Reise durch das Bündner Oberland bietet reiche Abwechslung und hohen Genuss selbst dann, wenn man sich bis Ilanz an die Eisenbahn und dann bis auf die Oberalp an die «Oberländerstrasse» hält, noch mehr aber, wenn man auch einzelne der abseits liegenden Terrassenorte und Seitenthäler besucht und gelegentlich einen der leichter zu erreichenden Berge besteigt, wie etwa den Flimserstein mit seinem breiten Gipfelplateau oder den als Rigi des Oberlandes bezeichneten Piz Mundaun oder die Garvera bei Disentis.
Schon der Eintritt ins Oberland ist höchst eigenartig und rätselhaft. Hinter Reichenau erscheint das Thal durch einen breiten Schuttberg, der freilich längst überwachsen ist, wie abgeschlossen. Die ungeheure Trümmermasse eines prähistorischen Bergsturzes erfüllt das Thal von einer Seite bis zur andern auf eine Breite und Länge von je mehreren Kilometern. (Ueber diesen Flimser Bergsturz siehe die Artikel Flims und Graubünden). Der Rhein hat sich in einem gewundenen Schluchtenthal darin eingeschnitten, und ihm folgt auch die Bahnlinie nach Ilanz. Diese Rheinschlucht gehört zu den wildesten, groteskesten Erscheinungen dieser Art in der Schweiz. Auf langen Strecken steigen schreckhaft zerrissene und zerfetzte Breccienwände bis 300 m hoch empor und drohen jeden Augenblick den Einsturz. Vorspringende Rippen, Bastionen und Türme wechseln mit finstern Klüften, gähnenden Nischen und stets sich verändernden Schuttrinnen. Es war keine leichte Arbeit, die Eisenbahnlinie hier auf sicherm Tracé hindurch zu führen. Auf langen Strecken musste der hin und her pendelnde Rhein korrigiert und ihm zwischen gewaltigen Dämmen ein neues Bett angewiesen werden. Tunnels sind nur wenige und kurze vorhanden, dagegen mehrere schöne Brücken für die Bahnlinie selber und für Zufahrtsstrassen zu den Stationen. Von letztern liegen die für Trins, Versam und Valendas-Sagens auf dieser Schluchtenstrecke. Bald nach der letztgenannten Station betritt die Bahn die freie, offene Landschaft der Gruob mit ihrem ebenen Thalboden, ihren sonnigen Halden, Fruchtfeldern, Obstbäumen und zahlreichen Dörfern, Weilern und Burgen. Ueber die Station Kästris und eine schöne Glennerbrücke wird das Städtchen Ilanz erreicht. Als Verkehrsmittelpunkt des Oberlandes und Hauptort des Grauen Bundes hat es von jeher eine nicht unwichtige Rolle gespielt und ist reich an geschichtlichen Erinnerungen. Ilanz hat die grössten Viehmärkte des Oberlandes. Vor allem aber eignet es sich als Ausgangspunkt für die mannigfaltigsten Exkursionen in weitem Umkreis. Wie die Eisenbahnlinie sind aber auch die beiden Strassen über Versam-Valendas und über Trins-Flims sehr interessant. Flims insbesondere ist wieder ein trefflicher Touristen-Ausgangspunkt. Für die Weiterreise ins Oberland sind die Routen über eine der aussichtsreichen Terrassen Obersaxen oder Brigels derjenigen durch den Thalgrund weit vorzuziehen. Brigels insbesondere ist prächtig gelegen, eine beliebte Sommerfrische und Exkursionsstation. Von Brigels erreicht man Truns in 1½ Stunden (über Schlans).
Dem Bündner gilt Truns als die Wiege der Freiheit, die unter dem historischen Ahorn begründet wurde. Dieser ehrwürdige Baum steht nicht mehr, wohl aber an seiner Stelle ein direkter Abkömmling, aus Samen des 1870 durch einen Sturmwind gefällten Ahnherrn gezogen. Bei Truns mündet das Val Puntaiglas mit seinem schäumenden Sturzbach und schönen Gletscher (reich auch an schönen Gesteinen und Krystallen). Von Truns gelangt man in 2½ Stunden über Somvix nach Disentis.
Dabei wird in finsterer Schlucht die schöne Ruseinbrücke passiert, unter welcher die Ruine Hohenbalken im Wald versteckt liegt, während über ihr am Felsen eine Gedenktafel an die drei grössten Erforscher des Oberlandes, Placidus a Spescha, Escher von der Linth und G. Theobald, erinnert, Disentis ist ein stattlicher Ort in schöner, offener Landschaft. Weithin ist das mächtige Kloster sichtbar. Kuranstalt und Gasthöfe. Es wird noch viel Gerste und Roggen, selbst Weizen und Flachs angebaut.
Die Kirschbäume sind zahlreich, und auch andere Obstbäume finden sich in den Gärten. Zu Disentis gehören verschiedene kleinere Dörfer und Weiler, wie Disla, Acletta, Segnes, Mompè Tavetsch, Mompè Medels etc. Ueber Sedrun und Tschamut erreichen wir den Oberalppass. Auch diese obersten Orte des Rheinthals werden noch als Sommerfrischen aufgesucht. Sedrun ist Hauptort der Thalschaft und Gemeinde Tavetsch und wiederum ein günstiger Ausgangspunkt für mancherlei Exkursionen, ebenso Tschamut.
Die Geschichte
des Bündner Oberlandes verflicht sich natürlicherweise mit derjenigen Graubündens überhaupt. Um Wiederholungen zu vermeiden, sei darum auf den Art. Graubünden verwiesen. Das dort genannte Fürstengeschlecht der Viktoriden (600-784) war auch im Oberland reich begütert und hatte seinen Hauptsitz in dem mit einer Burg versehenen Sagens. Andere Herrenhöfe besass es in Brigels, Waltensburg und Ruschein, dazu noch viele Bauerngüter da und dort zerstreut. Aus dem Testament, mit welchem Bischof Tello, der letzte Viktoride, einen grossen Teil seiner Güter dem Kloster Disentis vermachte, erhellt, dass das Land schon damals gut angebaut war, denn neben Wäldern, Alpweiden und Wiesen werden auch Aecker, Obstbaumpflanzungen, Weinberge, Gärten, Wasserleitungen etc. genannt.
Die Güter des Bischofs wurden teils von freien Zinsbauern, teils von sog. Kolonen, d. h. halbfreien Bauern, die etwa den Hörigen der Deutschen entsprachen, bewirtschaftet. Leibeigene gab es nicht oder doch nur sehr wenige. Das erwähnte Testament nennt viele heute noch bestehende Ortschaften. Begreiflicherweise kam das Kloster Disentis schon frühe zu grossem Einfluss im Oberland und erlangte die Vorrechte der freien Abtwahl und der Immunität über die Gemeinden Disentis, Tavetsch, Medels, Somvix, Truns, Schlans und Brigels.
Auch Karl der Grosse, der 781 und 801 über den Lukmanier gezogen sein soll (wie schon früher Karl Martell 717 und Carlomann 747), scheint es reich beschenkt zu haben. 1048 erhielt es die Reichsunmittelbarkeit, und 1213 wurde der Abt in den Reichsfürstenstand erhoben. Doch wusste sich die Gemeinde Disentis eine selbständige Stellung neben dem Abte und später sogar die Schirmvogtei über das Kloster zu erwerben. Ausser dem Kloster Disentis hatte auch der Bischof von Chur Herrschaftsrechte im Oberland.
Ums Jahr 1050 besass er z. B. allein im Lugnez 5 grosse Meierhöfe und 27 Bauerngüter. Im ganzen Gebiet zählte man 25 bischöfliche Vasallen. Unter den weltlichen Edelherrschaften werden seit dem 12. und 13. Jahrhundert genannt die Herren von Hohentrins, Belmont (bei Flims-Fidaz), Löwenberg (bei Schleuis), Valendas, Kästris, Wildenberg (bei Fellers), Frauenberg (bei Ruschein), Jörgenberg, Grünenfels (bei Waltensburg), Friberg (bei Seth), Schlans etc. Auch die Freiherren von Räzüns besassen Güter im Oberland, gründeten Kolonien in Versam, Sculms, Safien und erwarben mit der Zeit mehrere der eben genannten Herrschaften, wie Jörgenberg, Grünenfels, Schlans etc. Die meisten dieser Herrschaften verschwanden übrigens schon im Laufe des 13. und 14. Jahrhunderts infolge Aussterbens, Verarmens oder anderer Ursachen. Es kamen andere Herrschaften auf, um später ebenfalls zu verschwinden, so die Grafen von Sargans und Werdenberg und die Freiherren von Sax-Misox, die eine zeitlang grosse Güter und Rechte im Oberland besassen. Zur Ausbildung einer einheitlichen Landesherrschaft war von den vielen geistlichen und weltlichen Gebietsherrschaften keine gross und mächtig genug. Dazu gab es von jeher auch völlig freie Gemeinden mit eigener Verwaltung und Gerichtsbarkeit. Dahin ¶
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gehörten die schon erwähnten «freien Walser» und die «Grafschaft Laax», d. h. die Reichsvogtei über die im Oberland zerstreut wohnenden reichsfreien Bauern. Diese hielten alljährlich bei der Burg Langenberg (nö. Laax) unter Leitung eines Reichsvogtes ihr Landgericht ab, verbunden mit einem grossen Jahrmarkt. 1428 kauften sie sich von der Vogtei los und stellten sich unter den Schutz des Bistums. Leibeigene hat es im Oberland immer nur sehr wenige gegeben, und auch diese hatten verschiedene Rechte, durften z. B. Güter erwerben. So war im Oberland die Freiheit Regel, die Unfreiheit Ausnahme, selbst in der Blütezeit des Feudalismus.
Wichtig für die weitere freiheitliche Entwicklung war das allmählige Aufkommen der Gerichtsgemeinden auch in den Gebietsherrschaften. Ursprünglich übten die verschiedenen kleinern und grössern Herrschaften über ihre Leute wenigstens die niedere Gerichtsbarkeit, einige derselben zugleich auch die hohe Judikatur aus, und zwar durch einen Vogt, der zu bestimmten Zeiten Gerichtstage abhielt, wozu alle Leute seines Gebietes einzuladen waren. Die Gesamtheit dieser Leute, aus welchen auch die Beisitzer des Vogtes, die Geschwornen, genommen wurden, bildeten dann eine Gerichtsgemeinde.
Bald liess sich diese die Beisitzer des Vogtes nicht mehr geben, sondern wählte sie von sich aus, und mit der Zeit erlangte sie sogar Einfluss auf die Wahl des Vogtes selber, der dann den Namen Ammann erhielt. Die Kraft und Selbständigkeit der Gerichtsgemeinden wurde mächtig gefördert durch die Bündnisse, die sie miteinander und mit den Herrschaften zu gegenseitigem Rechtsschutz und gegenseitiger Hilfe eingingen, so in den ersten Anfängen schon 1374 und 1395. Am besten ausgeführt wurden die Grundsätze der Rechtssicherheit in dem 1424 erneuerten und erweiterten Bundesvertrag des «Grauen oder Oberen Bundes», der unter dem Vorsitz des Abtes von Disentis beim Ahorn zu Truns beschworen wurde. Es verbanden sich da die Abtei und Gemeinde Disentis, die Freiherren von Räzüns und ihre Leute, die Gemeinden Safien, Tenna und Obersaxen, der Graf von Sax-Misox mit den Gerichten und Gemeinden Ilanz, Gruob, Kästris, Lugnez, Vals und Flims, der Graf von Werdenberg mit Trins und Tamins, die Freien von Laax, die Gemeinden Rheinwald und Schams.
Später verband sich der Graue Bund mit den im übrigen Rätien entstandenen Bünden (dem Gotteshausbund und Zehngerichtebund). Die Reformationszeit ging verhältnismässig ruhig vorüber, obwohl die neue Lehre auch in diesem Bergland ihren Einzug hielt. Schon 1526 wurde nach einem Religionsgespräch in Ilanz die Religionsfreiheit proklamiert, früher als es sonst irgendwo geschehen ist. Verfolgungen um des Glaubens willen wurden bei Busse verboten, die politische Gewalt der Geistlichkeit beseitigt, den Klöstern die Novizenaufnahme untersagt, den Gemeinden die Wahl und Entlassung ihrer Geistlichen freigegeben etc. In der Folge blieben die meisten Gemeinden des Oberlandes beim alten Glauben.
Tamins, Trins, Flims, Safien, Tenna, Versam, Valendas, Kästris, Luvis, Flond, Riein, Pitasch, Duvin wurden reformiert, Ilanz und Sagens paritätisch. Später suchte das Kloster Disentis, begünstigt durch Carl Borromeo, der es 1584 besuchte, der Reformation entgegen zu arbeiten und gelangte unter gewandten Aebten zu neuer Blüte und Macht. Viel Unruhe und Not, manche bedauerlichen Ereignisse und Zustände brachten auch dem Oberland die Zeiten der fremden Kriegsdienste und der Bündnerwirren.
Der Einmarsch der Franzosen in die Schweiz, die Umgestaltung dieser letztern in die helvetische Republik und die darauffolgenden Kämpfe, insbesondere der Krieg der zweiten Koalition gegen Frankreich, zogen auch Graubünden und das Oberland in Mitleidenschaft. Die französischen Generale in Italien sollten die Verbindung mit der Schweiz herstellen. Während sich im untern Rheinthal (Luzisteig-Chur-Reichenau) Oesterreicher und Franzosen bekämpften, rückten französische Truppen auch vom Lukmanier und Gotthard her ins Oberland ein, im Medels und Tavetsch alles vor sich her zerstörend. Da brach der Landsturm los und erfocht (am mit seinen furchtbaren Schlagwaffen einen vollständigen Sieg.
Die Franzosen unter General Loison verloren 400 Tote, 40 Verwundete und 100 Gefangene und mussten sich nach Urseren zurückziehen. Aber bei Chur hatten die Franzosen unter Masséna und Demont (einem Bündner aus dem Lugnez) gesiegt. Demont rückte ins Oberland ein. Es kam zu einer Kapitulation, der Krieg schien zu Ende. Loison aber kehrte sich nicht daran, drang von Urseren wieder vor und legte dem Kloster Disentis eine Kontribution von 100000 Fr. auf. Auch die Gemeinden und Privaten wurden gebrandschatzt.
Anfangs Mai erhoben sich die Tavetscher und Medelser wieder, rückten gen Disentis, schlugen viele Franzosen nieder und machten die übrigen zu Gefangenen. Als von den diesen einige zu entfliehen suchten, wurden sie alle erschlagen. Der Landsturm wälzte sich nach Reichenau, wurde aber hier von den Franzosen unter General Menard besiegt und in die Flucht geschlagen. Menard zog ins Oberland ein und nahm furchtbare Rache. Disentis und die umliegenden Dörfer, auch das Kloster, wurden niedergebrannt und viele Einwohner umgebracht. Mit dem Kloster gingen wertvolle Altertümer, Bücher, Handschriften und Sammlungen unter, ein für die Landesgeschichte unersetzlicher Verlust. Französische Truppen blieben bis 1804 in Bünden, das dann durch die Mediationsverfassung endgiltig mit der Schweiz verbunden wurde.
Literatur:
Theobald, G. Naturbilder aus den Rätischen Alpen. 3. Aufl. von Chr. Tarnuzzer. Chur 1893; Theobald, G. Das Bündner Oberland. Chur 1861; Tarnuzzer, Chr. Illustr. Bündner Oberland. Zürich 1903; Heim, A. Geologie der Hochalpen zwischen Reuss und Rhein. (Beiträge zur geolog. Karte der Schweiz. 25, 1891).
[Dr. E. Imhof.]